Freitag, 26. April 2024

Archiv

Neue Orgelmusik
Erforschung von Grenzbereichen

Die Aufnahme auf der Doppel-CD mit Orgelwerken von Jörg Herchet sind in der Martin-Luther-Kirche in Dresden realisiert worden. Neben großen, komplexen Strukturen entstanden dabei auch Klangbilder von asketischer Kargheit. Die CD des Organisten Bernhard Haas wurde auf der 2004 eingeweihten Orgel der Essener Philharmonie eingespielt. Hier wurden abstrakte Strukturmodelle auf die Orgel angewandt.

Moderation: Ingo Dorfmüller | 16.04.2017
    Die Orgelpfeifen einer Kirchenorgel aufgenommen am 30.11.2012 in einer Kirche in Stadtbergen (Bayern).
    Das Spektrum zeitgenössischer Orgelmusik ist beachtlich. (dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Jörg Herchet: komposition 1, VI - Ausschnitt (Passacaglia, 1.Phase)
    Lydia Weißgerber, Orgel (Jehmlich-Orgel der Martin-Luther-Kirche, Dresden)
    Der Dresdner Jörg Herchet, Jahrgang 1943, ist unter den Komponisten der Gegenwart eine Ausnahmeerscheinung. Wie einst Johann Sebastian Bach versieht er seine Werke mit dem Zusatz "Soli Deo Gloria" - "Gott allein die Ehre". Die Welt, in der der Komponist sich bewegt, wird als unteilbares Ganzes, als von Gott geschaffen, getragen und durchdrungen gedacht. In diesem Sinne "spirituell" darf man sich auch Jörg Herchets Komponieren vorstellen. Ein Bekenntnis zu einer bestimmten Konfession soll es ausdrücklich nicht sein.
    Im Gegenteil: Sein größtes musikalisches Projekt - der Kantatenzyklus "das geistliche jahr" - schließt Festtage der evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirche ein und öffnet sich darüber hinaus auch nicht-christlichen Traditionen.
    In ähnlichem Sinne geht Jörg Herchet auch mit der Orgel um: Seine Orgelmusik ist geistlich, aber nicht kirchlich-liturgisch. Der Orgel hat er seine größten Entwürfe im Bereich der Instrumentalmusik anvertraut. Da ist zunächst die "komposition 1 für orgel", das Werk, mit dem sich die Entwicklung von Jörg Herchets unverwechselbarer musikalischer Sprache vollzog. "komposition 1" ist über den langen Zeitraum von zwölf Jahren entstanden, zwischen 1973 und 1985. Es handelt sich um einen Zyklus von acht unterschiedlich langen Orgelstücken, in denen sich Veränderungen und Akzentverschiebungen hinsichtlich der Kompositionstechnik zeigen, die aber dennoch unzweifelhaft ein Ganzes ergeben.
    Die vorliegende Doppel-CD enthält die Stücke V und VI, die der zweiten Phase des Zyklus angehören: Die ersten drei Stücke entwickeln die musikalische Sprache, ab dem Stück IV wird mit diesem Material gearbeitet, Stück VIII mit einer Spieldauer von allein 50 Minuten ist dann Krönung und Abschluss des Zyklus. Was aber bedeutet er? Das Komponieren, das Bauen von Musik mit sogenannten "Strukturakkorden"; die immer weitergehende Differenzierung der Musik in Artikulation, Dynamik und Klangfarbe; die vielfältigen Übergänge, die zwischen den Extremwerten vermitteln: Das alles schafft und entfaltet eine musikalische Welt, die sich doch jederzeit auf ihren Kern und Ursprung zurückführen lässt.
    Jörg Herchet: komposition 1,VI - Ausschnitt (Passacaglia, 2.Phase)
    Lydia Weißgerber, Orgel (Jehmlich-Orgel der Martin-Luther-Kirche, Dresden)
    Ist also Jörg Herchets Musik im mittelalterlichen Verständnis mimetisch? Oder - mit einer Formulierung von Paul Klee - hat er "teil am Erschaffen von Werken, die ein Gleichnis zum Werke Gottes sind"? Der Komponist formulierte es in einem Interview 2004 sehr viel bescheidener: Er stelle sich mit jeder Komposition neue Aufgaben, die ihn einen oder zwei Schritte weiterbrächten, ohne das bis dahin Erreichte beiseitezusetzen. Er arbeite an sich selbst, so sagte er damals, durchaus im Sinne einer religiösen Arbeit, in der er sich bemühe, Gott näher zu kommen.
