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Neuere Sozialgeschichte
Ungleichheit als Gefahr für die Gesellschaft

Wann wird soziale Ungleichheit zu einem Risiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Dies ist eine der zentralen Fragen der neueren sozialhistorischen Forschung. Eine Erkenntnis: Entscheidend ist nicht die materielle Ungleichheit, sondern Chancengleichheit, am öffentlichen Leben teilzunehmen.

Von Peter Leusch | 27.09.2018
    Bettelnder Obdachloser sitzt auf einem Bürgersteig, während Wiesnbesucher in Tracht achtlos an ihm vorbeigehen.
    Bei sozialer Ungleichheit geht es nicht nur um Einkommen, sondern auch um gesellschaftlichen Status (imago / Ralph Peters)
    "Wir kennen in Deutschland seit dem Kaiserreich drei Versorgungsklassen: Beamte, Angestellte und Arbeiter. Der Unterschied ist nicht einer des Einkommens, des Vermögens, sondern der verschiedenen Versorgung und der verschiedenen Beitragsformen für die eigene Alterssicherung, Krankheitsfälle und so weiter. Das sind soziale Versorgungsklassen."
    Mit dem Begriff Versorgungsklasse, so Lutz Raphael, Professor für Neuere und neueste Geschichte an der Universität Trier, sind also nicht Klassen im marxistischen Sinne gemeint, sondern Bevölkerungsgruppen, die in der staatlichen Sozialpolitik besser oder schlechter wegkommen. Den Begriff Versorgungsklasse verband der Soziologe Rainer Lepsius mit der These, dass der Sozialstaat nicht nur - seinem Anspruch gemäß - sozialer Ungleichheit entgegenwirkt, sondern auf der anderen Seite auch selber neue Ungleichheiten schafft. Hier knüpft die Historikerin Dr. Nicole Kramer von der Universität Frankfurt in ihrer aktuellen Forschung an. Frauen beispielsweise bilden im Rentensystem immer noch eine unterprivilegierte Versorgungsklasse.
    "Wir wissen, dass Altersarmut und Frauen nach wie vor ein großes Thema ist, und da kann man sehen: In dem Moment, wo versucht wird, Frauen auch politisch dazu zu drängen, sich Ansprüche auf eine eigene Rente zu erwerben, gibt es auf der anderen Seite das System, das auch schon relativ bald im Sozialstaat aufgebaut worden ist, dass nämlich die Hinterbliebenenrentenversorgung gekürzt wird."
    Die Korrekturen des Sozialstaats zugunsten der Frauen, beispielsweise Erziehungszeiten im Rentenanspruch anzurechnen, die in die richtige Richtung gehen, werden also konterkariert durch die parallele Reduzierung der Hinterbliebenenrente. Mit anderen Worten: Frauen, die sich auf das Allein-Verdiener-Modell eingelassen haben - also Mann erwerbstätig, Frau kümmert sich um Haushalt, Kindererziehung und Altenpflege - diese Frauen sind nun die neuen Verlierer.
    Ein weiteres Beispiel, so Nicole Kramer, wie Frauen insgesamt zu einer unterprivilegierten Versorgungsklasse wurden, liefern die Riester-Rente, und der Appell zur privaten Altersversorgung: "Wenn wir über die Riester-Rente sprechen und die Frage, wie der Drang private Rentenversicherung abzuschließen, vom Staat gepuscht wurde, dann muss man auch sehen: Frauen haben sehr viel schlechtere Bedingungen bei der privaten Rentenversicherung, weil eben ganz klar das Risiko gilt: Frauen werden älter, also müssen sie höhere Beiträge zahlen."
    Der Streit um die Mehrwertsteuer
    Dr. Marc Buggeln, Zeithistoriker an der Berliner Humboldt-Universität, forscht auf einem benachbarten Gebiet. Buggeln untersucht die Steuerpolitik und den Einfluss der großen Interessenverbände in der Bonner Republik. Wer wie viel Steuern zahlen muss, welche Gruppen belastet, welche begünstigt werden, darüber wird ständig gestritten, - hier herrscht ein Verteilungskampf in der Demokratie, eine Art moderner Klassenkampf: Hauptakteur auf der Unternehmensseite ist der Bundesverband der Deutschen Industrie und aufseiten der Arbeitnehmerschaft der Deutsche Gewerkschaftsbund.
    Doch die Fronten sind nicht immer so einfach und nicht immer stimmen die Rollenzuschreibungen. Marc Buggeln: "In der Forschung wird oft auf negative Beispiele des BDI hingewiesen, wo der BDI eigentlich eher versucht, Reformen zu verhindern, gerade bei Ökosteuern oder ähnlichen Dingen. Ich habe ein Beispiel herausgegriffen, wo der BDI ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine wichtige Reform durchgekommen ist. Es geht dabei um die Mehrwertsteuer, die in Deutschland sehr umstritten war, und wo viele industrielle Interessenverbände, insbesondere die Chemie und die Elektroindustrie gegen die Reform war, weil sie große Konzerne waren, die im alten Umsatzsteuersystem viele Vorteile hatten gegenüber mittelständischen Betrieben."
    Dennoch wird ein Ja zur Reform im BDI durchgesetzt, nicht zuletzt, weil der damalige Präsident den widersprechenden Industriesparten mit seinem Rücktritt drohte.
