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Nicht nur das Feuer

Was ist die Wahrheit über die Ehe von Ruth und Samuel? Die demütigenden Rituale mit denen sie sich mehr als zwei Jahrzehnte lang das Leben schwer gemacht haben? Die Beschimpfungen, die Verachtung, der Selbstbetrug? Oder doch jenes Fünkchen Hoffnung, von dem zumindest Samuel nicht lassen kann, obwohl er überhaupt nicht mehr den strahlenden Studentenführer erinnert, dem seine Frau Mitte, Ende der Siebziger Jahre verfallen ist -- und obwohl auch Ruth ihrerseits nicht mehr jene imponierende GestaltErscheinung ist, die er dann bald geheiratet hat.

Michael Schmitt |
    Wenn er sie -- zwanzig Jahre später -- betrachtet, dann sieht er nur mehr eine ewig unzufriedene Nörglerin; wenn sie ihn mustert, dann registriert sie ein armes Würstchen, ein pedantisches Männchen mit Hundeblick, das zwar eine anständige Karriere gemacht hat, aber so wirkt, wie einer, dem ein paar neue Schuhe gut tun würden.

    Also betrügt sie ihn mit einem grobschlächtigen, geilen Arbeitskollegen, und er verfolgt eine unbekannte Frau auf ihrem Weg nach Hause. Über der Stadt gehen derweil Unwetter nieder, und im Radio gibt es laufend Berichte über einen Kometen, der der Erde so nahe kommen soll, dass er nicht nur ein Himmelsschauspiel verspricht, sondern auch eine kleine Gärung apokalyptischer Ängste hervorruft.

    Aber die Naturgewalten sind eins, und die menschlichen Wege sind etwas anderes. Benjamin Prados Roman Nicht nur das Feuer , der von drei, wenn man es genau nimmt, sogar von vier Generationen spanischer Geschichte im Zwanzigsten Jahrhundert erzählt, scheut zwar vor schrilleren Akzenten und auch vor einem gewissen Pathos nicht zurück. Das gilt für den symbolischen und realen Umgang mit den Kräften der Natur genauso wie für die gelegentlich etwas zu deutlich ausformulierte melancholische Tonart des Buches. Aber wenn man den Roman als Ganzes betrachtet, dann treten diese Einzelheiten zurück, ordnen sich teilweise komisch, teilweise tragisch zu einem breiten Spektrum verblichener Hoffnungen.

    Samuel und Ruth sind die Vertreter der mittleren Generation dieser Familie und eigentlich in den besten Jahren. Mit ihnen gemeinsam in der gleichen Wohnung lebt Großvater Truman, der während des Spanischen Bürgerkrieges als junger Mensch zu seinem Schutz außer Landes geschafft worden ist. Er muss sich nach der Rückkehr in den Vierziger Jahren in einer Gesellschaft einrichten, die in todesähnliche Starre gefallen ist, weil niemand -- nicht die Roten und nicht die Schwarzen -- ohne Schuld geblieben ist, wo also auch niemand dem anderen jemals gerade in die Augen schauen kann.

    Truman ist ein Melancholiker, verbittert und weise, der gerne von seinen Erfahrungen in Südamerika und in Mexiko erzählt, von seiner großen Liebe und von seiner wirklichen Ehe. Oder davon, wie seine Eltern sich nach 1939 durchgeschlagen haben, weil der Vater als ehemaliger Republikaner nicht mehr bei der Eisenbahn arbeiten durfte; wie dieser Vater aber auch von der Falange vor dem Tod durch Erschießen bewahrt worden ist – und wie er anschließend die Familie durch illegale kleine Geschäfte mit den Nazis ernährt hat.

    Der Roman ist randvoll von solchen zweideutigen Episoden -- aber nur der Großvater ist alt und abgeklärt genug, um seine eigene Lebensgeschichte schon verstehen und weiterreichen zu können. Er geht damit allen ein wenig auf die Nerven -- nur sein Enkel Maceo hört ihm zu, der mit elf oder zwölf Jahre schon einsam und wunderlich geworden ist, nachdem ihn bei einem Gewitter der Blitz getroffen hat.

    Maceo ist neugierig und verträumt, er ahnt manches von dem, was in der Seele seines Großvaters vorgeht, wenn der einmal mehr erzählt, wie es dazu kommt, dass alles zwei Seiten hat, und dass jede Handlung und jede Einsicht zugleich wahr und falsch sein kann. Für den Jungen ist schwer nachvollziehbar – für den Leser aber ist gerade das der Schlüssel zum Roman. Es ist der Grund, warum die Hoffnung der Protagonisten niemals stirbt und warum sie alle, jeder auf seine Art, fast immer so handeln, dass ihr Schmerz dauerhaft in ihren Seelen verankert bleibt, so als würden sie es gar nicht anders haben wollen.

    Verse von Vicente Aleixandre stehen am Beginn des Romans, ein Gedicht von Neruda hat dem Buch den Titel geliehen. Benjamin Prado, geboren 1961, verflicht die Schicksale seiner Figuren in einem lockeren Gewebe aus wechselnder Perspektiven, aus Vor- und Rückblenden. Er verknüpft sie zu einer Kette von immer neuen Enttäuschungen, die niemals nur individuelles Versagen und auch nie nur Auswuchs der "Verhältnisse" sind.

    Prado weist keine Schuld zu. Niemandem, in keiner Epoche. Er beschreibt, wie verheerend der Bürgerkrieg gewesen ist, ohne die Überlebenden beider Seiten in Gute und Böse einzuteilen. Er weiß, welche Illusionen mit dem Aufbruch nach Francos Tod einhergegangen sind, und wie schnell die Gesellschaft zu einer glanzlosen und frustrierenden Normalität nach westlichem Muster übergegangen ist.

    Und nicht zuletzt erzählt er auch, wie heimatlos eine jüngere Generationen sich fühlen muss, die im Schatten dieser Geschichte aufgewachsen ist, in Freiheit und einigermaßen abgesichert, aber ohne ein Zuhause im emphatischen Sinne. Sarah, die zwanzigjährige Tochter von Samuel und Ruth zerreibt sich geradezu bei dem Versuch, für sich und ihren unwilligen Freund eine eigene Wohnung zu unterhalten. Und Maceo, der kleine Träumer, fasst am Grab seines Großvaters den Entschluss, irgendwann nach Südamerika zu reisen, um zu den Anfängen dieser traurigen kleinen Familiensaga zurück zu gehen, auch wenn er das Rad niemals wird zurückdrehen können.

    Nicht nur das Feuer ist keine Geschichte über "Ursache und Wirkung", kein Roman, der aufklären möchte, was die Mächte der Geschichte den Menschen antun können. Benjamin Prado braucht keinen erhobenen Zeigefinger, denn er erzählt lediglich davon, dass man alle Träume teilen kann, nur jene nicht, die man verloren hat – warum auch immer. Und damit lässt er Samuel, den Familienvater, und auch den Leser am Ende eines kurzen, sehr anrührenden Romans zurück.