    Die vorliegende Doppel-CD ist die dritte Veröffentlichung, die das Label "Querstand" dem Orgelwerk von Jörg Herchet widmet: Damit liegen nun fünf der acht Stücke von "komposition 1" vor, außerdem zwölf von insgesamt 43 Stücken der noch nicht abgeschlossenen "komposition 3 für orgel". Bei diesem Werk weicht Herchet von der gewohnt neutralen Benennung als "komposition", ohne weiteren Zusatz, ab, und gibt zusätzlich den Titel "NAMEN GOTTES". Ein Titel freilich, der nichts erklärt, ein "namenloser Name", wie die Organistin Lydia Weißgerber im Booklet treffend schreibt. Die zentrale Frage, die sich für den Komponisten daran knüpft, steht im Vorwort der Partitur:
    "Kann aber der unbegreifbare Gott nur mit dem Wort beschworen werden? Können nicht auch Farben, Töne Namen Gottes sein? 43 Namen Gottes enthält komposition 3 für Orgel. Nach einer apokryphen Überlieferung bedeutet die Zahl 43 geheim, verborgen. Aufgeteilt in 7 Hefte, von denen das mittlere ein einziges, sehr großes Stück, die anderen sechs kleinere und ein größeres in der mitte enthalten, ordnet sich das ganze symmetrisch. Doch bleibt die gesamte Komposition offen: Die jeweilige Beziehung der von einem Organisten getroffenen Auswahl einzelner Stücke ist, wie das vielfältige Beziehungsgeflecht des ganzen, nichts anderes als gleichfalls ein Namen Gottes."
    Zwei Eigenschaften unterscheiden die auf eine Gesamtspieldauer von rund acht Stunden angelegte komposition 3 von Jörg Herchets früheren Orgelwerken. Zum einen öffnete sich seine Musiksprache nach 1989 und integrierte eine Vielzahl neuer Elemente: Gregorianik, Pentatonik, Tonales, sogar Techno-Rhythmen. Ihm, der in der DDR relativ isoliert gelebt und komponiert hatte, öffneten sich nun auch musikalisch neue Welten. So stellte sich die Frage nach der Einheit in der Mannigfaltigkeit neu. "Wir leben in einer Zeit, in der so unerhört vieles nebeneinander existiert", stellte er im Interview 2004 fest: Ihm gehe es darum, dieses Nebeneinander aufzulösen und die Vielfalt der Formen und Gestalten aufeinander zu beziehen.
    Jörg Herchet: komposition 3, XXIV - Ausschnitt
    Lydia Weißgerber, Orgel (Jehmlich-Orgel der Martin-Luther-Kirche, Dresden)
    Die zweite Neuerung in Jörg Herchets "komposition 3" ist die Ordnung des Materials nicht nur mit Strukturakkorden, sondern anhand von sehr viel elementareren Eigenschaften: Linie bzw. Melos, Akkord, einzelner Ton und Cluster. Dabei interessiert ihn auch die hörpsychologische Frage: Wann schlägt für die Wahrnehmung das eine ins andere um? Ab wann wird, zum Beispiel, die Überlagerung von Einzeltönen als Zusammenklang, als Akkord wahrgenommen, wann als horizontale Linie, wann als verdichteter Cluster? Indem Herchet diese Grenzbereiche geradezu systematisch erforscht, entstehen neben großen, komplexen Strukturen auch Klangbilder von asketischer Kargheit.
    Jörg Herchet: komposition 3, VIII - Ausschnitt
    Reimund Böhmig, Orgel (Jehmlich-Orgel der Martin-Luther-Kirche, Dresden)
    Realisiert wurden die Aufnahmen in der Martin-Luther-Kirche in Dresden, auf einem großen Instrument der Orgelbaufirma Jehmlich, das demjenigen in der Dresdner Kreuzkirche klanglich nahekommt. In der Kreuzkirche hatte sich Jörg Herchet in den 1970er-Jahren, als Assistent des Organisten Christian Collum, mit der Orgel vertraut gemacht; es war dieses Instrument, das seine Klangvorstellungen nachhaltig prägte. Die Interpreten sind Reimund Böhmig und Lydia Weißgerber, beide dem Komponisten freundschaftlich verbunden und mit seinem Werk eng vertraut: Beste Voraussetzungen also für eine authentische Wiedergabe. Außerdem hat Lydia Weißgerber mit ihrer eigenen Komposition "Ut palma florebit" eine substantielle Hommage an Jörg Herchet beigesteuert: Ein Stück, das an seine Vorstellungen anknüpft, aber durchaus eigene Wege geht.
