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Netzkultur
Das digitale Kulturgut

Haltet den Stream! Reizüberflutung, Datenverwertung, Überwachung: Das Netz, einst als Heilsbringer einer vernetzten, demokratischen Welt gefeiert, scheint heute viele seiner Versprechen nicht eingelöst zu haben. Doch wer hat Schuld? Die Globalkonzerne wie Facebook oder Google? Oder nicht doch der einzelne User selbst?

Von Nikola Richter | 25.01.2015
    Die Autorin Nikola Richter auf der Bühne bei der Literaturwerkstatt Berlin.
    Die Autorin Nikola Richter bei der Literaturwerkstatt Berlin. (imago stock & people)
    Es war im August vergangenen Jahres, als Steve Roggenbuck, ein 26-Jähriger aus Michigan, auf Facebook 2.500 Freundeskontakte löschte. Steve Roggenbuck löschte diese Freunde nicht aus Bosheit. Nein, er tat dies bewusst und bei klarem Verstand und er erklärte es mit folgenden Worten:
    "Fast jeden, den ich entfreundet habe, kannte ich kaum, obwohl wir für viele Jahre hier 'befreundet' waren. Bei 80 Prozent der Personen konnte ich mich ehrlicherweise an gar nichts erinnern, wenn ich den Namen oder das Profilfoto sah. Bei den anderen 20 Prozent klang der Name zwar vertraut, aber ich konnte wiederum nichts Spezifisches über diese Person sagen oder wir hatten lange schon keinen Kontakt mehr. Ich urteile also hier über niemanden, der Grund ist mein schlechtes Erinnerungsvermögen."
    Steve Roggenbuck ist Dichter, der es über das Internet zu Ruhm gebracht hat. Die "New York Times" etwa nannte ihn "den ersten Dichter des 21. Jahrhunderts". In seinen Texten würde das Stakkato der Netzsprache hörbar, ebenso wie die Sprache des Alltags. Auf Facebook, einem der Kommunikationskanäle für seine Werke, aber auch für sein Denken, beschreibt Roggenbuck sich selbst als "poet and youtube artist". Er filmt sich, während er Gedichte vor Hecken und Feldwegen aufsagt, er deklamiert in die Kamera des Laptops hinein seine Poetik und legt irgendwie zu laute Musik drunter, er setzt Texte in der Helvetica-Schrifttype auf zufällig wirkende Fotos und versendet sie über alle ihm zur Verfügung stehenden digitalen Plattformen der sozialen Netzwerke. All das machen wahrscheinlich viele andere auch - aber nicht so konsequent, nicht so überzeugt von einem Thema wie er: Er will die Menschheit verbessern, die Gefühlswelten der Menschheit, genauer gesagt. Er ist ein Dichter der neuen Empfindsamkeit und hält mit einer Art hypermoderner Erbauungsliteratur das Rauschen des Netzes an. Er tut dies, indem er Gefühle zeigt und seine Umwelt für Werte sensibilisiert, aber niemals das Medium, durch das er spricht, außer Acht lässt. Natürlich sind die Themen, über die er schreibt, andere als in der Zeit der Aufklärung. Er spricht etwa über Veganismus oder Zen-Philosophie - oder eben über das Konzept von Freundschaft auf Facebook.

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    "Ich habe gemerkt, dass es mich nicht glücklich macht, berühmt zu sein oder viele Fans auf Facebook zu haben." (picture alliance / dpa / Jens Büttner)
    So lässt sich seine lange Erklärung zur Löschung von Freundeskontakten auch als eine Analyse über das Glück von persönlichem Austausch in Netzzeiten lesen, gewachsen aus seiner urtümlichen, scheinbar banalen Erfahrung heraus.
    "Ich habe gemerkt, dass es mich nicht glücklich macht, berühmt zu sein oder viele Fans auf Facebook zu haben. Allerdings nahe und vernetzt zu sein mit ein paar Freunden, die ich wirklich kenne (gegenseitige Beziehungen, vielleicht auch komplett online), das macht mich sehr glücklich."
