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Neutral-Moresnet
Geografisches Kuriosum am Dreiländereck

100 Jahre lang war Neutral-Moresnet ein Kuriosum europäischer Geschichte. Die geografische Winzigkeit von gerade einmal 3,4 Quadratkilometern Fläche, die heute zu Belgien gehört und am Dreiländereck zu Deutschland und den Niederlanden liegt, wurde 1815 bei der Neugliederung Europas zum Zankapfel - und schließlich für 100 Jahre zum neutralen Gebiet.

Von Alfried Schmitz | 05.07.2015
    "Kommen Sie rein. Ich muss erst mal was Platz machen. Nehmen Sie Platz." Firmin Pauquet ist ein rüstiger Rentner von 86 Jahren. Adrett gekleidet. Anzug, Hemd, schicke Krawatte. Auf dem alten Sofa ist kaum Platz für uns beide. Ein Stapel Akten zwingt uns dazu, ganz dicht nebeneinander zu sitzen. Wir befinden uns in einem Studierzimmer. Um uns herum auf Tischen, Stühlen und auf dem Boden überall verstreut Bücher, Schriften, wichtige Korrespondenz. Der ehemalige Geografie-Lehrer und Politiker ist mit Haut und Haaren Heimatforscher und Hobby-Historiker. Die Geschichte von Neutral-Moresnet ist sein großes Steckenpferd. An den Wänden sieht man alte Stiche und Landkarten. Sie zeigen den Ort Kelmis und die Gruben, in denen schon vor Hunderten von Jahren Erz und Galmei abgebaut wurde.
    "Das war seit dem, sagen Sie mal, mindestens 13. Jahrhundert, die erste Erwähnung der Ortschaft ist 1280. Und die Ortschaft heißt Kelmis. Keleme, Calamine, Galmei wurde mit dem roten Kupfer gemischt und dem gelben Kupfer. Der gelbe Kupfer war viel mehr wert, weil er täuschte, dass man Gold sah. Er war goldig. Und das war die größte und wichtigste Galmeigrube in ganz, mindestens Westeuropa. "
    Ganz klar, dass zwei aufstrebende Industrieländer, wie die Niederlande und Preußen, über den lukrativen Galmei-Abbau in Streit gerieten. Um das Tortenstück von 344 Hektar Größe mit seinen 256 Einwohnern und seinen rund 50 Häusern verwalten zu können, setzten beide Parteien Königliche Kommissare ein. Unterstützt wurden sie von einem Maire aus napoleonischer Zeit, von Arnauld de Lassaulx. Er durfte das 1802 an ihn übertragene Bürgermeisteramt bis 1859 ausüben.
    Boom durch Galmei-Abbau
    Im September 1830 lehnte sich die überwiegend katholische Bevölkerung der niederländischen Südprovinzen auf. Die Katholiken fühlten sich von den nordniederländischen Protestanten unterdrückt und benachteiligt. Besonders in Brüssel kam es zu heftigen Gefechten zwischen Regierungstruppen und Freikorps, die für ein unabhängiges Belgien kämpften und schließlich gewannen. Doch auch die Revolution und die Gründung des Staates Belgien, änderten am staatsrechtlichen Schwebezustand von Neutral-Moresnet, das nun von Belgisch-Moresnet auf der einen und Preußisch-Moresnet auf der anderen Seite eingerahmt wurde, nichts. Und doch brach für den neutralen Zipfel eine aufregende Zeit an, wie Firmin Pauquet sagt. "Das alte Zentrum war die Rochuskapelle, die war auf preußischem Gebiet. Das war das Zentrum, das alte Zentrum. Und als die Gesellschaft der Vieille Montagne 1837 gegründet wurde, die haben natürlich dann Leute gerufen, Arbeiter zu werden. Und da hat sich um die Grube herum, nordwestlich der Grube entwickelt, was jetzt der Kern ist."