    Die zweite CD, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, hat Bernhard Haas auf der 2004 eingeweihten Orgel der Essener Philharmonie eingespielt, einem Instrument der Schweizer Orgelbaufirma Kuhn. Der Titel der CD wirkt zunächst befremdlich: "Der Strukturalismus in der Orgelmusik". Der Begriff ist hier aber nicht im strengen Sinne - also als sozialwissenschaftliche Methode - gebraucht. Bezogen auf die Orgelmusik umschreibt er Kompositionen, bei denen ein struktives Musikdenken vorwaltet. Anders formuliert: Es geht um Orgelmusik, die nicht von Klangwirkung und Tradition des Instrumentes ausgeht, sondern von zunächst abstrakten Strukturmodellen, die dann auf die Orgel angewandt werden.
    Den einen Extrempunkt stellt in diesem Programm das serielle Stück "Spiralen und Kulissen" von Bo Nilsson dar, komponiert 1956. Unerachtet der schon früh aufgetauchten Zweifel, ob Nilssons Musik tatsächlich seriell organisiert sei, ist das Stück in der traditionsverhafteten Orgellandschaft der 50er-Jahre ein Solitär.
    Tonumfang und Dynamik überschreiten die Möglichkeiten der angegebenen Registrierung, Rhythmik und Ereignisdichte erreichen Extremwerte. Das Stück behauptet die Dominanz des Strukturdenkens über das Praktisch-Instrumentelle, des Geistigen über das Materielle.
    Bo Nilsson: Spiralen und Kulissen, für Orgel (1956) - Ausschnitt
    Bernhard Haas, Orgel (Kuhn-Orgel der Philharmonie Essen)
    Der andere Extremwert ist Erik Oñas Komposition "Organos". Hier bleiben die Registriervorschriften im Bereich des Machbaren - jedoch ganz gegen die Tradition des Instrumentes. Es gibt keine Mischungen, keine Obertonregister - nichts soll die Reinheit der Intervalle stören. Bernhard Haas spricht von einer Fragestellung der Psychoakustik: " ... wie Klänge wirken, und insbesondere auch, wie die Klangfarbe die Wahrnehmung von Intervallen beeinflusst." Dem utopischen Überschuss bei Bo Nilsson steht also hier ein naturwissenschaftlich fundierter Ansatz gegenüber.
    Erik Oña: Organos (2010) - Ausschnitt
    Bernhard Haas, Orgel (Kuhn-Orgel der Philharmonie Essen)
    Die Kompositionen von Nilsson und Oña, entstanden 1956 und 2010, bilden zeitlich und ästhetisch die Extremwerte im Programm von Bernhard Haas. Vermittelnd dazwischen stehen Kompositionen, die schon im Titel einen Traditionsbezug andeuten: Die Partita von Heinz Holliger, ursprünglich für Klavier konzipiert, und Gilbert Amys "Quasi una tocata". Und schließlich noch die fesselnde Komposition "Stunden: Buch" von Robert H P Platz. Der Reichtum an Gesten und Figuren lässt sich wirkungsvoll nur realisieren bei sorgsamer räumlicher und farblicher Disposition. Klangfarbe wird hier zum strukturschaffenden Moment - interessanterweise ohne im Detail mit entsprechenden Registerangaben festgelegt zu sein. Lediglich genaue dynamische Angaben weisen dem Interpreten den Weg. Bernhard Haas, der als einer der wenigen international tätigen Konzertorganisten das ganze Spektrum zeitgenössischer Orgelmusik beherrscht, ist hier in seinem Element. Die Essener Orgel verfügt als sogenannte "Kompromissorgel" - oder vornehmer formuliert: als Universalorgel - über einen großen Fundus an klanglichen Möglichkeiten: Sie kommen in diesem Stück besonders vorteilhaft zur Geltung.
    Robert H P Platz: Stunden:Buch, für Orgel (1999) - Satz I (Ausschnitt)
    Bernhard Haas, Orgel (Kuhn-Orgel der Philharmonie Essen)
    CD-Infos:
    NAMEN GOTTES - Orgelwerke von Jörg Herchet und Lydia Weißgerber
    Lydia Weißgerber und Reimund Böhmig, Orgel
    Querstand VKJK 1613 ( 2 CD)
    LC 03722

    Der Strukturalismus in der Orgelmusik - Kompositionen von Bo Nilsson, Gilbert Amy, Heinz Holliger, Robert H P Platz und Erik Oña
    Bernhard Haas, Orgel (Kuhn-Orgel der Essener Philharmonie)
    edition zeitklang ez-58060
    LC: 00581