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Neuland
Rosetta erobert einen Kometen

Seit dem 6. August umkreist Rosetta den festen Kern eines Kometen. Es ist ein einmaliges Unterfangen, denn nie zuvor sind diese urtümlichen Brocken aus Eis, Staub und organischen Verbindungen aus der Nähe erforscht worden.

Von Karl Urban | 09.11.2014
    Fontänen aus Gas und Material sind im Gegenlicht zu sehen, wie sie den Kometen Tschurjumow-Gerasimenko verlassen.
    Aktivität des Kometen Tschurjumow-Gerasimenko am 10. September 2014 (ESA)
    Ein Gebilde aus grauem Kunststoff. Gerhard Schwehm schaut vergnügt, während er es in seiner Hand dreht.
    "So sieht der Komet aus. Er hat sehr viel Struktur. Wir sehen sehr viele Krater da drauf."
    Das Modell zeigt eine hoffnungslos zerklüftete Landschaft. Ein fünf Kilometer langer Körper aus Staub und Eis, ein dünner Hals und ein schmaler Kopf. Der Kern eines Kometen.
    "Ich war also sehr überrascht, als ich gesehen habe, welche Form der hat. Wir haben am Anfang gesehen: Er sieht aus wie eine kleine Badeente, da ein großer Kopf und dann der Körper dran ist."
    Fast 30 Jahre lang hat Gerhard Schwehm für Europas Raumfahrtagentur gearbeitet, um diese eine Raumsonde voranzubringen: sie zu planen, zu bauen, zu starten. 6,5 Milliarden Kilometer war Rosetta unterwegs, zu 67P Tschurjumow-Gerasimenko, und umkreist nun den festen Kern des Kometen. Jetzt soll Rosetta eine kleine mit Harpunen bestückte Sonde auf ihm absetzen. Es ist der erste Versuch überhaupt, auf einem Kometen zu landen.
    Zu sehen ist der Kometenkern, dessen Form entfernt an eine Badeente erinnert.
    Komet Tschurjumow-Gerasimenko in einer Gesamtansicht, die die Raumsonde Rosetta am 22. August 2014 machte. (ESA/Rosetta/MPS for OSIRIS Team MPS/UPD/LAM/IAA/SSO/INTA/UPM/DASP/IDA.)
    "Ich bin ziemlich sicher, dass es funktionieren wird. Aber es ist nicht einfach."
    Sonne, Mond und sechs Planeten - die alten Griechen kennen nur wenige Objekte im Sonnensystem. Sie wissen nicht von Uranus und Neptun, nicht von Zwergplaneten oder Asteroiden. Die Kometen jedoch kennen sie – ihr greller Schweif erhellt manchmal sogar den Taghimmel, erzählt Eberhard Grün vom MPI für Kernphysik in Heidelberg, einer der Väter der Rosetta-Mission.
    "Komet kommt aus dem Griechischen und heißt Haarstern. Er ist deshalb so benannt, weil er so ein diffuses Leuchten am Himmel und dann so einen Schweif hat."
    Zeitungsjunge: "Das Himmels-Monster: Viele fürchten, dass er Unheil anrichtet!" (The Salt Lake Herald Republican, 19. April 1910)
    Im Jahr 1868 richten Astronomen den kurz zuvor erfundenen Spektrografen auf verschiedene Kometen – und bestimmen zum ersten Mal deren chemische Zusammensetzung.
    Zeitungsjunge: "Giftiger Kometenschweif! Yerkes-Observatorium findet Blausäure im Spektrum von Halleys Komet!" (New York Times, 8. Februar 1910)
    Blausäure kann einen Menschen schon in kleinen Mengen umbringen. Als sich im Jahr 1910 mit Halley ein besonders heller Komet der Erde nähert, folgt eine globale Hysterie.