    Der Dichter Roggenbuck überträgt hier die Erwartungen an eine Freundschaft auf eine, die "komplett online" stattfindet, und das ist nicht banal, das ist ehrlich und sehr menschlich. Und läuft konträr zur weitverbreiteten Meinung, dass man eben viele Kontakte bräuchte, um sich gut zu fühlen in der digitalen Welt, oder - ebenso verbreitet - dass Online-Kontakte oberflächlich und damit nicht freundschaftlich seien. Roggenbuck spricht mit seiner Erklärung etwas Tieferes an, hier: miteinander glücklich zu sein. Das ist eine dialogische, aber auch eine allgemeingültige Aussage, sodass mehr als 400 seiner Kontakte diesen Text geliked haben, also auf den bestätigenden "Daumen hoch" klickten. Der junge Dichter bewahrt etwas, das wir aus der analogen Welt kennen: Er stellt Nähe und Verständnis im Miteinander her.
    Das Netz überfordert uns stetig
    Steve Roggenbucks Grundproblem kennen wir alle: Irgendwie ist das alles zu viel - bei ihm die Freundschaften, die keine sind - und wir werden überrannt. Das Netz, einst als utopischer Raum gefeiert, überfordert uns stetig. Waren vor 20 Jahren erst 22 Millionen Menschen online, so sind es heute fast drei Milliarden. Wir bekommen immer mehr den Eindruck, Grenzen ziehen und uns schützen zu müssen. Die Informationsflut schlägt über uns zusammen. Aber könnten nicht Texte wie die von Steve Roggenbuck Luftblasen unter der Flut sein? Wo wir aufatmen können, Luft holen, ästhetisch und inhaltlich?
    Als alles losging mit dem WWW, dem World Wide Web, wurde es auch von vielen das Wild Wide Web genannt, analog zum Wilden Westen: Alles war möglich, alles erlaubt. Aber bereits die Unabhängigkeitserklärung des Internets, ein Gründungsdokument für die Anhänger des freien Netzes, schlägt einige sorgenvolle Töne an. John Perry Barlow, ein ehemaliger Songtexter der Band "The Grateful Dead", trug sie am Rednerpult der Weltwirtschaftskonferenz in Davos vor, 1996, vor fast 20 Jahren. Und er warnte davor, dass die freudvollen Gründerzeiten des Internets bald vorbei sein könnten. Dann nämlich, wenn die Vertreter von Staaten anfingen, sich mehr und mehr einzumischen. Bleiben wir kurz bei der Utopie, um besser zu verstehen, welche Verheißungen und Freiheiten des Netzes bereits - teilweise - verloren gegangen sind, welche aber Künstler wie der eingangs genannte Roggenbuck versuchen zu retten:
    Barlow nannte den Cyberspace das "Zuhause des Geistes". Die "Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl" bat er, das Netz in Ruhe zu lassen. Denn: "Der Cyberspace liegt nicht innerhalb eurer Hoheitsgebiete. [...] Ihr kennt weder unsere Kultur noch unsere Ethik oder die ungeschriebenen Regeln, die unsere Gesellschaft besser ordnen als dies irgendeine Eurer Bestimmungen vermöchte."
    Das System des Cyberspace, im Übrigen ein Begriff, der heute kaum noch Verwendung findet, beschreibt Barlow dann so:
    "Der Cyberspace besteht aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selbst, positioniert wie eine stehende Welle im Netz der Kommunikation."
    In diese drei Bereiche der Netz-Kommunikation, in die "Beziehungen", die "Transaktionen" und das "Denken selbst" haben, seit Barlow seine Rede hielt, nicht nur die Regierungen politische Zensur ausgeübt, sondern auch global agierende Konzerne der New Economy und - wie wir seit dem NSA-Skandal wissen - die Geheimdienste. Lassen wir diese Entwicklungen kurz Revue passieren.
