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"Oops, there goes my skirt dropping to my feet, oh my. Sexualisierung der Körper? Kann Popmusik formal dermaßen avanciert und gleichzeitig politisch rückschrittlich sein? Eigentlich nicht. Kommt immer auf den Blick an, sagt Kandis. Auf den Blickwinkel. Die Blickrichtung.

Von Ulrich Rüdenauer | 22.11.2004
    Der Blickwinkel und die Blickrichtung zielen bei Thomas Meinecke ganz emphatisch auf die Gegenwart. "Oops (Oh My)" von Tweet stammt aus dem Jahr 2002. Ein R’n’B-Hit aus der Schule von Timbaland und Missy Elliott, der mit einer originellen Wendung aufwartet. Das im Lied beschriebene Begehren richtet sich zunächst zwar auf einen fremden Körper, begnügt sich dann aber mit dem eigenen. Ein Masturbationssong. Ein Text mit Subtext.

    In der Popmusik ist ja gerade interessant, dass eventuell auch im Mainstream oder dem, was wir vielleicht sogar als angepasst empfinden, ganz supersubversive Diskurse virulent sein können. Ob das jetzt neuester R’n’B ist, den ich alle zehn Minuten auf MTV sehen kann und trotzdem quecksilberartige Modelle an Rollen ablaufen, die noch etwas ganz anderes thematisieren als in den Vocals oder so. Oder ob es früher schon so was wie Disko sein konnte, das aus dem schwulen Untergrund gekommen war, dann zum Mainstream wurde, ausverkauft wurde, und dann irgendwann wieder in den Untergrund abtauchte, anstatt einfach nur vorbei zu sein.

    Musik heißt der neue Roman von Thomas Meinecke. Einen naheliegenderen Titel kann man sich kaum vorstellen. Fast alles, womit Meinecke sich beschäftigt, hat mit Musik zu tun: ob als Mitglied der Band FSK, als Radio DJ oder eben als Autor von Romanen. Bei ihm bewegt sich die Welt meist in 33 oder 45 Umdrehungen pro Minute.

    Und da hab ich den Eindruck, kommen die Impulse her, in der Popmusik immer schon schneller als in anderen Bereichen. Und von daher heißt mein Buch auch so, weil die ganzen Anregungen kommen quasi aus der Musik – für mich.

    Genauso geht es einem der beiden Ich-Erzähler in Meineckes neuem Roman: Der gesamte Kosmos passt immer auch in einen Popsong oder ein Jazzstück.
    Karol heißt dieser als Flugbegleiter tätige Erzähler, der in seiner Freizeit ausgiebige Studien zu Umwälzungen in der Popmusik betreibt. Wie wandelt sich süßlicher Swing in BeBop? Warum wird aus Disco plötzlich ein Mainstream-Phänomen? Immer geraten Meineckes Figuren dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Alles hängt mit allem zusammen. Sweet versus Hot lautet die Leitdifferenz, an der sich Karol abarbeitet. Zusammen mit seiner Schwester, die den zuckerigen Namen Kandis trägt, lebt er in Wolfratshausen – ein oberbayerischer Ort, an dem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Boheme vergnügte. Heute lebt dort der bayerische Ministerpräsident. Kandis ist Schriftstellerin und zweite Ich-Erzählerin in Meineckes Buch. An einer Stelle erklärt sie, wen Karol in seiner Studie zu Wort kommen lässt.

    "Etwa den weißen Big Band Leader Paul Whiteman, der in den 1920er Jahren ganz stolz darauf war, den Jazz zu einer Lady gemacht zu haben. Sozusagen: Er durfte mit dieser Musik von nun an auch ins Bett gehen. Wenn sie aber zuvor keine Lady gewesen war, war sie dann ein unreifes Mädchen, ein ungezogenes Girl, ein Tomboy, gewesen? Womöglich ein Mann? Hatte Whiteman den schwarzen Jazz der weißen heterosexuellen Matrix unterworfen? Das sind so Fragen, die meinen Bruder beschäftigen. Er sagt, dass er als jemand, der gern populäre Musik hört, und damit meint er auch: liest, um die Dichotomie straight versus queer einfach nicht herumkommt.

