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Neudeck: Somalia braucht mehr internationale Unterstützung

Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme" spricht sich für eine stärkere internationale Hilfe in Somalia aus – und rät dabei, die Struktur des nördlich gelegenen Somalilands zu nutzen, um Menschen "aus dem geschundenen südlichen Somalia" zu versorgen.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Silvia Engels | 10.08.2011
    Silvia Engels: Trotz erster Hilfslieferungen hungern in Somalia die Menschen also weiterhin, und in der Hauptstadt Mogadischu gehen auch die Kämpfe weiter. Die Vereinten Nationen erwarten vor allem im Süden einen dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen. Die Hilfsbemühungen der Internationalen Gemeinschaft könnten nicht damit Schritt halten, so warnte die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft gestern in Genf. Im Norden Somalias, der Region Somaliland, erreichen wir in der dortigen zweitgrößten Stadt Boao Rupert Neudeck, er ist Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme. Guten Morgen, Herr Neudeck!

    Rupert Neudeck: Ja, guten Morgen, Frau Engels!

    Engels: Welche Eindrücke haben Sie bislang in dieser eher nördlichen Region gewinnen können?

    Neudeck: Einmal ist es so, dass man den deutschen Zuhörern sagen muss: Hier ist eine Sicherheit, die man gar nicht verstehen kann, wenn man sonst Somalia sich vorstellt. Hier gibt es keine Milizen, es gibt hier einen Staat, der versucht, das Beste für seine Bevölkerung, 3,5 Millionen, rauszuholen, und er hat sich auch bereit erklärt – das sind die Gespräche, die wir geführt haben, auch mit der Regierung in Hargeysa –, der hat sich bereit erklärt, die somalischen Mitbürger aus dem Süden aufzunehmen, auch zu versorgen.

    Und das geschieht auch: In der Stadt, von der aus ich mit Ihnen jetzt telefoniere, sind um die Stadt herum eine ganze Menge wilder Ansiedlungen entstanden in ganz elenden Hütten. Die Menschen werden nicht genug versorgt, aber es ist zumindest ein Bemühen der Bevölkerung, es gibt eine Sympathie der Bevölkerung. Das heißt, diese Menschen, die in einer Zahl von bis zu 50.000 bisher über die nicht anerkannte Grenze von Somaliland nach Somalia gekommen sind, die werden relativ gut versorgt.

    Jetzt brauchen sie natürlich noch eine ganze Menge an zusätzlichen Nahrungsmitteln, (…), Decken, Medizin, die von internationalen Organisationen kommen sollte, und da sind wir jetzt auch hier deshalb hergekommen, um das zu bewerkstelligen. Also hier gibt es eine bessere Ausgangslage für die Menschen, weil sie willkommen sind, und das ist eine ganz andere Situation in Kenia.

    Engels: Erläutern muss man dazu auch, dass sich, Sie haben es angedeutet, Somaliland von Somalia abgespalten hat, allerdings eine Abspaltung, die international nicht anerkannt ist. Aber in der Tat gilt der Norden als relativ stabil. Was versucht Ihre Hilfsorganisation deshalb zurzeit in Somaliland?

    Neudeck: Wir versuchen, Nahrungsmittel im Lande aufzukaufen und damit das alte Gesetz der Entwicklungshilfe wahrzumachen, dass es immer gut ist, wo ... alles das im Lande auch zu kaufen zugunsten der einheimischen Wirtschaft, was hier zu haben ist.

    Und da ist eine ganze Menge zu haben, denn Somaliland hat einen funktionierenden großen Seehafen, der auch nicht von Piraterie bedroht ist, der heißt Berbera, Berbera hat auch eine große, riesengroße Flugpiste, die seinerzeit noch die Sowjetunion gebaut hat, die die Amerikaner dann übernommen haben. Wir können im Lande alles einkaufen, wir versuchen das jetzt auch zu tun, und wir sind hier willkommen bei der Hilfe.

    Also man setzt darauf, weil das ja sogenannte Staat Somalia ... die Republik Somaliland hat ein Budget von 40 Millionen Dollar, und jeder Bürger in Deutschland kann sich ausrechnen, dass da nicht hin und herzukommen ist mit einer zusätzlichen Hilfe. Aber hier kann man etwas tun, und ich denke, dass es eine große zusätzliche Hilfe ist, die geleistet werden kann, weil man diese Somalis, die hier ankommen – ich habe hier Menschen erlebt aus der Gegend von Mogadischu, anderthalb Monate zu Fuß gegangen sind, die sind natürlich in einem erschreckenden Zustand –, ...