    Erstens: Die Beziehungen der Netzbewohner. Sie werden innerhalb von sogenannten sozialen Netzwerken eingemeindet: Auf Plattformen wie Twitter, Facebook oder Instagram ist zwar geselliges Verhalten möglich und immer mehr Menschen nutzen diese kostenlosen Angebote, aber immer nur im Rahmen der programmierten Handlungsmöglichkeiten. Der zuletzt mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Jaron Lanier, der sein Wissen über das Internet als Programmierer bei Firmen im Silicon Valley erlangte, warnte 2007 mit seiner Publikation "You are not a gadget" - "Du bist kein Gerät", was sich auch als "Du bist mehr als ein Gerät" übersetzen ließe. Lass dich also nicht vom Gerät bestimmen.
    Was hat sich im zweiten Bereich verändert - den Barlow als zentral für die Netzkommunikation ansieht - bei den Transaktionen? Mittlerweile lesen kleine Programme jeden Mausklick und jedes Öffnen einer Seite mit. Sichtbar machen kann man diese Programme etwa durch weitere Programme, zum Beispiel Ghostery. Da sieht man dann etwa, dass der Perlentaucher, eine beliebte, kluge und informative Feuilletonrundschau, fünf solcher Plugins mitlaufen lässt, die da heißen: Ad Spirit, Google Analytics, INFOnline, Nugg.Ad, Twitter Button. Sie werten das Nutzerverhalten aus, sagen der Redaktion, welche Beiträge viel gelesen wurden. Auf stärker kommerziellen Seiten wie bei Amazon speisen die Informationen aus Nutzerbewegungen dann etwa die Leserempfehlungen. Sie werden monetarisiert. Diese Auswertungen sollen Handlungsmuster der Käufer allerdings nicht nur erkennbar, sondern sogar vorhersagbar machen. Vielleicht haben Sie einmal in einer E-Mail das Wort Schwangerschaft verwendet - und plötzlich handeln alle Werbebanner, die dort laufen, von günstigen Windelpaketen. Jede Information, die der Nutzer im Netz hinterlässt, dient dann dazu, weitere Transaktionen anzuregen, und diese in eine vom Nutzer bekannte Richtung zu kanalisieren. Es wird immer nur das vorgeschlagen, was gefällt, was mit meinem vorherigen Netzverhalten konform geht.
    Das Internet fördert Selbstzensur
    Und schließlich ist das Denken selbst, das Barlow als dritten wichtigen Netzaspekt nennt, in Mitleidenschaft geraten: Digitale Exilanten, die im Zuge der NSA-Affäre seit Herbst 2012 vor allem in Berlin Zuflucht gefunden haben, etwa Aktivisten von Wikileaks, sprechen bereits öffentlich über Selbstzensur. Wer das Gefühl hat, überwacht zu werden, lässt bestimmte Aussagen einfach weg. Das Denken selbst zieht sich aus dem Netz zurück. Die Netzpolitikerin Anke Domscheit-Berg wurde jüngst in einem Artikel der britischen Tageszeitung "The Guardian" mit diesen Worten zitiert:
    "Viele hier in Berlin vermeiden bestimmte Wörter oder lassen ihre Telefone in einem anderen Zimmer liegen. Die haben ihre Freiheit schon verloren."
    Wenn man davon ausgeht, dass die digitale Revolution eine Disruption bewirkt hat, dass sie Lebens-, Macht- und Arbeitsverhältnisse umgekrempelt hat, was heute sicherlich niemand mehr bestreiten mag, stehen wir heute vor der Disruption der Disruption: Das Netz hat sich gegen sich selbst gewendet. Muss es nun vor sich selbst gerettet werden? Und kann es das überhaupt? Vielleicht fängt man am besten damit an, dem Kontrollverlust durch die Behauptung der eigenen Freiheit zu begegnen. Und wie ginge das besser als mit einem künstlerischen Eingriff?