    Meinecke selbstverständlich kommt um diese Dichotomie auch nicht herum. Die Fragen nach sexueller oder auch ethnischer Identität, die von Karol und Kandis in immer wieder neuen Wendungen auf- und hin- und hergeworfen werden, ziehen sich durch all seine Romane, angefangen bei "The Church of John F. Kennedy" über "Tomboy" und "Hellblau" bis zu "Musik".
    Wie immer geht es Meinecke nicht um Handlung, sondern um die Sexyness von Theorie, um die Welthaltigkeit von Pop- und Gender-Diskursen. Immer mit leichten Verschiebungen, diesmal hin zu der Frage: Wann ist ein Mann ein Mann?

    Ich bin noch mal rangegangen, hab was gemacht, was ich mir bei dem ersten Roman, der sich damit beschäftigt hatte, noch nicht zugetraut hatte oder wo ich auch dachte, es sei verboten, dass man als Mann quasi – auch wieder kursiv gesehen – ein Buch schreibt, das auf feministischen Theorietexten beruht und es dann aber auf die Männer anwendet. Das, dachte ich, geht nicht. Und das wollte ich vor allem nicht im ersten Schritt machen und hab darum auch dieses Buch "Tomboy" damals im weitgehend weiblichen Milieu sozusagen angesiedelt. Die Protagonisten waren alles Frauen, hab mich dann mit dem nächsten Roman, in dem es sehr stark um den jüdischen Mann ging, der eben – in Anführungsstrichen – "kein richtiger Mann ist" als antisemitisches Stereotyp, aber auch im Grunde genommen kann man das auch positiv gegenlesen, im guten Sinne auch nicht das ist, was sonst ein "arischer Mann – sag ich jetzt mal bewusst – ist, hab ich mich dahin bewegt, zu überlegen, was ist denn diese performative Aktion, einen Mann zu tun, was ist das eigentlich. Und hab dann doch noch mal, teilweise auch ältere feministische Texte gelesen darauf hin, und hab mich das jetzt dann doch getraut. Es gibt zwei Protagonisten in diesem Buch, einen Mann und eine Frau, das sind Geschwister, aber der Mann ist quasi doch ziemlich zentral ins Bild gerückt.

    Was sich zunächst einmal spröde anhört, fasziniert durch eine mäandernde Sprache. Sie schlängelt sich durch den Roman, zieht immer mehr Namen, Anspielungen, Referenzen, Zitate mit und nach sich: von Michael Jackson bis Hélène Cixous, von D.H. Lawrence bis Billy Holliday, von Foucault bis zu der exzentrischen, verschiedenste Stile kreolisierenden Disko-Gruppe Dr. Buzzard’s Original Savannah Band.

    Meineckes Erzählen kümmert sich nicht um Spannungsbögen oder Traditionen. Alles ist schon mal da gewesen. Das wissen auch seine Figuren.

    Das Neue ist ja eben nie wirklich neu. Vielmehr wird das Althergebrachte ständig neu überschrieben. Wie in der permanenten, stets performativen Rekonstruktion unserer Identität; wie in meinem elektronischen Textverarbeitungsprogramm.

    Mitschreiben, Überschreiben, produktives Sich-Verzetteln – so ließe sich die Methode Meineckes zusammenfassen. Seine intellektuellen Figuren sind Lautsprecher und Plattenspieler. Sie befassen sich mit dem Jetzt. Und das macht sie automatisch auch zu Archäologen: Es gibt eben nicht nur rhizomatisch wuchernde Quer- und Queer-Verbindungen, sondern immer auch historische Abschweifungen. Die Figuren schnappen Geschichten nicht nur aus der Welt der Musik auf, schaffen sich Versuchsanordnungen, die einen Rahmen für ihr Denken abgeben. So hat sich die Ich-Erzählerin Kandis vorgenommen, verschiedene historische Persönlichkeiten, die alle am gleichen Tag wie sie Geburtstag haben, in ihren neuen Roman einzubauen. Ludwig I., Ludwig II., Lola Montez, Clara Bow, Ruby Keeler, Leonard Bernstein und Claudia Schiffer werden von Meinecke bzw. Kandis als Personal rekrutiert.