    Zeitungsjunge: "Komet wird alles auf der Erde vernichten!" (The Call, 8. Februar 1910)
    Die Erde aber fliegt unbeeindruckt durch das extrem dünne Gasgemisch. Ein Planet - und ein Komet. Zwei ungleiche Himmelskörper, die ihrer Wege gehen. Dabei teilen sie eine bewegte und folgenreiche Geschichte
    Zeugen aus der Urzeit des Sonnensystems
    Vor 4,5 Milliarden Jahren entwickelte sich in einer galaktischen Wolke die Sonne, umkreist von losen Brocken aus Eis und Staub. Einige stießen zusammen und wuchsen zu Planeten. Andere blieben - Kometen.
    "Kometen umkreisen die Sonne. Es sind Objekte, die sich in der Frühzeit des Sonnensystems geformt haben und die viel unberührtes Material enthalten. Zur Hälfte bestehen sie aus gefrorenem Wasser, zur Hälfte aus Staub mit ein paar organischen Verbindungen."
    An der University of Central Florida forscht der Planetologe Humberto Campins. Kometen sind ganz besonders, schwärmt er, denn sie öffnen den Blick weit zurück zu den Anfängen.
    "Wir nennen sie primitiv. Wären sie stärker erhitzt worden, würden sie heute nicht so voll von Wassereis sein. Das Eis zeigt uns: Kometen bildeten sich kalt und sie blieben kalt – für einen guten Teil der Geschichte des Sonnensystems."
    Kometen beschäftigen Campins aber noch aus einem anderen Grund: Sie speichern enorme Mengen des Wassers im Sonnensystem. Ihr Eis könnte erklären, warum die Erde von heute überhaupt Wasser besitzt.
    "Als die Erde sich bildete, war sie unglaublich heiß. Vermutlich hat sie dabei auch viel Wasser verloren – die Erdoberfläche bestand aus flüssigem Gestein! Da war kein Wasserozean, sondern ein Lavaozean."
    Wie kam die junge, ausgedörrte Erde zu neuen Wasservorräten? Am Observatorium der Côte d'Azur in Nizza hat Alessandro Morbidelli dafür ein Computermodell entwickelt. Es ist ein elegantes Szenario, bei dem Kometen eine Schlüsselrolle spielen. Die Kometen kreisten demnach anfangs in einem dichten Gürtel in Reichweite der Planetenbahnen. Dann aber gerieten die zwei massereichsten Planeten Jupiter und Saturn in eine orbitale Resonanz: Ein Sonnenumlauf von Saturn geschah in exakt der gleichen Zeit wie zwei Orbits von Jupiter.
    "They of course had to rearrange themselves because the planets disturb the small bodies as they migrate."
    Im Planetensystem entfalteten sich immense Störkräfte – besonders im Gürtel der leichten Kometenbrocken, die nun in alle Richtungen davonschossen. Und die Zeit des großen Bombardements begann.
    "Dieser Vorfall veränderte massiv die Struktur des Sonnensystem. Der Kuipergürtel und die Oortsche Wolke bildeten sich weit draußen. Hier sammelten sich am Ende die Kometen und vermischten sich mit den Asteroiden. Der Mond und andere Himmelskörper wurden heftig bombardiert"
    Zur Zeit des großen Bombardements trafen wohl etliche Kometen auch die Erde. Lieferten sie dabei Wasser? Bewiesen ist dies bis heute nicht.
    In den 1960er Jahren beginnt der junge Physiker Eberhard Grün, sich näher mit Kometen zu beschäftigen. Bis dahin haben Planetologen bereits grob verstanden, warum sie plötzlich einen Schweif ausbilden.
    "Er wird sichtbar, wenn er ins innere Sonnensystem kommt. Daraus ergab sich eben das Bild, dass dort Eis sublimiert – also verdampft – und Staub mitreißt. Das was man sieht mit bloßem Auge ist hauptsächlich der Staub."