    Demonstration für die Freiheit des Internets in Frankreich
    Demonstration für die Freiheit des Internets in Frankreich (picture alliance / dpa / Thomas Bregardis)
    Einer, der das vorausgeahnt hat, war der wichtige postmoderne Philosoph Jean-François Lyotard. Er kuratierte 1985 die Ausstellung "Les immatériaux" am Centre Pompidou, welche die Einflüsse einer zunehmenden Technisierung auf Denken und Lebensformen erörtern sollte und welche 2014 am Düsseldorfer Kunstverein reinszeniert wurde. Lyotard schrieb damals, 1985:
    "Auch die Apparate selbst werden immer komplizierter. Eine Etappe war zurückgelegt, als ihre künstlichen Gehirne anfingen, mit Digital-Informationen zu operieren, mit Informationen ohne Analogie zu ihrem Ursprung. Es ist, als hätte man zwischen uns und den Dingen einen Filter gesetzt, einen Schirm von Zahlen. Eine Farbe, ein Ton, ein Stoff, ein Schmerz oder ein Stern kommen zu uns zurück als Zahlen auf Kennkarten von größter Genauigkeit."
    Damit beschreibt der französische Denker sehr genau die Faszination oder auch das Unbehagen, von dem viele heute noch erfasst sind: Das Internet und seine Apparate scheinen uns von der wie auch immer gearteten echten Welt zu entfernen. Das Internet filtert etwas heraus, es übersetzt Welt in Zahlen. Wo bleibt da der Mensch, ließe sich fragen? Wo und wie kann er - menschlich - in diesem neuen Raum agieren?
    Genau an dieser Stelle setzen immer mehr Künstler an, nicht nur der schon erwähnte Steve Roggenbuck. Künstler, die die verschiedensten Zugänge wählen.
    So fragte sich etwa der Journalist und Autor Sebastian Christ im Zuge der Geheimdienstaffären, ob er nicht etwa bei Presseakkreditierungen zu leichtgläubig mit seinen Daten umgegangen sei: Er hatte unter anderem aus Afghanistan und den USA berichtet. Nun wollte er wissen, ob Geheimdienste Akten über ihn angelegt hätten, und schrieb sechs Geheimdienste per Post an. In seinem Essay "Mein Brief an die NSA" erzählt er von den Antworten, die er bekam. Er macht aus seiner digitalen Verunsicherung ein Stück essayistische Literatur. Die letzten Zeilen daraus lauten: "Als Netzbürger kann ich nicht ins Exil gehen. Weil meine Heimat keine Grenzen hat."
    Diese Begriffe kennen wir aus der analogen Welt: Exil, Heimat, Grenzen. Christ vereinnahmt sie für Erfahrungen im digitalen Raum und lässt diesen Raum dadurch seine Abstraktion verlieren. Denn das Netz ist heute für viele eine Heimat. Um sich dort weiter heimisch fühlen zu können, kann man keine bekannten Gemütlichkeitsrituale durchführen etwa Kerzen anzünden, angenehme Musik auflegen, nein, man muss diese Heimat in ihrer Willkommensgeste bewahren oder sie selbst wieder zur Heimat machen. Das heißt: die Massenüberwachung bekämpfen, eigene Daten sicherer versenden und ablegen. Verschlüsselungstechniken sollten zu kulturellen Techniken werden.
    Sebastian Christ ist nicht der einzige, der Selbstaufklärung betreibt. 2012 beteiligten sich fast 600 Schriftsteller weltweit an der Aktion "Writers against Mass Surveillance", darunter auch fünf Literaturnobelpreisträger. An vorderster Front standen viele in Berlin ansässige Autorinnen etwa Juli Zeh oder Isabel Fargo Cole. Bei der Konferenz "Einbruch der Dunkelheit", die an der Volksbühne in Berlin stattfand und sich den metaphorisch oder wahrhaftig dunklen Stellen des Netzes widmete, saß der bekannte US-amerikanische Science-Fiction-Schriftsteller Bruce Sterling auf dem Podium und fragte sinngemäß mit ironischem Unterton:
    "Wer sind diese deutschen Frauen? Juli Zeh? Isabel Cole? Wollen sie das Internet vor der Überwachung retten? Toll, toll, toll, die deutschen Schriftstellerinnen sind an vorderster Stelle, wenn es um den Protest gegen die NSA geht."