    "Heute ist die Mehrwertsteuer weltweit eine Erfolgssteuer könnte man sagen, die in über 120 Staaten der Welt angewandt wird und die gegenüber dem alten deutschen Umsatzsteuersystem sicherlich vorteilhaft ist."
    Die Mehrwertsteuer sorgte allerdings nur für besseren Wettbewerb unter den Unternehmen, für die Verbraucher bleibt sie als indirekte Steuer problematisch, weil die Mehrwertsteuer beim Kauf von Produkten und Dienstleistungen Arme und Reiche, Oben und Unten gleichermaßen belastet. Lutz Raphael: "Die Mehrwertsteuer ist eine klassische Verbrauchsteuer, die hinsichtlich der Thematik, Ungleichheit durch Steuern zu beseitigen, nichts bringt."
    DGB übernimmt in den 70ern Forderungen der FDP
    Interessant ist aber auch die Geschichte der anderen Interessenvertretung, nämlich des DGB in Sachen Steuerpolitik: "Ich habe stark herausgearbeitet, dass sich die Position des DGBs zur Steuerpolitik in der Geschichte der alten Bundesrepublik deutlich ändert, und das liegt daran, dass die Arbeiter in der frühen Bundesrepublik in 1950er Jahren praktisch keine Einkommensteuern zahlen. Da sind die Freigrenzen noch so hoch, und die Löhne noch so gering, dass nur sehr gut verdienende Arbeiter sehr geringe Einkommensteuern zahlen."
    Das ändert sich durch die Lohnzuwächse deutlich. In den 1970er Jahren sind große Teile der Facharbeiter schon in mittleren Steuerklassen angekommen, das heißt, sie gehören nicht mehr zur Arbeiterklasse, sondern in den Mittelstand. Daraufhin verändert der DGB seine Position in der Steuerpolitik.
    Marc Buggeln: "Während früher der DGB nur Steuersenkungen unten bei den Freigrenzen gefordert hat, nimmt er nun sehr stark auch steuerpolitischen Forderungen auf, wie "den Mittelstandsbauch abbauen", das ist eigentlich eine klassische FDP-Forderung, und die wird nun ab den 1970er Jahren auch für die SPD und für die Gewerkschaften interessant."
    Ansehensverluste spielen zentrale Rolle
    Das Wort vom Mittelstandbauch meint, dass die grafische Kurve der Steuerbelastung sich zuungunsten des Mittelstandes vorwölbt, also dass mittlere Einkommen überproportional geschröpft würden. Und als gut verdienende Facharbeiter in eben diesen Mittelstand aufgestiegen sind, revidiert der DGB als ihr Interessenvertreter seine Positionen in der Steuerpolitik. Das Beispiel zeigt, dass die alten Klassenbegriffe nicht mehr passen. Im Streit um eine Besser- oder Schlechterstellung, wenn es um Steuern und um soziale Transferleistungen wie Rente, Arbeitslosen- oder Kindergeld geht, zählen aber nicht nur Geldbeträge, sondern ebenso mit welchem Ansehensverlust sie verbunden sind.
    Lutz Raphael: "Das Drama des Wechsels aus der klassischen Arbeitslosenversicherung in die Sozialhilfe, dieser alte Sprung bedeutet natürlich eine Schlechterstellung vor allen Dingen, nicht nur monetär, sondern auch hinsichtlich des Status. Ich werde von einem, der aufgrund eigener Beitragszahlung in einem Solidarverband der Versicherten selber einen Beitrag bekommt in meiner misslichen Lage als Arbeitsloser - nun zu einem Sozialhilfeempfänger. Die ganze Dramatik von Hartz-IV-Gesetzgebung verstehen wir nicht, wenn wir nicht die dabei ablaufenden Prozesse der sozialen Aberkennung von Status mitbedenken."
    Ungleichheit als Gefahr für die Demokratie
    Die aktuelle Debatte um soziale Ungleichheit geht weiter, und brisant bleibt die Frage, zu welchen Spaltungen der Gesellschaft sie führen kann. Hier können die Geschichtswissenschaftler vor allem auf dem Feld der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit historischer Tiefenschärfe helfen. Anschließen können die Sozial- und Wirtschaftshistoriker vor allem an die Arbeiten des französischen Ökonomen Thomas Piketty, der in Langzeitstudien die Einkommens- und Vermögensungleichheit untersucht hat. Der Blick zurück in die Vergangenheit könnte das Urteilsvermögen für die Gefahren einer gespaltenen Gesellschaft heute schärfen:
    "Hinter diesen ganzen Debatten geht es darum herauszubekommen und auch zu zeigen: Wann wird Ungleichheit, in den Dimensionen Einkommen und Vermögen zu einem Risiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt - da gibt es typischerweise viele Hinweise aus der angelsächsischen Forschung, wenig Hinweise aus der deutschen Forschung. Und das zweite ist, wann wird es zu einem Risiko für Demokratie? Wann wird - mit den Worten des französischen Kollegen Pierre Rosanvallon - Ungleichheit zum Risiko für Beziehungsgleichheit? Was nicht meint Einkommens- oder Vermögensgleichheit. Beziehungsgleichheit heißt, auf gleicher Augenhöhe am politischen Gemeinwesen, am öffentlichen Leben zu partizipieren."