    Der Galmei-Abbau durch die Bergbaugesellschaft Vieille Montagne sorgte für einen wahren Wirtschaftsboom in Neutral-Moresnet. Die steuerlichen Einnahmen wurden zwischen der belgischen und preußischen Verwaltung geteilt. Mit damals modernster Technik wurde das Galmei-Erz im Tagebau gefördert. Firmin Pauquet bewahrt einige Klumpen in einem Vitrinen-Schrank auf. "Das ist alles Galmei. Sehen Sie. Mit Kristallen. Galmei bestand aus drei verschiedenen Mineralien. Zink-Carbonat, Zink-Carbonat mit Wasser und Silikat. "
    Neben Muskelkraft wurden zur Galmei-Förderung Wasserräder und später Dampfmaschinen eingesetzt. Die Hauptgrube war bis zu 65 Meter tief. Drumherum entstanden Waschhallen, in denen das Galmei-Erz vom Schlamm befreit und gereinigt wurde. Verwaltungsgebäude, Wohnhäuser für die Arbeiter und eine Bahnlinie zum Abtransport wurden gebaut. 1857 war Neutral-Moresnet auf 304 Häuser angewachsen. Die Einwohnerzahl hatte sich auf 2.572 Menschen verzehnfacht. Um 1880 waren es sogar schon 4.000 Menschen.
    Die Idee vom Esperanto-Staat setzte sich nicht durch
    "Man hat natürlich Neutral-Moresnet in gewissen Schriften in der Vorkriegszeit, vor 14/18 und in den 20er Jahren noch, verglichen mit Monaco, mit Andorra und mit San Marino, aber das waren kleine Staaten, Neutral-Moresnet war kein Staat." Sondern eben nur ein Stückchen Land, zwischen den beiden Königreichen Belgien und Preußen, das von beiden beansprucht, aber von keinem besessen wurde. Und doch gab es Menschen, die von einem Freien Staat Neutral-Moresnet träumten. Eine eigene Währung sollte her und eigene Briefmarken. Für beides gab es Prototypen, aber verwirklicht wurde dieser Traum nicht.
    Aber da war noch ein anderer Traum. "Dr. Molly, der war ein Esperantist. Er war als Arzt sehr gut angesehen. Der war engagiert bei der Vieille Montagne, um die Arbeiter zu pflegen. Vor allem das französische Gesetz sah vor, dass die Grubenarbeiter, besser als alle anderen Arbeiter, gepflegt werden mussten."
    Die Bergbaugesellschaft Vieille Montagne hatte Gruben-Arbeiter aus aller Herren Länder nach Neutral-Moresnet gelockt. Vielleicht brachte diese vielsprachige Multi-Kulti-Truppe Wilhelm Molly auf die Idee, Neutral-Moresnet zum Esperanto-Staat zu machen. Ein Wappen und einen Namen für seinen Esperanto-Staat hatte er auch schon parat: Amikejo - Ort der Freunde sollte er heißen. Und es gab jede Menge Anhänger dieser Idee. Auf einer alten Postkarte ließ sich um 1908 die vielköpfige Esperantista Grupo de Amikejo Neutra Moresneta ablichten. Ein Stammlokal hatten sie auch, das Esperanta Gasttablo. Und einen eigenen Marsch, der damals extra komponiert worden war.
    Die Idee vom Esperanto-Staat konnte sich nicht durchsetzen, aber im ehemaligen Neutral-Moresnet gibt es auch heute noch einige Esperantisten, die regelmäßig zusammenkommen und auch internationale Treffen organisieren. Es gibt viele Leute aus nah und fern, die sich für den Esperanto-Ort Amikejo interessieren. Fündig werden sie vor allem im Kelmiser Museum, das natürlich einiges über die Esperanto-Bewegung von Neutral-Moresnet zusammengetragen hat.
    Zink auf den Dächern von Paris
    Dort im Museum wartet schon ein anderer "Neutralist" auf mich. Wie Firmin Pauquet ist auch der ehemalige Polizist Iwan Jungbluth Heimatforscher und widmet sich mit Inbrunst der spannenden Geschichte von Neutral-Moresnet. 2012 hat er nach viel Recherchearbeit das Buch "Der Bärrech - die Neutralität - der Schmuggel" herausgebracht. Das mundartliche "Bärrech" im Buchtitel bezieht sich auf die preußische Bezeichnung "Altenberg", der deutschen Übersetzung von Vieille Montagne. Iwan Jungbluth zeigt mir Gießkannen und Töpfe, die ihren Ursprung in der Galmei-Grube von Neutral-Moresnet haben. "Das ist verzinkt alles hier und das ist Zink hier. Das ist reiner Zink hier. Und das ist ein neuer Werkstoff entstanden damals, der bis dahin unbekannt war. Und das war ein ganz neues Verfahren. Und heute in Paris sind die überwiegenden Dächer, Zinkdächer. "
    Wer hätte das gedacht? Zink aus dem kleinen Neutral-Moresnet auf den Dächern der Weltstadt Paris. Doch auch der neutrale Flecken zwischen Belgien und Preußen gab sich durchaus kosmopolitisch. Und zwar in Sachen Verkehrsanbindung.