    Er fand es also lustig und nicht ernstzunehmen, wenn deutsche Autorinnen protestierten. Diese niedlichen Autorinnen. Das wiederum fanden viele im Publikum ignorant. Denn ist es nicht ein Zeichen, wenn der Protest gegen die Netzüberwachung direkt aus den literarischen Kreisen kommt?
    "Wenn Schriftsteller, das "selbstständigste Material, das es gibt", wie der Verleger Samuel Fischer sie einmal nannte, sich in ihrer Freiheit bedroht fühlen?"
    Spannend wird es derzeit dort, wo die künstlerische Tätigkeit aus dem Aktivismus heraussteigt, wo sie sich schöpferisch der Netzentwicklungen annimmt. Wo sie sich Freiheit, Unabhängigkeit und ja, vielleicht auch eine eigene Art von Menschlichkeit, bewahrt. Wo sie "Oasen im Netz" schafft, oder besser: "Entsprechungen von Oasen", wie der Autor und Filmemacher Alexander Kluge es in einem Essay an die digitale Generation fordert. Wie Barlow, der die Netzkommunikation mit einer "stehenden Welle" vergleicht, bedient sich Kluge übrigens ebenfalls einer Wassermetapher:
    "Sie können nicht als Einzelner über einen Ozean von Information die andere Küste erreichen, da würden Sie nicht ankommen. Wenn Sie von der Bretagne aus starten, den Atlantik zu durchschwimmen, würden Sie, sagen wir mal, fünf Kilometer schaffen. Insofern wäre es gut, wenn Sie ein Boot hätten. Ein Boot ist schon wieder die Entsprechung einer Oase, ein fester Ort. Diese Dialektik zwischen Fülle und einem Punkt, an dem ich doch bei mir bin, ist eine Bewegung, die zur Herausbildung eines starken Kerns führt."
    Aber passt die Herausbildung eines starken Kerns nicht eher zu einer Identitätstheorie des 19. Jahrhunderts als zu heutigen vom Netz geprägten Identitätsmodellen? Geht es nicht heutzutage, im 21. Jahrhundert, um das ständige Updaten des Selbst, das permanente Sich-Versenden, die Überproduktion von Sinn? Aber genau deshalb ist eine solche ruhige oder besser ruhig stellende Aktivität, wie Kluge sie fordert - das Pendeln zwischen einem Überangebot des Streams und dem Halte-Punkt, der ich bin - im zeitgenössischen Kontext eine subversive Tätigkeit.
    Und diese Art des digital-kontrapunktischen Handelns ist keine Frage des Alters. Der nun über 90-jährige Filmemacher Jonas Mekas, der als Vater des "Avantgarde-Films" gilt, und in New York das wichtigste Archiv für Filme der freien Szene aufgebaut hat, hat vor einigen Jahren seine analoge Bolex-Kamera gegen eine digitale Handkamera ausgetauscht. Seit 2007 stellt er für das Projekt "365 Tage" kurze YouTube-Clips über sein Alltagsleben ins Netz. Seine filmische Handschrift, insbesondere sein berühmter Tagebuch-Stil, die starke Fokussierung auf sich selbst, hat er damit in ein schnelles kurzlebiges Netzformat übertragen. Dort wirkt die digitale Chronik seines Lebens und seiner Identität aber doppelt: anachronistisch und zeitgemäß zugleich. Mal spricht er über Britney Spears, dann filmt er einen Baum im spröden Licht vor dem Kölner Museum Ludwig. Die zufälligen Dinge, die ihm das Leben vor Augen führen, entsprechen den zufälligen Themen, die das Netz an uns vorbeiziehen lässt. Mekas hält die Kamera darauf, er widmet einzelnen Personen und Sachen ein wenig mehr Zeit, mit seinem Blick werden sie schön, zeitlos, zu einer klassisch sublimen Erfahrung. Und nacherlebbar auf Youtube.
