Archiv


Neue alte Balkanmetropole

Bulgariens Hauptstadt Sofia bietet ein kulturelles Gemisch aus Europa und Orient, aus Modernität und Vergangenheit. In den letzten 20 Jahren seit der politischen Wende hat sich die Stadt rasant verändert und das vom Sozialismus geprägte Bild teilweise abgelegt. Sichtbar wird ein Patchworkmuster aus Vergangenheit und modernster Gegenwart.

Von Simone Böcker |
    Vanja Ivanova steht neben ihrem Stand - ein Berg von Selbstgehäkeltem - und hält Passanten ihren Liebespfad unter die Nase: eine mit aufwendigen Mustern versehene Tischdecke.

    "Wir verkaufen alles von Hand gemacht. Hier sind zum Beispiel Tischdecken für kleine und große Tische oder Blusen. Schauen Sie, wie schön die gearbeitet sind. Wir sind vier Frauen, die das machen. Wir geben 80 Jahre Garantie."

    Die vielen Runzeln machen das Gesicht der alten Frau zu einer bewegten Landschaft. Vanja Ivanova hat einen der schönsten Arbeitsplätze in Sofia: Seit 20 Jahren verkauft sie auf dem Flohmarkt vor der Alexander-Newski-Kathedrale, dem Wahrzeichen der bulgarischen Hauptstadt. Die goldenen Kuppeln strahlen wie frisch poliert. Vielleicht das prächtigste Gebäude Sofias, gebaut als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber Russland, das Bulgarien im Jahr 1878 von der Herrschaft des Osmanischen Reiches befreit hatte.

    Im Inneren der orthodoxen Kirche ist es düster, dünne gelbe Kerzen verbreiten ein heimeliges Licht. Menschen kommen, um die Ikonen zu küssen und Kerzen anzuzünden. Mit etwas Glück kann man dem berühmten Chor der Kathedrale beim Proben zuhören und dabei die mystische Wirkung der Stätte auf sich wirken lassen.

    Draußen auf dem Flohmarkt, neben all den angebotenen alte Taschenuhren und Fotoapparaten, neben Babuschka-Puppen und Holzgeschnitztem, wartet Vanja noch immer auf Kunden. Aber die Leute kaufen nicht mehr wie früher, sagt sie. Vielleicht sind auch die traditionellen Deckchen und Strümpfe nicht mehr gefragt in einer Stadt, die sich so massiv dem Neuen und Modernen entgegen wirft.

    Neben den mehr oder weniger abbröckelnden Altbauten mit dem Charme des letzten Jahrhunderts werden Bürogebäude hinter Glasfassaden hochgezogen, Einkaufszentren und brandneue Appartmentblocks. Junge, trendig gekleidete Menschen mit teuren Handys stolzieren über den Vitosha Boulevard - die Boutiquen-Shoppingmeile und Fußgängerzone. Verdunkelte Jeeps jagen durch die löchrigen Straßen, vorbei an Menschen, die auf dem Weg in den Kapitalismus auf der Strecke geblieben sind. Und überall trifft man noch auf Spuren der sozialistischen Ästhetik.

    "Die Transitionsphase der letzten Jahre beeinflusst alles in der Stadt","

    … sagt Kliment Popov, Kunstdozent.

    ""All die Widersprüche, den Kampf von neu gegen alt kann man hier im Gesicht der Stadt ablesen. Den Zerfall des Alten, das Aufblühen des Neuen, inklusive der Menschen, die diese zwei Seiten derselben Medaille bewohnen."

    Kliment Popov trinkt seinen Tee im Café der Künstlervereinigung, einem vierstöckigen Gebäude neben der Universität, genannt Schipka Schest. In jeder Etage gibt es Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. Seit Jahrzehnten treffen sich hier Kunststudenten, Professoren, Intellektuelle, und geben dem Ort ein spezielles Flair.

    "Sofia war früher eine sehr kosmopolitische Stadt. Viele Bulgaren sind nach Europa gereist. Allgemein war die Haltung sehr pro-europäisch, das kann man auch an der Jugendstilarchitektur aus der Zeit erkennen. Doch das endete abrupt nach 1944. Mit dem neuen kommunistischen Staat richtete sich der Blick plötzlich nach Nordosten. Die sozialistische Architektur und Lebensweise nahm ihren Platz ein. Aber die Sofioter erinnern sich noch immer am liebsten an das kleine, idyllische Städtchen der 1930er-Jahre, das Sofia einmal gewesen ist."