    "So hatten wir auf den kleinen Distanzen drei Bahnhöfe. Internationale Bahnhöfe. Und zwar Hergenrath an der großen Linie, die von Lüttich nach Deutschland führte. Dann hatte man einen Sackbahnhof, der auch neutralen Charakter hatte, der einige hundert Meter über neutrales Gebiet ging. Und Sie hatten noch einmal einen Bahnhof Richtung Moresnet, wo Sie die Strecke von Aachen-Tongeren hatten. Die hatte auch einen separaten Bahnhof. Und das auf die paar Quadratmeter." Doch auf den paar Quadratmetern von Neutral-Moresnet herrschte nicht nur reger Zugverkehr.
    Nach Feierabend tobte der Bär
    Das Gebiet genoss Zollfreiheit für den Import von Waren aus Belgien und Preußen. Für den Export musste allerdings Zoll entrichtet werden, was zum einen oder anderen illegalen Grenzübertritt führte. Bei Nacht, von einer Straßenseite zur anderen oder auch unter der Straße her. Durch einen Abwasserkanal.
    Doch der kleine Grenzverkehr funktionierte auch in einer anderen Beziehung ganz gut, denn in Sachen "Fun-Faktor" hatte Neutral-Moresnet einiges zu bieten - nach Feierabend tobte dort der Bär.
    Um die vielen Arbeiter bei Laune zu halten, förderte die Bergbaugesellschaft Vieille Montagne das gesellige Miteinander nach Dienst. Es entstanden Chöre und Bergmanns-Kapellen, nicht weniger als sieben Schützenvereine, ein Anglerverein und verschiedene Karnevalsvereine. Auch die Kneipendichte war enorm. Und damit bei all der Feierei in Neutral-Moresnet nichts an- und abbrannte, stand die freiwillige Grubenfeuerwehr der Vieille Montagne Schlauch bei Fuß. Unterstützung kam im Notfall auch von den wackeren Wehrleuten in Preußisch-Moresnet. Und wenn es mal etwas lauter wurde oder sogar die Fäuste flogen, schritt entweder die Gendarmerie aus Belgisch-Moresnet ein oder die preußische Pickelhauben-Polizei. Auf den paar Quadratmetern hatte alles seine Ordnung. Nur mit der Uhrzeit gab es so einige Probleme.
    Ein Ort mit drei Zeiten
    "Die hatten selbst zwischen den beiden Orten Neutral-Moresnet und Preußisch-Moresnet eine Stunde Zeitunterschied. Und zur holländischen Zeit waren es noch einmal zwanzig Minuten Zeitunterschied. Es gab in dem kleinen Dreiländereck, drei verschiedenen Zeiten. Also, verrückt war das."
    Ein paar hundert Meter vom Museum entfernt will mir Geschichtsforscher Iwan Jungbluth noch etwas zeigen. Ein steinernes Relikt aus der Zeit, als in Neutral-Moresnet noch Galmei gefördert wurde. Ein imposanter Backsteinbau mit wunderschöner Innentreppe. Das Entree könnte zu einer hochherrschaftlichen Villa gehört haben. Es war der Sitz der Grubendirektion. An einer der Wände ein altes Foto. Es zeigt das Direktionsgebäude mit seinem markanten Dach aus Zinkplatten. Und mit einer riesigen Fassaden-Uhr. "Und auf der Uhr, wie man das damals erzählte, wurden drei verschiedenen Uhrzeiten angezeigt, die in der Ecke hier gebraucht wurden."
    Direkt an das große Direktionsgebäude schmiegt sich auch noch der ehemalige kleine Güter-Bahnhof. Keinen Steinwurf von hier, lag die heute zugeschüttete Grube, in der Galmei gefördert und von hier über die Schiene abtransportiert wurde. Hier stehen auch noch einige Ruinen von einstigen Brennöfen. Aus den ehemaligen Abraumhalden sind zum Teil begehbare Aussichtsplattformen geworden, auf denen eine einzigartige Flora gedeiht. Vor allem das gelbe Galmeiveilchen fühlt sich auf dem zinkhaltigen Boden wohl.
    "Und hier vorne haben Sie noch einen Grenzstein stehen. Das ist die äußerste Grenze von Neutral-Moresnet. Also es sind unheimlich viele Sachen, die aus dieser Zeit noch übriggeblieben sind. "