    Bleiben wir ein wenig bei der Beziehung zwischen digital und analog. Beides fließt mittlerweile ineinander, ist nicht mehr so klar zu trennen. Die Mobiltelefone sind heute kleine Computer, die ständig mit dem Netz verbunden sind. Das Lesen, Sehen, Empfinden pendelt zwischen sozialem Netzwerk und Schreibtisch, zwischen Nachrichten-App und Zeitung. Aus beidem setzt sich so die heutige Welt-Erfahrung zusammen. Also ist es nur konsequent, wenn bildende Künstler nicht mehr auf dem Marktplatz sitzen und das Rathaus abmalen, sondern wenn sie ebenso lässig wie unbewusst das Netz als Mitwelt abbilden. Der sogenannten Post Internet Art, einer der aktuellsten Strömungen der zeitgenössischen Kunst, sagt man nach, dass sie das Netz hinter sich gelassen habe, dass sie nicht versuche, im Netz Kunst zu produzieren, sondern weiterhin Objekte, oft aus Netzfunden. Im Grunde genommen machen Post-Internet-Künstler immer noch klassische Kunst, die man im White Cube ausstellen kann, aber in dieser Kunst ist das Netz implizit vorhanden.
    Besonders in einer Branche entstehen derzeit permanent Haltepunkte im Netz: in der in Deutschland relativ jungen digitalen Verlagsbranche, die mir sehr vertraut ist, weil ich ihr als Digitalverlegerin selbst angehöre. Sie besteht aus Verlagen, die ausschließlich E-Books veröffentlichen. Seit 2013 haben sich, vor allem in Berlin, etwa 15 Verlage und Dienstleister neugegründet und mischen das Verlagsgeschäft mit Titeln, die nur digital erhältlich sind, auf, mit sogenannten Only-digital-Werken. Sie werden von den klassischen Buchlesern kritisch beäugt, viele versuchen, diese Entwicklungen nicht ernst zu nehmen. Die gängigsten Vorurteile sind: "E-Books haben keine Haptik" oder "Sie sind keine Bücher." Ja, beides stimmt, aber beides wollen E-Books auch gar nicht behaupten zu sein. Sie sind programmierter Code, der einen Lektüretext transportiert. Sie ermöglichen konzentrierte Lektüre in einem rauschenden, ablenkendem Umfeld, das ja das Internet meist ist.
    E-Book und Buch
    E-Book vs. echtes Buch (picture alliance / dpa / Simon Chavez)
    Die eben genannten Vorurteile oder gar Ablehnungen sind umso ignoranter, als die digitalen Veränderungen mittlerweile mitten im klassischen Verlagsbetrieb angekommen sind.
    Eine Studie zur Branche von Price Waterhouse Cooper prognostizierte bereits für 2014 "das Ende des digitalen Aufbruchs", denn "das Digitale ist nun im Business-as-usual eingebettet und auf dem Weg zum Kerngeschäft von Mediengesellschaften weltweit". Die Studienergebnisse in aller Kürze: Der Markt für Gedrucktes wird kleiner, E-Books sind im Aufschwung und das Netz ist mittlerweile der dynamischste Verkaufskanal auch für Bücher. Und für E-Books sowieso.
    Die ökonomischen Entwicklungen zeigen also, dass im Verlagswesen bereits beide Welten zusammen agieren. Und wer da noch Unkenrufe aussenden will, ob des Kulturverlustes durch den befürchteten Niedergang des gedruckten Buchs, sollte sich eines klarmachen: Sowohl im Buch als auch im E-Book steht Text im Mittelpunkt. Und Text war schon immer der Träger von Aufklärung und Wissensvermehrung. Diejenigen, die lesen und schreiben konnten, besaßen die Macht über Wirtschaft, Politik, aber auch Geschichtsdefinition und Kulturwerte.
