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Neue Wege aus der Langzeitarbeitlosigkeit
Die Selbstwirksamkeit wieder spüren

Allein in Nordrhein-Westfalen liegt die Zahl der Langzeitarbeitslosen bei rund 300.000. Die Stadt Gelsenkirchen steht dabei an der Spitze. Mit einem Modellversuch will man den Betroffenen helfen. Motivation, Fitnesskurse und Ernährungsberatung sollen ihnen neue Perspektiven eröffnen.

Von Moritz Küpper | 24.08.2017
    Logo der Bundesagentur für Arbeit mit Menschenmenge
    Gelsenkirchen will neue Wege aus der Langzeitarbeitslosigkeit finden: Neben Kursen in Fitnessstudios gehören dazu auch Exkursionen. (imago / Ralph Peters)
    Ein schlichter Übungsraum im Jobcenter Gelsenkirchen: Vier Frauen, vier Männer sitzen um einen Tisch, Jung und Alt, alles ist vertreten. Am Kopfende steht eine junge Frau, die als Coach fungiert. Es geht darum, was diese Menschen in ihrem Leben bereits gemacht haben – und ob das, eine Leistung ist. Wie beispielsweise beim Teilnehmer vorne links, einem älteren Herrn, …
    "… hat Erfahrungen im Bereich trainieren. Mannschaften trainieren, Fußballmannschaften trainieren und fragte sich jetzt gerade: Hm, ist das denn jetzt schon Fachwissen, was ich habe?"
    Zurückhaltung am Tisch. Wie er es denn selber sehen würde, fragt die junge Frau:
    "Ne, ich würde mir da nicht auf die Schulter klopfen. Sehe ich nicht so."
    "Wie sieht das denn die restliche Gruppe? Sind das Kenntnisse? Sind das Fachkenntnisse, wenn… Was waren das? Jugendliche im Alter von?"
    "Ja, fünf bis zwölf."
    "Fünf bis zwölf. Ist ja auch eine große Bandbreite. Ist jetzt wahrscheinlich auch nicht einfach, die so anzuleiten, zu motivieren."
    "Ich hab erst gar nicht den Ball gesehen… Man konnte nur erahnen, da muss der Ball sein. Und dann hat man versucht, ein bisschen Struktur reinzubringen."
    Auf seine Stärken besinnen
    Engagieren, organisieren, motivieren und Struktur reinbringen – die Runde taut langsam auf.
    "Sie konnten denen auch die Spielregeln vom Fußball beibringen, ne?"
    "Ja."
    "Und Sie haben dafür gesorgt, dass da eine Gruppe entstanden ist."
    "Kann man so sagen."
    "Frage in die Runde: Wer würde sich das sonst noch zutrauen? Würde sich das irgendjemand zutrauen so eine Fußballmannschaft aufzubauen?"
    Kopfschütteln. Zuspruch von den anderen: Ein Fußball-Training zu organisieren, das würde sich hier niemand zutrauen.
    "Die Arbeitsaufnahme steht jetzt nicht im Fokus, weil wir hier über Leute reden, die seit sehr, sehr vielen Jahren arbeitslos sind, teilweise zehn, zwanzig Jahre. Und die erst einmal wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt werden müssen. Da bringt es nichts über Arbeitsaufnahme zu sprechen, weil da die Probleme viel tiefgreifender sind und man jetzt erst einmal gucken muss: Wo steht der Kunde? Und wie kriegen wir die Probleme hin, dass überhaupt wieder an den Arbeitsmarkt gedacht werden kann."
    Susanne Kippermann ist Teil der Geschäftsführung des Jobcenters Gelsenkirchen. Gerade in der Ruhrgebietsstadt gibt es, um in ihrem Duktus zu bleiben, viele Kunden. Der Strukturwandel, weg von Kohle und Stahl, sorgt für eine bundesweite Spitzposition bei der Langzeitarbeitslosigkeit:
    "Wir haben das Problem, das hier bei uns fast jeder vierte von Hartz IV lebt. Wir sind eigentlich, sage ich jetzt mal, so ein bisschen gezwungen, neue Wege zu gehen, um den Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit anders zu begegnen."
