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Nachkriegsbilder im Kopf

Die Kulisse von Cay Rademachers Krimis könnte deprimierender und faszinierender nicht sein. Zwischen den Schutthaufen der Hansestadt wimmelt es von zwielichtigen Gestalten, und selbst Helden sind nicht wirklich welche, weil der zermürbende Alltag im Niemandsland jedermann zum Verlierer macht.

Von Sacha Verna |
    Hamburg, Frühling 1947: In einer Lagerhalle am Hafen wird ein erstochener Junge gefunden. Dies ist der zweite Fall für Oberinspektor Frank Stave, der nach einem Trümmermörder nun nach einem Kindermörder sucht. Die Kulisse von Cay Rademachers Krimis könnte deprimierender und faszinierender nicht sein. Zwischen den Schutthaufen der Hansestadt wimmelt es von zwielichtigen Gestalten, und selbst Helden sind nicht wirklich welche, weil der zermürbende Alltag im Niemandsland jedermann zum Verlierer macht. Fast, jedenfalls. Denn in den Kreisen, in denen Stave bald ermittelt, gibt es durchaus solche, die es verstehen, aus Not Gewinn zu schlagen.

    Ein Boxveranstalter zum Beispiel, der Verlobte der Tante des vierzehnjährigen Opfers, bei der Adolf wohnte, nachdem seine Eltern bei einem Bombenangriff umgekommen waren. Oder die Tante selber, die offiziell ein Fuhrunternehmen und inoffiziell Schiebereien betreibt. Dass das Paar dem Adolf nicht gerade nachtrauert, wird Stave schnell klar. Doch die Spuren führen den Inspektor weiter zu den Wolfskindern, jenen Waisen, die in den Ruinen wie die Wilden ums Überleben kämpfen. Tausende sollen es sein. Obwohl Adolf nicht zu ihnen zählte, scheint er gewisse Bekanntschaften geschlossen zu haben, die für sein gewaltsames Ende möglicherweise mit verantwortlich sind.

    Der Plot ist nicht Cay Rademachers Stärke. Doch weiß dieser Autor, wie man Geschichte aufleben lässt. Die Details über Schwarzmarktaktivitäten und die Wasserversorgung, drohende Streiks und noch bedrohlichere Besatzungsmächte weisen den Autor als Kenner der Zeit und des Schauplatzes aus. So sehr, dass die erschöpfende Recherche, die dem Roman zweifellos zugrunde liegt, gelegentlich nur noch das tut, nämlich erschöpft. Denn nicht jedes Detail, das stimmt, ist stimmig. Manchmal ist einfach zu viel.

    Ein Roman, der wie dieser derart dem Realismus verpflichtet ist, verlangt nach glaubwürdigen Figuren. Seinen Protagonisten Karl Stave stattet Cay Rademacher daher mit einem ganzen Packen psychosozialer Probleme aus. Staves Frau ist gestorben, sein Sohn verschollen, und seine jüngste Vergangenheit ist die eines Mitläufers, der, obschon nie Parteimitglied, unter der Naziherrschaft sein Büro im Polizeipräsidium zu behalten vermochte. Hinzu kommen Spannungen mit seiner Geliebten, was zwar prächtig zwischenmenschelt, aber auch zeigt, weshalb Beziehungsprobleme in Krimis verboten sein müssten. Stave wirkt wie ein Schauspieler, der zur Darstellung einer gebrochenen Figur verdonnert wurde. Da sich Cay Rademacher auf Staves Perspektive beschränkt, trägt auch der Leser schwer an der unbequemen Kostümierung.

    Rademacher erzählt im Präsens. Das unterstreicht sein Bemühen um Unmittelbarkeit. Den Live-von-gestern-Effekt fördert diese Methode. Nicht aber die stilistische Eleganz. "Der Schieber" ist ein Buch für einige starke Nachkriegsbilder im Kopf – und eher weniger eins für gehobene Spannung auf der Couch.

    Cay Rademacher: Der Schieber. Roman. Dumont Verlag, Köln 2012. 350 Seiten. 16,99 Euro.