    Das Neue und Überraschende ist wohl, dass beim E-Book der Text von seinem Trägermedium befreit ist. Oder anders gesagt: Der Text eines E-Books wird erst für den Menschen lesbar durch ein Gerät, das den Code verstehen und in Schriftzeichen umwandeln kann. Die Maschine ermöglicht erst die Lektüre. Zusätzlich wird das E-Book erst über eine Netzverbindung auf eine solche Maschine, einen E-Reader, ein Smartphone oder ein Tablet transferiert. Das E-Book ist also ein merkwürdiges Zwitterwesen: Es ist nur über das Netz zu beziehen, aber es kann offline gelesen werden. Sein Text wird in Programmiersprache verpackt, aber der Lektürevorgang - auch wenn er auf einem Bildschirm stattfindet - bewahrt die Linearität der Kulturtechnik "Lesen", wie wir sie kennen. Und genau deshalb ist das E-Book keine Bedrohung für die Buchwelt, sondern eine Erweiterung und Bewahrung. Eine andere Literatur wird ermöglicht. Literatur, die vielleicht zu kurz oder zu lang ist, um gedruckt zu werden. Literatur, die vergriffen ist, wird digital wieder lesbar gemacht. Übersetzungen, die keinen Printverlag interessieren, können digital neue Leser finden. Das E-Book, so wie es heute existiert, ist dabei sicherlich nicht der Endpunkt des digitalen Lesens, sondern ein Zwischenschritt einer Entwicklungsphase.
    Und diese Entwicklung hat schon vor Jahrzehnten begonnen. Damit ist sie für digitale Verhältnisse schon historisch - und ist im Vergleich zum Buchdruck, der mittlerweile um die 500 Jahre auf dem Buckel hat, noch jung.
    Bereits 1971 wurde die weltweit größte kostenlos zugängliche digitale Online-Bibliothek gegründet, das Projekt Gutenberg. Anders als bei Google Books, dem Bücher-Digitalisierungsprojekt, das ökonomische Hintergründe hat, macht das Gutenberg Projekt ohne Hintergedanken Literatur zugänglich. Und schafft damit einen freien Leseort im Internet. Das, was John Perry Barlow in seiner zuvor zitierten Unabhängigkeitserklärung des Internets "das Denken selbst" nannte, bahnt sich seinen Weg.
    Zwei weitere Beispiele zeigen, dass es dazu oft noch nicht einmal mehr das Format eines Buches oder E-Buches braucht. Denn im Netz werden fortlaufend Texte ohne Anfang und Ende produziert, unendliche Manuskripte, lesbar auf einzelnen Profilen.
    Da sind einerseits Autoren, die nur oder vor allem auf ihrer Profilseite einer sozialen Plattform schreiben. Auf Twitter entsteht so die Twitteratur, die in Deutschland derzeit vor allem von der Verlegerin Christiane Frohmann in E-Book-Sammlungen herausgebracht, aber auch wissenschaftlich analysiert wird. Ein bekannter Vertreter hier ist Eric Jarosinski, der mit seinem Profil @NeinQuarterly die kritische Theorie der Frankfurter Schule per Twitter wiederbelebt. Er schreibt nur Verneinungen, komisch-dialektisch, liebenswürdig, professoral-verschroben. Auf Facebook findet man das neue literarische Genre des Facorismus, als Neologismus aus Facebook und Aphorismus. Da schreibt etwa der junge syrische Autor Aboud Saeed mit Beginn der syrischen Revolution ab dem Frühjahr 2011 aus seinem Alltag im Norden des Landes und wird schnell zum Star der arabischen neuen Literatur. Die libanesische Tageszeitung An-Nahar schrieb Ende Dezember 2012 über ihn:
    "Auf Facebook zu gehen, ohne Aboud Saeed kennenzulernen, ist wie nach Paris zu reisen, ohne den Eiffelturm zu sehen."