    Begegnung mit Halley
    Was bis dahin niemand gesehen hat, ist der feste Kern eines Kometen. Es ist unmöglich, einen Kometenkern mit Teleskopen zu beobachten – dafür ist er zu klein. Und Kometen mit ihren ausgedehnten Bahnen mit Raumsonden zu erkunden, erscheint zunächst als zu anspruchsvoll. Das ändert sich erst 1986, als wiederum Halley der Erde sehr nahe kommt.
    "Das Rendezvous im All zwischen der europäischen Forschungssonde Giotto und dem geheimnisumwitterten Kometen Halley bezeichnen Wissenschaftler als das Jahrhundertereignis der Kometenforschung." (Tagesschau 14. März 1986)
    Künstlerische Darstellung der Begegnung der ESA-Raumsonde Giotto mit dem Kometen Halley am 14. März 1986
    Künstlerische Darstellung der Begegnung der ESA-Raumsonde Giotto mit dem Kometen Halley am 14. März 1986 (ESA)
    Eine Armada aus fünf Raumsonden nähert sich 1986 dem zurückgekehrten Halleyschen Kometen: zwei aus der Sowjetunion, zwei aus Japan und Giotto aus Europa. Giotto kommt am dichtesten an den festen Kern heran – und zahlt dafür einen Preis. Eberhard Grün betreibt damals selbst ein Instrument an Bord der Sonde, das zunächst immer mehr Kometenstaub nachweist.
    "Das wurde dann immer mehr, bis dann plötzlich das Bild stehen blieb. Und es ging nicht mehr weiter, so dass ich wusste: Jetzt war irgendetwas passiert, was so nicht vorgesehen war."
    Giotto ist während des rasanten Vorbeiflugs von einem Brocken in den Ausdünstungen des Halleyschen Kometen getroffen worden. Und gerät so stark ins Taumeln, dass der Kontakt zur Sonde abbricht. Ergebnis der bis dahin übertragenen Daten: Planetologen sehen erstmals den Kern eines Kometen. Der Schweif entsteht aus einzelnen Fontänen, die aus der Tiefe hervorbrechen. Der Boden selbst ist so dunkel wie Holzkohle und entsprechend sonnengewärmt, wodurch Eis wohl nur unter der Oberfläche bestehen kann. Wie das tief im Kometen isolierte Eis von der Sonne zum Verdampfen gebracht wird, ist unklar. Halleys Komet hinterlässt mehr offene Fragen, als er beantwortet. Deshalb diskutieren die Forscher schon bald über eine Sonde, die einen Kometen langfristig besuchen sollte, über Monate oder sogar Jahre: Rosetta.
    "Erst wollten wir ja Materie von einem Kometen in unsere Labors auf der Erde bringen. Das ist ja auch immer noch der große Traum, diese Sample Return-Mission für alle Himmelsobjekte."
    Als sich die US-Raumfahrtagentur NASA aus dem zuvor gemeinsamen Projekt zurückzieht, müssen die ersten Pläne eingedampft werden. Aus dem Flug zum Kometen samt einer Rückkehrkapsel wird ein neues Konzept, erinnert sich Gerhard Schwehm.
    "Dann haben wir gesagt, wenn wir keine Probe in unser Labor bringen können, bringen wir eben das Labor zum Kometen."
    Die Mission Rosetta wird eine Eckpfeiler-Mission der europäischen Raumfahrt, mit 1,3 Milliarden Euro bis heute eine der teuersten überhaupt. Die Forscher planen, den Kometenkern mit seiner kaum vorhandenen Anziehungskraft nicht nur zu umkreisen, sondern auch auf ihm zu landen.
    "We are into the final 60 seconds of this very ambitious Rosetta launch for Arianespace and the European Space Agency."
    Ausweichziel Tschurjumow-Gerasimenko
    Als Rosetta am 2. März 2004 startet, sind die ersten Konzepte schon fast 20 Jahre alt.