    "ABC aktiv", so heißt das Programm, mit dem seit Mai letzten Jahres mal wieder ein Versuch gemacht wird – und das mittlerweile Gäste aus der ganzen Republik anzieht, die sich die Arbeit in Gelsenkirchen einmal anschauen wollen:
    "Wir haben hier eine ganze Reihe an Stellwänden, wo wir die aktuellen Stellenangebote ausgehangen haben, die auch noch nicht im Internet veröffentlicht sind."
    Motivieren und Mut machen
    Simon Mackschin, der Leiter des 18-köpfigen "ABC Aktiv"-Teams führt durch den Flur, wo – auch das, ein Vorteil des Programms – alle Ansprechpartner versammelt sind, kurze Wege seien wichtig, …
    "…gerade wenn es darum geht, mit den Kunden zusammenzuarbeiten, Richtung Arbeitsmarkt zu gehen, aber auch bestimmte Hemmnisse abzubauen. Da ist ein kurzer Draht unerlässlich."
    Mit 1 zu 100 ist der Betreuungsschlüssel für die Programmteilnehmer deutlich besser als normal, doch das ist nicht der Kern, der neuen Idee. Vielmehr geht es darum, nicht nur Arbeits-Angebote rauszusuchen, bei Bewerbungsunterlagen zu helfen oder Vorstellungsgespräche zu trainieren, sondern früher und ganzheitlicher anzusetzen:
    "Eben auch gesundheitsfördernde und Motivationsmodule. Sozial-integrative Module, wo wir den Kunden versuchen wieder zu motivieren, Mut zu machen. Die Situation ist ja bei vielen Langzeitarbeitslosen so, dass sie über Jahre Mut verloren haben, viele Dinge negativ sehen und dieses negative Feeling versuchen wir ihnen zu nehmen. Einfach, dass sie ihre Selbstwirksamkeit wieder spüren."
    Neben Kursen in Fitnessstudios gehören dazu auch Exkursionen, wie beispielsweise in das Bergbau-Museum in Bochum oder das Fußball-Museum in Dortmund:
    "Da geht es darum, auch Menschen aus der sozialen Isolation herauszuholen, sie wieder unter Leute zu bringen – in Anführungszeichen. Das Zusammensein in der Gruppe, man kann sich austauschen. Da geht es natürlich auch darum, dass man Erfahrungen austauscht, vielleicht sogar Freunde gewinnt."
    Mehrere hundert Arbeitsaufnahmen seit Beginn des Modellversuchs
    Fast 30 Module aus den verschiedenen Bereichen gibt es, die von Trägern und ihren Mitarbeitern angeboten werden. Die Integrationsfachkraft des Jobcenters macht die Betreuung. Auch bei der Zusammenstellung des Teams wurden neue Wege beschritten:
    "So haben wir quasi neun neue Mitarbeiter und neun erfahrene Kräfte quasi zusammengebracht. Bei den neu eingestellten Kräften sind unter anderem Ökotrophologen dabei, Fitnesstrainer und Theaterpädagogen."
    Seit Mai letzten Jahres läuft der Modellversuch, mehrere hundert Arbeitsaufnahmen der insgesamt 1500 Teilnehmer lassen sich verzeichnen. Hinsichtlich einer Bilanz ist man jedoch – auch aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit – in Gelsenkirchen vorsichtig, so Susanne Kippermann aus der Geschäftsführung:
    "Bei uns ist es ja schon ein Erfolg, wenn ein Kunde sagt: Ich habe Interesse an einer Qualifizierung."
    Denn schließlich sei es eine besondere Zielgruppe,…
    "… die wussten, die haben keinen Schulabschluss. Das haben sie schon nicht hingekriegt. Die letzten zehn Jahre haben sie sich erfolglos beworben. Jetzt kommen wir mit Weiterbildung. Das Thema Bildung macht Angst. Und den Kunden soweit zu helfen und zu unterstützen, dass dieses Thema keine Angst mehr macht, sondern Lust auf vielleicht Veränderung. Das ist für uns schon ein Erfolg. Auch haben wir schon einige Kunden in Arbeit integriert, wo wir aber sagen: Das ist nicht das Hauptziel. Weil: Das ist nicht der Kundenkreis mit dem wir uns beschäftigen, sonst wären sie nicht in dem Projekt."
    Der Weg ist das Ziel, heißt es oft. Beim Jobcenter in Gelsenkirchen ist das wortwörtlich so.