    Am Anfang stehen meine Leute, logisch, immer ein bisschen wie zu früh gekommene Partygäste im Text herum. Aber schon bald stellt sich, unter dem Eindruck der täglich von neuem andrängenden Gegenwart, die ich ja eigentlich protokollieren will und die ja stets alles absolut unvorhersehbar mit sich reißt, ein narrativer, sagen wir: Lufthauch ein, womöglich auch ein klärender Durchzug, der Türen aufstößt, andere zufallen lässt. Weitere, anfänglich weit entlegene Namen kommen, wie gerufen, hinzu.

    Bald stellen sich merkwürdige Verwandtschaften her. Immer mehr Fragen werden akkumuliert, addiert, vertieft. Die Figuren finden, aber sie finden nicht unbedingt etwas heraus.

    Das ist eine Art Sammlertum, eine Art Nerdtum, aber nicht im Sinne eines Vollständigkeiten-Sammelns, sondern immer weiter sammeln und von jedem nur eins haben. Es ist nicht akribisch, sondern es ist eher wildpitch, es geht querfeldein und dann gilt eigentlich der Stilwillen dem, das noch irgendwie zu bändigen und möglichst irgendwie im Zaum zu halten.

    Popliteratur lebte schon immer vom vorgefundenen, ungeschliffenen Material – und von der Umgangsweise mit diesem Material: Meinecke lässt es sprechen. Es fließt geradezu durch ihn hindurch aufs Papier. Das Zitat gibt den Ton vor, der Sound entsteht in einer Art assoziativen Bricolage. Originalität strebt dieses Konzept allein in der Verknüpfung des Vorgefundenen an. "Re-make/ Re-model" – Meinecke hat das Stilprinzip von Roxy Music, von aufgeklärter Popmusik überhaupt verinnerlicht.

    Wie sich diese Materialien dann im Buch anreichern oder auch aufreihen, hat ganz stark was bei mir mit den Leseprozessen, die ich im Grunde nur verschriftliche, zu tun. Das ist auch das, was die letzten beiden Romane schon angetrieben hat: lesen, verschriftlichen, den Lesenden mir eigentlich nur über die Schulter gucken lassen, beim Schreiben, dieses Schreiben auch immer auszustellen als einen künstlichen Prozess.

    Die Vermitteltheit ist und soll in jedem Moment spürbar bleiben. Psychologisierung ist Meinecke fremd. Karol, der mit dem Autor einen Spleen für die Popaspekte des Katholizismus teilt und nicht umsonst den Taufnamen Johannes Pauls II. trägt, ist wie alle Helden Meineckes eine Denkfigur: Als Flugbegleiter hat er fortwährend die Muße, sich mit seinen Kolleginnen über Gender-Fragen oder avancierte Popmusik auszutauschen. Der Lebensalltag wird so gebrochen und setzt sich nur in Partikeln im Text ab. Die Wirklichkeit wird destilliert. Das immer unübersichtlicher werdende Soziale, die konkrete Realität, die Arbeitsbedingungen verschwinden nicht, aber sie sind nur mehr auf einer abstrakten Ebene zu erkennen. Der Ironiker Meinecke betrachtet aus der Distanz, ohne distanziert zu sein. Dadurch schärft sich sein Blick. Der Blickwinkel, die Blickrichtung verändern sich.
    Auch wenn Meinecke seine Themen aus den aktuellen Diskursen der Kulturwissenschaften gewinnt, wissenschaftlich sind sie deshalb nicht.

    Das literarische Moment an solchen Texten, wie ich sie verfasse, wo es dann eben auch zum Roman wird, ist, glaube ich, das, dass ich nicht verantwortlich in gewissem Sinne bin, von daher L’Art pour l’art sein darf und eher experimentell es anlegen kann, und selber noch nicht wissen muss, was unten rauskommen wird.

    Andy Warhol, der in der New Yorker Szene Recording Angel genannt wurde, hatte das Ideal von Wiederholung und Abfallverwertung radikalisiert: nichts erfinden, mit dem Kassettenrekorder alles aufzeichnen und das Ganze in einem anderen Medium einfach neu ausstellen. Thomas Meinecke erweist sich nicht erst mit seinem neuen Buch als Erbe dieses popistischen Programms. Der Vergänglichkeit wird konsequent das Jetzt entgegengesetzt, dem Denken der Körper, dem Sein der Schein, der Tiefe die Oberfläche. "Oops there goes my shirt up over my head"...

    Thomas Meinecke
    Musik
    Suhrkamp, 372 S., EUR 19,80