    "Trois, deux, un, top. Allumage Vulcain."
    Es gibt Rückschläge auf dem Weg, darunter Probleme mit der Trägerrakete Ariane 5, wodurch sich Rosettas Starttermin über ein Jahr verschiebt. Der zuvor anvisierte Komet Wirtanen, den Teleskope über ein Jahrzehnt lang vorbereitend beobachtet haben, ist nicht mehr erreichbar. Das neue Ziel: Komet 67P Tschurjumow-Gerasimenko.
    "Da muss man sich die Situation 2004 vergegenwärtigen."
    Hermann Böhnhardt, wissenschaftlicher Leiter der Landesonde Philae.
    "Als die ESA entschieden hat, zu dem anderen Kometen zu fliegen, war neben der Bahn eigentlich nichts von ihm bekannt. Und diese Informationen zu bekommen, braucht auch seine Zeit."
    Während Rosetta längst auf dem Weg ist, versuchen die größten Teleskope der Welt, mehr über 67P herauszufinden. Und zwei kleine Raumsonden der NASA liefern überraschende Erkenntnisse von weiteren Kometen.
    Am 4. Juli 2005 kollidiert ein 370 Kilogramm schweres Kupferprojektil mit dem Kometen Tempel-1, ausgesetzt von der NASA-Sonde Deep Impact. Die dabei aufgewirbelte Staubwolke erlaubt den ersten Blick unter die dunkle Oberfläche eines Kometenkerns. Ergebnis: Die oberste Kometenschicht besteht fast ausschließlich aus Staub und ist gerade so dicht wie Kork. Eis gibt es fast gar nicht. Das liegt offenbar noch viel tiefer als gedacht. Rosetta ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr unterwegs. Das Landesystem von Philae ist darauf ausgelegt, ebenso auf hartem Eis wie auf weichem Staub zu landen. Aber wenn der Boden von 67P am Ende zu weich ist?
    "Descent, we see it, 70 degrees aft!"
    Ein weiteres Jahr später landet die Rückkehrkapsel von Stardust wohlbehalten in den USA. Diese Raumsonde hatte erstmals Staubproben aus einer Koma gesammelt – die Zone um einen Kometen, in der sich Gas und Staub in einer extrem dünnen Atmosphäre sammeln. Die Partikel vom untersuchten Kometen Wild-2 werden in Laboren weltweit begutachtet.
    Künstlerische Darstellung der Begegnung von Stardust mit dem Kometen Wild-2
    Künstlerische Darstellung der Begegnung von Stardust mit dem Kometen Wild-2 (JPL/Nasa)
    Ergebnis: Neben Eis und Staub finden sich einzelne Mineralpartikel, die bei über 1000 Grad Celsius entstanden sind. Und: Glycin: eine Aminosäure, die im Stoffwechsel vieler Lebewesen eine Rolle spielt. Dieser Fund rüttelt auf, geht es dabei um eine fundamentale Frage: Die Frage nach dem Ursprung des Lebens, die auch die Landesonde Philae beschäftigen soll.
    Organische Chemie auf dem Kometen
    Das Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, ein nagelneues Gebäude auf dem Universitätscampus von Göttingen. Wissenschaftler aus dem Institut haben drei Instrumente von Rosetta und ihrem Lander entwickelt und warten jetzt auf erste Daten. Auch Fred Goesmann gehört zu ihnen. Fragt man ihn nach dem Ursprung des Lebens, blickt er verschwörerisch.
    "Gefährliche Frage: Wenn man allzu offen zugibt, nach außerirdischem Leben zu suchen, kommt man ganz schnell in sonderbare wissenschaftliche Gesellschaft."
    Und in sonderbarer Gesellschaft sieht sich Goesmann ungern. Sein Instrument auf Philae soll zwar organische Moleküle untersuchen, die aber im ungastlichen Urnebel um die junge Sonne wohl ohne biologische Hilfe entstanden sind. An seinem Instrument hat der Physiker und Ingenieur eigenhändig gelötet, geschweißt und geschraubt.
