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Nach 617 Folgen noch immer spannend

Der "Tatort" ist wie das Wetter - ein sehr dankbares Gesprächsthema. 87 Prozent aller Deutschen kennen ihn. Bei vielen liegt der letzte "Tatort"-Abend noch nicht weit zurück. Wann sie aber ihren ersten Tatort gesehen haben, daran können sich die wenigsten erinnern. Der "Tatort" ist nicht nur die beliebteste Krimiserie im deutschen Fernsehen, sondern auch die älteste.

Von Vanessa Löwel |
    Es beginnt fast immer mit einem Anruf. Klingelt das Telefon, steigen in Köln die Kommissare Ballauf und Schenk in ihren Wagen; liegt die Leiche in Leipzig, lässt Kommissar Ehrlicher seine Bratkartoffeln stehen. Wenn sich eines der fünfzehn Ermittlungsteams von Kiel bis Wien auf den Weg zum Tatort macht, dann sitzen Millionen vor den Fernsehern.

    Mit einem solchen Erfolg hatte 1970 niemand gerechnet. Das Gemeinschaftsprojekt von ARD und dem österreichischen Rundfunk ORF war ein Risikounternehmen. Denn der Tatort war nicht geplant als einheitliche Krimiserie mit hohem Wiedererkennungswert, sondern lediglich als ein fester Programmplatz am Sonntagabend, den die einzelnen ARD-Sender abwechselnd mit eigenen Inhalten füllen sollen. Die einzigen Vorgaben bis heute: Ein gewisses Lokalkolorit sollen die Krimis haben - und realistisch sein. Anders als der erfolgreiche Kommissar Keller, der in der ZDF-Serie "Der Kommissar" ausschließlich im Studio agiert, sollen die Tatort-Ermittler raus auf die Straße, den Mördern auf der Spur. Und die schlagen nicht nur in studioartigen Innenräumen zu, sondern auf der Babystation, in der Fabrik oder im Kühlraum einer Fleischerei.

    Am 29. November 1970 wird erstmals ein Tatort ausgestrahlt. Willy Brandt ist Bundeskanzler und will eine Annäherung an den Osten wagen. "Taxi nach Leipzig" heißt der erste Tatort und der erste westdeutsche Fernsehkrimi, der an einem deutsch-deutschen Schauplatz spielt.

    Die Interzonen-Autobahn ist erstmals als Schauplatz für einen Krimi benutzt worden!

    So titelt der Tagesspiegel am 1. Dezember 1970. In "Taxi nach Leipzig" wird an der Transitstrecke ein ostdeutsches Kind tot aufgefunden, es trägt westdeutsche Turnschuhe. Der Mord gehört zwar nicht in seinen Aufgabenbereich, doch die Schuhe gehen dem brummigen Hamburger Kommissar Trimmel nicht aus dem Kopf.

    "Da liegt ein totes Kind in der Zone. Und ich will wissen warum. Weil es nämlich mein Beruf ist, mich für tote Kinder zu interessieren."

    Gegen alle Vorschriften reist Trimmel in die DDR, um dem Fall nachzugehen – und wagt damit seine ganz eigene Annäherung an den Osten.

    "Der Krimi will und soll unterhalten, aber er thematisiert ja auch ganz wichtige gesellschaftliche Werte und Normen. Und der Tatort ist schon 1970 auf Sendung gegangen, das heißt, das war eine sehr politische Zeit, auch im Fernsehen. Es gab das politische Fernsehspiel und der Tatort ist ein stückweit ein politisches Fernsehspiel mit anderen Mitteln. Und das denke ich, macht sehr stark auch die Tradition des Tatortes aus."

    Die Medienwissenschaftlerin Ingrid Brück untersucht seit Jahren die Entwicklungen im westdeutschen Fernsehkrimi und hier ist der Tatort Vorreiter. So tauchen zum ersten Mal Täter auf, die zur Elite gehören. Ärzte, Wirtschaftsbosse und sogar Lehrer werden auf einmal von den Kommissaren verdächtigt.

    "Moment Herr Finke, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Michael Harms umgebracht habe? Ich glaube überhaupt nicht, dass Menschen Menschen umbringen können. Aber man wird ja immer wieder eines besseren belehrt."

    Bereits 1978 ermittelten im Tatort erstmals weibliche Kommissare im deutschen Fernsehen. Allerdings billigte man ihnen damals lediglich die "Waffen einer Frau" zu: Sie überführten die Mörder zum Beispiel mit einem Kuss. Eine Revolution war dann Hauptkommissar Schimanski. Mit ihm war die Ära der neutralen Kommissare mit unbeweglich ernster Mine vorbei. Das schnurrbärtige Mannsbild der 80er ermittelte nicht mit leiser Logik, sondern mit Gefühl, bollerndem Körpereinsatz und in einer deftigen Sprache.

    "Scheiße!"

    Die Reihe hat im Laufe der Jahre an politischem Impetus verloren. Doch noch immer sind Umweltkriminalität, Menschenhandel und Armut Tatortthemen. Auch in den Siebzigern ging es häufig nicht um gesellschaftliche, sondern um seelische Abgründe. Was 1970 noch als großes Risiko galt, ist das Erfolgsgeheimnis des Tatortes: seine Vielfalt. Denn durch die verschiedenen Themen, Kommissare, Schauplätze und Sendeanstalten bleibt er auch nach 617 Folgen spannend.

    "Der Tatort ist eine Institution, in vielen Familien gehört der Sonntagabend dem Tatort, da gibt's gar nichts dran zu rütteln, so Ingrid Brück."