    Aber die Menschen fühlen sich hier wohl; und wir werden mit ihnen nicht Camps aufbauen, das ist immer das Gefährlichste, sondern die sind hier auch nicht kaserniert, sondern die leben mit den anderen Somalis von Somaliland nebeneinander. Wir versuchen, einige Stützpunkte aufzubauen, wir brauchen auch Medizin, das wird von Deutschland aus auf dem Luftwege hierher gebracht werden. Das sind so die ersten Maßnahmen, die wir hier versuchen einzuleiten.

    Engels: Was hören Sie denn dann aus dem Süden, wenn Menschen aus den Regionen Mogadischu, aber auch noch weiter aus den Hungergebieten des Südens ankommen? Was wissen Sie über Kämpfe, was wissen Sie über die Versorgung?

    Neudeck: Diese Menschen sind bar jeder Versorgung, weil der Staat ist buchstäblich in diesem Süden Somalias, in dem größeren Teil des alten italienischen Somalia zusammengebrochen. Es gibt keinerlei Strukturen mehr, die für die Menschen sorgen, und die Kämpfe kommen dazu, Unsicherheit kommt dazu.

    Das heißt, hier ist eine Völkerwanderung im Gange, die zunächst mal – das hören wir von den Menschen, die ich hier in den (…) getroffen haben, also in den kleinen Zelten –, sie sind zunächst mal auf dem Wege gewesen nach Kenia, weil sich das anbot, auch vielleicht nach Äthiopien, aber jetzt weiß man auch, dass Somaliland, das früher mal eine britische Kolonie war, dass das auch bereit ist und in der Lage ist, diese Menschen auch willkommen zu heißen. Ich meine, in Ergänzung zu dem, was uns der Gouverneur hier dieser Provinz gesagt hat, es werden wahrscheinlich in den nächsten Tagen und Wochen sehr viel mehr kommen, zumal wenn sie hören, dass hier auch eine qualifizierte Hilfe geleistet werden kann.

    Engels: Könnte denn die Internationale Gemeinschaft auch stärker auf Somaliland zugehen und darauf zurückgreifen, beispielsweise die Flüchtlingsströme des Südens zu versuchen, in den Norden umzuleiten, weil Kenia ja über Überlastung stöhnt?

    Neudeck: Ich halte das für das alles Entscheidende, dass so etwas wenigstens nicht nur gedacht, sondern getan wird, weil man muss immer wissen: Menschen, die flüchten müssen über eine Grenze aus einem Staat, der nicht existiert, die sind praktisch heimatlos, die können auch nicht mehr zurückgeschickt werden, die sind auf Dauer gezeichnet.

    Hier wäre die Situation so, dass Somalis aus dem Süden in ein anderes Somalia kommen, aber immerhin dann doch bei ihren Brüdern und Schwestern der gleichen Nation sind, der gleichen Religion. Und deshalb wäre eigentlich jetzt der größte Appell an die internationale Hilfsgemeinschaft, die funktionierende Struktur Somalilands, die funktionierenden Häfen und Flughäfen – ich bin von (…) hier nach Hargeysa geflogen, das geht sehr gut –, die zu benutzen, damit hier eine etwas schnellere und auch eine etwas einsichtsvollere Hilfe für die Menschen aus dem geschundenen südlichen Somalia zu versorgen.

    Das, glaube ich, ist jetzt die Stunde, da man der internationalen Hilfsgemeinschaft und auch der Staatengemeinschaft anempfehlen sollte, auch der deutschen Bundesregierung anempfehlen sollte, dass sie hier in diesem Land, das schon existiert und das eine Struktur hat, die Hilfe jetzt leistet.

    Engels: Warum geschieht das nicht?

    Neudeck: Weil wahrscheinlich ganz Somalia aus unserem Fokus, aus unserem Blickfeld verschwunden ist. Es ist ein Vakuum geworden, und das ist ja gerade das Gefährliche, und deshalb wäre es so wichtig, dass die Europäische Union, dass auch die Bundesrepublik Deutschland, dass wir jetzt Anstrengungen machen, dieses Gebilde, was durchaus zu einem Staat berechtigt ist, ein Staat sein könnte, weil es in alten kolonialen Grenzen existiert, dieses Gebilde vielleicht langsam auch anzuerkennen, damit hier etwas entsteht, was zumindest für die Flüchtlinge auf Dauer auch sinnvoll und hilfreich ist, nämlich eine gewisse Stabilität entsteht. Das wäre etwas, was (…) zu wünschen wäre.

    Engels: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme, wir haben ihn in Somaliland erreicht, das ist der Norden von Somalia, der sich vom Hauptland abgetrennt hat. Vielen Dank für Ihre Eindrücke heute Morgen!


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