    Zu sehen ist die zerklüftete Oberfläche des Kometen mit Gasfontänen, die den Kern verlassen.
    Nahaufnahme vom 18.10.14 des Kometen Tschurjumow-Gerasimenko mit der Osiris-Kamera der Raumsonde Rosetta (ESA/Rosetta/MPS for OSIRIS Team MPS/UPD/LAM/IAA/SSO/INTA/UPM/DASP/IDA.)
    "Cometary Sampling and Composition Experiment. Wenn mich jemand aus der Hüfte fragt, sage ich: Es ist die Nase vom Rosetta-Lander."
    Im Schweif der Kometen haben Forscher bisher zwei Dutzend organische Verbindungen gefunden. Aber bei gut einem Drittel der extrem zahlreichen Spektrallinien wissen sie bis heute nicht, von welchen Stoffen sie stammen.
    "Die Kamera ist halt ein Auge. Oder die Füße haben ein Gefühl, elektrischer oder mechanischer Art. Und das Ding ist eben ein chemischer Sensor quasi, also unsere Nase."
    Die Aminosäure Glycin, die die Raumsonde Stardust aufsammelte: Fred Goesmann hat der Fund kaum überrascht.
    "Glycin: Was, Aminosäure? Na, das ist die simpelste, die es gibt! Man braucht ein Kohlenstoffatom , da pappt man eine Aminogruppe dran, eine Säuregruppe, noch zwei Wasserstoffe, fertig."
    Die Nase von Philae soll aber noch etwas Anderes erschnüffeln als die nächstkomplexeren organischen Molekülen: Sie soll Indizien liefern und belastbare Zusammenhänge herstellen bei der Frage nach unseren Ursprüngen. Stecken im Kometenstaub also genau die Verbindungen, die auch das Leben auf der Erde verwendet? Antworten liefert vielleicht eine besondere Eigenart organischer Moleküle: die sogenannte Chiralität oder Händigkeit, die links- und rechtsdrehenden Verbindungen.
    Goesmann: "Ich hab gerne das Beispiel: Es gibt Limonin. Da gibt es eine Variante, die riecht nach Zitrone. Und die andere riecht so ein bisschen fichtennadelig. Das heißt, unsere Nase kriegt das sehr wohl auseinander."
    Auch die Nase von Philae kann diese zwei verschiedenen Klassen organischer Moleküle auseinanderhalten. Beide sind chemisch völlig identisch, die gleichen Atome, gleiche Bindungen. Nur die Anordnung ihrer Kohlenstoffatome ist spiegelverkehrt. Das Leben auf der Erde verwendet überwiegend linksdrehende Moleküle. Und niemand versteht, warum. Wurden diese linksdrehenden Aminosäuren von Kometen zur Erde geliefert?
    Goesmann: "Warum nicht? Man kann sagen: Am Anfang war die Erde wahrscheinlich ein bisschen warm."
    Eine Untertreibung: Die junge Erde war bedeckt von Lavaozeanen.
    "Sehr viel Wasser wird da, als sie sich langsam darum bemühte, rund zu werden, nicht gewesen sein – und auch diese leicht flüchtigen kohlenstoffhaltigen Sachen wohl eher nicht."
    Kometenlander sucht Plätzchen
    Das heftige Bombardement der Kometen endete vor 3,8 Milliarden Jahren, also ganz knapp bevor das Leben entstand. Würde die Nase von Philae also tatsächlich vorwiegend jene linksdrehenden Moleküle finden, die Organismen verwenden – die Diskussion um den Ursprung des Lebens auf der Erde wäre einen Schritt weiter – vielleicht. Denn erst einmal muss Philae erfolgreich landen.