    Aboud Saeed lebt seit November 2013 in Berlin mit politischem Asyl, nachdem seine Texte zum allerersten Mal in deutscher Übersetzung beim E-Book-Verlag mikrotext erschienen sind. Der klügste Mensch im Facebook, so der Titel, ist nicht nur eine Art Kriegstagebuch aus der Sicht eines jungen Mannes, sondern auch eine poetische und sarkastische Abrechnung mit der Assad-Diktatur, den Islamisten und den arabischen Popsternchen - und direkt auf Facebook geschrieben und publiziert.
    "Ich werde alles schreiben, was ich gerade denke über die Leere, die aus mir einen Pseudo-Dichter gemacht hat."
    Noch ganz kurz möchte ich auf eine künstlerische Variante eingehen, die allerdings das Schreiben von klassischem Text durch das Schreiben von Programmiersprache ersetzt, die sogenannte "Bot Literatur". Botliteraten schreiben einen Code, der schon vorhandenes Textmaterial im Netz filtert und neu sortiert ausgibt. Ein Beispiel dafür ist etwa der "Wendecorpus" von Hannes Bajohr. Er hat ein digitales Archiv mit Texten über die Wende nach "mit 'wir' beginnenden Sätzen von exakt sechs Wörtern Länge durchsucht" und sie danach alphabetisch sortiert. Der Schreibprozess ist hier also ein zweigeteilter: Das vorliegende Material wurde von wem auch immer verfasst, aber die Auswahl der Texte nach einem Schema bestimmt ein Programm, das jemand ausklügelt hat.
    "wir atmen wieder, aber welche luft?
    wir bedauern das nach wie vor
    wir begründen heute unseren gemeinsamen staat
    wir begrüßen ihn aus ganzem herzen
    wir bekamen 30 sitze im rathaus
    wir bekamen nicht einmal eine einladung
    wir bekennen uns zu sozialistischem unternehmergeist
    wir bekennen uns zu unserer friedenspflicht
    wir bekommen täglich post zur eigentumsfrage
    wir besitzen sie doch überhaupt nicht
    wir blieben einfach nicht hart genug
    wir blieben strittig an diesem tag
    wir brauchen aber auch weitere unterscheidungen
    wir brauchen freundlichkeit und güte, charme"
    Diese Form der Botliteratur filtert die scheinbare Unordnung. Aus dem Zuviel wird das "Definierte Etwas". Und idealerweise eine Erkenntnis. Hannes Bajohr eignet sich das Netzmaterial an und durchdringt es. Der Algorithmus, den er - als Autor - geschrieben hat, ist eine Art mathematischer Kurator. Und treibt also dem Netz die Beliebigkeit aus.
    "Erstens, zu mehr Protesten gehen. Zweitens, mehr weinen. Drittens, trotzdem mich selbst mehr mögen. Viertens, Freundschaften priorisieren. Fünftens, Laufen gehen. Sechstens, mehr Gedichte schreiben. Siebtens, meditieren und freundlich sein."
    Am 5. Dezember teilte Steve Roggenbuck auf Facebook seinen Kontakten seine guten Vorsätze für 2015 mit. So klingt es, das Netz, wenn ein Künstler, in diesem Fall ein Dichter, es für seine Zwecke nutzt. Eine Geste der Nähe. Der Widerhall von Verständnis. Ein Raum, in dem mehr möglich ist als die Stichwortsuche, der Einkauf per Klick oder das schnelle Chatten.


    Nikola Richter ist Verlegerin des Digitalverlags mikrotext und Kuratorin des Berliner Netzkultur-Festivals für Freunde des Internets in Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen und der Bundeszentrale für politische Bildung.
    Teil 5 am 1.2.15