    Das Nebeneinander aus den verschiedenen Epochen gibt Sofia einen collagenhaften Anstrich. Im Herzen der Stadt ist die Geschichte auf einem Quadratkilometer komprimiert. Überreste der Römer, die Moschee aus Osmanischen Zeiten, die Synagoge, alte orthodoxe Kirchen und schließlich die martialischen kommunistischen Parteigebäude - die Spuren aller ehemaligen Stadtbewohner sind bis heute sichtbar.

    Zwischen dem Präsidentenpalast und dem Ministerrat geht es ein paar Treppen hinab in die Vergangenheit. Eine lange Ziegelsteinmauer führt zum ehemaligen Osttor der alten römischen Stadtfestung. Damals hieß Sofia noch Serdica und war ein bedeutendes Zentrum des Römischen Reiches. Nadeschda Kirova ist Archäologin beim Stadtamt.

    "Der Herrscher Konstantin der Große sagte, Serdica ist mein zweites Rom. Er versuchte, die Hauptstadt von Rom nach Serdica zu verlegen. Aber dann hat er sich für Konstantinopel entschieden. Und so wurde Serdica eben nicht das zweite Rom, aber fast wäre es so gekommen."

    Dabei - so ist man bei den Stadtbehörden überzeugt - hätte Sofia mit seinen archäologischen Funden zumindest heute das Zeug dazu, das zweite Rom zu werden.

    Das Sofia von Anfang des 20. Jahrhunderts ist noch in den kleinen Sträßchen der Altstadt lebendig. Im Viertel hinter der Synagoge ähneln die Straßen im Sommer grünen Tunneln, gesäumt von riesigen Bäumen. Quer hindurch zieht sich der sogenannte Frauenmarkt, ein quirliger Basar, auf dem Obst- und Gemüse, Reisigbesen, Blumen, Plastikwaren und vieles andere feilgeboten werden. Georgi Kolev und seine Frau stehen vor dem Stand, auf dem eine ältere Frau ein paar Gurken und Tomaten ausgebreitet hat.

    "Das Gemüse, was hier verkauft wird, kommt oft aus dem Garten der Leute. Es schmeckt einfach viel besser als aus dem Supermarkt. Zum Beispiel die Gurken: Die sehen überhaupt nicht künstlich aus, sehen Sie die Farbe, ein schönes Grün. Und jede hat ihre eigene Form."

    Das Ehepaar kommt oft zum Einkaufen her. Doch wie viele Sofioter schämen sie sich auch ein bisschen für seinen wenig EU-gerechten Zustand.

    "Hier hat man das Gefühl, zwei Jahrhunderte zurückversetzt zu sein. Es ist ein bisschen exotisch. Wenn Freunde aus dem Ausland zu Besuch kommen, dann ist das für sie immer eine Attraktion. Sie fotografieren sehr gerne, wie die Lebensmittel einfach auf der Straße verkauft werden: Milch, Käse, selbstgebrannter Schnaps. Manchmal liegt das einfach auf einem Tuch auf dem Boden."

    Von vorherigen Jahrhunderten zurück in die pralle Gegenwart. Die Nächte in Sofia haben etwas typisch Bulgarisches zu bieten: Chalga. So heißt der bulgarische Popfolk. Auf der Bühne der Chalga-Bar Amor tanzen leicht bekleidete Damen, das Publikum jubelt der Sängerin Kamelia zu. Die Musik gilt in Bulgarien als Soundtrack der Neureichen, die es in der Wendezeit - meist mit illegalen Mitteln - zu viel Geld gebracht haben. Orientalische, traditionelle Melodien sind mit Popelementen gemischt, die Texte handeln von Liebe, schnellen Autos, schönen Frauen. Die Musik trifft das Lebensgefühl einer Generation, die sich ganz dem Materiellen verschrieben hat. Frank Stier lebt schon einige Jahre in Sofia und ist ein echter Chalga-Fan.

    "Als ich das erste mal in Varna am Schwarzen Meer ein Chalga-Konzert gesehen habe, war ich einfach fasziniert davon, wie ausgelassen die Leute feiern und tanzen. Tanzen nicht nur wie wir im Westen auf dem Boden, sondern auf Stühlen und Tischen. Super Stimmung."

    Auch Kamelia hat ihr Publikum schon gehörig in Wallungen gebracht. Selbst in der Musik mischt sich Tradition und Moderne, ein Patchwork aus verschiedenen Stilen und Zeiten. Und zusammen mit ein paar Gläsern Rakija, dem traditionellen bulgarischen Schnaps, tanzen die Besucher dem Morgen und neuen Zeiten entgegen.