    "Ich bin da so ein bisschen zögerlich: Ich bin einfach ein altmodisches Huhn. Ich will erst ein Ei legen und dann werde ich gackern. Nicht erst gackern und dann am Ende kein Ei zu Wege bringen. Klar, das wäre das Großartigste, was passieren kann."
    Zu sehen ist eine Nahaufnahme des Kometenkerns von Tschurjumow-Gerasimenko, auf dem die ESA im August 2014 fünf Landeplätze markierte
    Die möglichen Landeplätze der ESA-Sonde Philae. Am Ende wurde es Platz J, der jetzt Agilkia heißt. (ESA/Rosetta/MPS for OSIRIS Team MPS/UPD/LAM/IAA/SSO/INTA/UPM/DASP/IDA.)
    Drei Etagen weiter unten führt Reinhard Roll in die großzügige Eingangshalle des Göttinger Max-Planck-Instituts. Hier steht ein originalgetreues Testmodell von Philae: groß wie eine Waschmaschine mit drei weit abgespreizten spinnenartigen Landebeinen. Reinhard Roll arbeitet seit 18 Jahren für Philae, seit 12 Jahren ist er Projektmanager des Landers. Er kennt nicht nur jede Schraube.
    "Die Landung besteht ja aus mehreren Teilen. Es geht los damit, dass sich der Lander vom Orbiter trennt."
    Der Ingenieur kennt auch die komplexe Choreografie des Landesystems, die um den 12. November ohne Fehltritte ablaufen soll.
    "Und dann muss das Landegestell entfaltet werden und das wird gemacht, wenn der ungefähr 50 Meter weg ist vom Orbiter."
    Philae sinkt dann völlig passiv mit Schrittgeschwindigkeit dem Boden entgegen, bis er sieben Stunden später möglichst sanft aufsetzt.
    "Man treibt, wenn der Lander aufsetzt, eine Spindel an, die einen Motor dreht, der als Generator geschaltet ist. Das heißt, dann wird diese mechanische Energie in elektrischen Strom umgesetzt, die dann in einem Widerstand in Wärme umgesetzt wird."
    Wenn der Lander nach dem Bodenkontakt noch unkontrolliert hin und her wackelt, muss er selbstständig handeln.
    "Damit das nicht passiert, haben wir jetzt noch zwei Harpunen an Bord. Die werden in diesem Moment, wo dieser Elektromotor die Dämpfung macht, geschossen, damit der Lander verankert ist und nicht wegkullern kann."
    Die Landung muss Philaes Bordcomputer zu jeder Zeit allein steuern: Ein Signal zur Erde braucht 30 Minuten – zu lange, um einzugreifen.
    "Bei diesem ganzen Vorgang wird auf dem Oberteil des Landers auch noch eine Düse nach oben Gas wegblasen, die den dann auch noch ein bisschen am Boden hält."
    Die Frage ist allerdings, auf welchem Material Philae niedergehen wird. Bis zum Start fürchteten sich die Konstrukteure des Landesystems vor einer steinharten Eisoberfläche, von der die Sonde einfach abprallt und zurück ins All geschleudert wird. Dann kamen die Ergebnisse der Sonde Deep Impact.
    "Es gibt Versuche in Labors und auch Modellrechnungen, die auf eine Kruste hinweisen."
    Künstlerische Darstellung des Moments, in dem der Lander Philae auf dem Kometen Tschurjumow-Gerasimenko landet.
    Künstlerische Darstellung des Moments, in dem der Lander Philae auf dem Kometen Tschurjumow-Gerasimenko landet. (ESA/ATG medialab)
    Der wissenschaftliche Leiter des Philae-Landers bleibt naturgemäß lieber optimistisch.
    "Es gibt natürlich auch Deep Impact-Resultate, die sagen, es ist ein sehr loses Material, die also eher Richtung Pulverschnee oder noch weicher deuten. Diese Aussage von Deep Impact trifft global auf das Material zu aber nicht unbedingt lokal. Es kann lokal eine Kruste vorhanden sein und darunter ein sehr lockeres Material."
    Schroffe Landschaft
    Vielleicht ist es Zweckoptimismus: Wie weich die Oberfläche ist, lässt sich durch Teleskope und Kameras nicht feststellen. Zumindest über die Landschaft des Kometen diskutieren die Planetologen aber schon vor der Landung.
    "Well, this is a very, very emotional moment."
    Der 6. August 2014: Holger Sierks hält einen Laptop in die Höhe. Der Planetenforscher leitet das Team von OSIRIS, der wissenschaftlichen Kamera an Bord von Rosetta.
    "From the imagery I can confirm: We arrived."
    Das Bild zeigt eine graue Landschaft: steile Abhänge und Einschlagskrater. Das Bild ist erst wenige Stunden alt, aufgenommen aus nur 130 Kilometern Entfernung. Der Kometenkern ähnelt Asteroiden oder den Monden des Mars – und scheint doch aus dem Rahmen zu fallen. Eine so schroffe Landschaft hat Gerhard Schwehm nicht erwartet.
    "Wenn man Wild-2 anguckt, wo die Amerikaner mit Stardust vorbei geflogen sind, dann sieht man viele Krater. Bei Tempel-1, wo die Deep Impact-Mission war, da kam dann dieses Konzept auf, dass man Layered Structures hat, also dass da verschiedene Lagen übereinander liegen. Einfach ausgedrückt: Wenn man dünne Pfannkuchen hat und die übereinander stapelt, bevor man sie auf den Tisch bringt, dann sind das die verschiedenen Lagen, die man hat."
    Krater mit steilen Hängen, übereinander gelagerte Schichten aus Kometenmaterial, deren Seitenkanten ebenfalls eine schroffe Landschaft formen: Offenbar gibt es eine ereignisreiche Geschichte, die dieser Komet erzählen kann. Darüber, wie sich vielleicht vor Jahrmilliarden Schicht um Schicht aus dem Urnebel auf seiner Oberfläche ablagerte. Eine erste Dichtemessung von Tschurjumow-Gerasimenko ergibt, dass der zu über zwei Dritteln aus - nichts besteht: 70 Prozent des Materials ist leerer Porenraum, umgeben von Eis und Staub mit viel organischem Material. Vor allem das schroffe Terrain beunruhigt die Planetologen.
    Zwar entscheidet das Team gut zwei Wochen nach der Ankunft, dass fünf Orte auf dem Kometen für eine Landung in Frage kommen. Drei Wochen später steht auch der Favorit fest. Eine Region am Kopf des entenförmigen Körpers, in der es vergleichsweise wenig gefährliche Abhänge gibt, an denen der Lander umkippen oder sich gar überschlagen könnte. Aber keine der denkbaren Landestellen erscheint so sicher wie erhofft. Die anvisierte Ellipse für die Landung ist rund einen Kilometer groß, die Landung weit ungenauer als geplant. Ob Philae am Ende auf einer ebenen Fläche oder auf Geröll aufkommt, ist eine Frage des Glücks. Deshalb wiegeln die Forscher ab – der Lander sei nicht der wichtigste Teil der Mission und koste nur einen Bruchteil davon.
    Eberhard Grün: "Beim Lander hoffen wir, dass der funktioniert. Aber es war klar, dass der wirklich einen Kamikazeaspekt hat. Man hat es sich so gut überlegt, wie man konnte, wie man den absetzen kann. Aber dass der dann wirklich sicher und fest landet und nicht auf die Seite fällt: Dass die Systeme nicht mehr funktionieren oder die Solarzellen nicht mehr gut funktionieren, der Sender nicht mehr funktioniert, das kann passieren."
    Eine Spitze des Kometenkerns ragt im grellen Licht der Sonne ins Bild. Die beleuchteten Flächen zeigen die zerklüftete Oberfläche, die schattigen Flächen liegen im nachtschwarzen Dunkel.
    Nahaufnahme vom 02.11.14 des Kometen Tschurjumow-Gerasimenko mit der Osiris-Kamera der Raumsonde Rosetta (ESA/Rosetta/MPS for OSIRIS Team MPS/UPD/LAM/IAA/SSO/INTA/UPM/DASP/IDA.)
    Die Laborinstrumente von Philae seien lediglich eine nette Ergänzung zu Rosetta, beteuert Ekkehard Kührt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, das den Lander gemeinsam mit Frankreichs Raumfahrtagentur entwickelt hat.
    "Man muss auch sagen, die Haupterkenntnisse für die Kometenforschung – aus meiner Sicht – werden aus den zehn Orbiterinstrumenten kommen. Denn Philae kann nur einen ganz begrenzten Landeplatz untersuchen. Das sind ein paar Quadratmeter. Aber durch die Orbitführung – Rosetta wird den Kometen ja umkreisen – wird man eine komplette Abdeckung erreichen können mit allen Instrumenten."
    Wenn Philae zerschellen sollte, zieht die Muttersonde Rosetta also alleine ihre Kreise um Tschurjumow-Gerasimenko und beobachtet, wie der Komet im Laufe eines Jahres immer aktiver wird. Dabei ist selbst die geplante eineinhalbjährige Arbeit von Rosetta längst nicht gesichert. Ihre 32 Meter langen Solarzellen wirken gegenüber auftreffendem Gas und Staub wie Segel, was ihre Triebwerke noch ausgleichen können. Der Staub birgt aber noch mehr Gefahren.
    Kührt: "Selbst wenn der sich dem Raumschiff sehr sanft nähert, kann der doch eine Menge Schaden anrichten, die Solarzellen blind machen oder die Objektive von Instrumenten schädigen, einfach indem sich eine Staubschicht darauf legt."
    Und dann gibt es da noch die größeren Staubteilchen, die vor 18 Jahren die Raumsonde Giotto ins Taumeln brachten und ihre wissenschaftliche Arbeit jäh beendeten. Zwar ist Rosetta relativ zum Kometen fast in Ruhe: Doch die Sonde muss den Teilchenregen ertragen, der als Schweif aus der Oberfläche hervorschießt.
    "Der Staub bewegt sich mit etwa 100 Metern pro Sekunde in einem Jet. Das ist immerhin auch Formel-1-Niveau, würde ich sagen, aber ist doch nicht vergleichbar mit dem, was wir bei Giotto hatten."
    Es ist ein Wagnis, das sich trotzdem lohnen könnte. Weit draußen kreisen noch heute Milliarden Kometen, von denen nur selten einer in unsere Nähe kommt. Und auf Tschurjumow-Gerasimenko warten vielleicht weit mehr Geheimnisse über unseren Ursprung, als wir heute annehmen. Das sei das Schöne an solchen Erkundungen – schwärmt der Planetologe Humberto Campins.
    "That is one of the beauties of exploration. You go there with a number of questions that you know to answer plus nature will usually give you some wonderful surprises."
    Gerhard Schwehm schaut noch einmal auf das graue Modell in seiner Hand. Wie eine Bade-Ente sieht der Kometenkern aus der Nähe betrachtet gar nicht mehr aus. Es ist Neuland. Ein Komet, der wohl voller Antworten steckt. Aber werden es die Antworten auf unsere Fragen sein? Gerhard Schwehm antwortet ohne zu zögern.
    "Es ist ein großes Puzzlespiel und wir versuchen immer noch, die Teilchen hinzubringen. Nach der Mission wissen wir wahrscheinlich wieder viel mehr. Aber das Puzzle ist dann von einem 500-Teile-Puzzle zu einem 1000-Teile-Puzzle angewachsen. Das gehört bei der Wissenschaft dazu."