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"Nicht zu lügen. Das ist mein Ziel"

Gabriela Adamesteanu zählt zu den Klassikern der zeitgenössischen rumänischen Literatur; ein Ruf, den sie vor allem dem Roman "Verlorener Morgen" (1983) verdankt. Die Übersetzung lässt bis heute auf sich warten - dafür gibt es jetzt den überraschend reifen Debütroman von 1975 auf Deutsch.

Eine Besprechung von Jan Koneffke |
    "Wer ist Letitia Branea?"

    Der diese Frage stellt, ist der Pförtner eines Bukarester Studentenwohnheims, der zu nachtschlafender Zeit ins Zimmer der Mädchen tritt, das Licht einschaltet und der jungen Protagonistin die Nachricht vom Tod ihres Onkels überbringt.
    Bereits dieser Anfang belegt die große Kunstfertigkeit, mit der die damals erst 33-jährige Autorin, nahezu beiläufig, die Motive ihres Erstlings ineinander verschränkte. "Der gleiche Weg an jedem Tag" ist beides: Education sentimental und, versteckte, education politique; Entwicklungsroman und historische Chronik.

    "Letitia ist gezeichnet vom Tod dessen, der sie großgezogen hat, der den wichtigsten Platz in ihrem Leben einnahm, weil der Vater aus politischen Gründen im Gefängnis sitzt, weshalb sie ihn kaum kennenlernt. Was sich ihr offenbart, das ist das Fiasko eines Lebens, das des Onkels, der seine Stelle als Direktor am Lyzeum verloren hat, da er in seiner Jugend Mitläufer der faschistischen Legionäre war; was sich ihr offenbart, ist die Kürze unserer Existenz, eine Erkenntnis, die bei einer 20-Jährigen eher selten ist, aber das lässt sie schneller reifen, nötigt sie zu einer präzisen Vorstellung dessen, was sie aus ihrem Leben machen will, und sie weiß explizit, wie es im Buch heißt, dass sie dieses Fiasko nicht wiederholen will, dass sie nicht vom Leben besiegt werden will. Denn das kann leicht passieren, insbesondere in einem totalitären Regime."

    Das Buch, das in den 50er- und frühen 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielt, hebt in der Mitte der Handlung an, mit dem Tod Onkel Ions, um zunächst im Rückblick von Letitias bedrückender Kindheit bei Onkel und Mutter in der rumänischen Provinz zu erzählen. Dort leben die drei zur Untermiete in einem einzigen Zimmer: die verhärmte Mutter, die sich vom inhaftierten Vater hat scheiden lassen und von den Nachbarn als Faschistin beschimpft wird; Onkel Ion, den die einstigen Freunde und Bekannten auf der Straße nicht mehr grüßen, und seine Ziehtochter, der Backfisch Letitia, die sich unglücklich in den Jungen Mihai verliebt, die resignierte und reuige Haltung des Onkel nur schlecht erträgt und an ihrem spannungsreichen Verhältnis zur Mutter leidet.

    "Eigentlich" ist "der gleiche Weg an jedem Tag", ob auf dem Korso der Provinzstadt, in der Schule oder bei der Brotausgabe gegen Lebensmittelkarten, "gesäumt von den Zeichen des Scheiterns". Letitia, die aufgrund der familiären Verfehlungen eine "schlechte Akte" hat, verdankt es nur dem einsetzenden politischen Tauwetter, Anfang der 60er-Jahre, wenn sie sich doch noch ihren Wunsch erfüllen, nach Bukarest gehen und studieren kann.
    In der Mitte des Buches erreicht der Leser erneut die Zeitebene des Anfangs und erlebt die junge Studentin im Akut ihrer seelischen Not: Wie streift man die "schuldhafte" Vergangenheit der Familie ab, ohne sie zu verraten?

    "Praktisch zwingt der Tod ihres Onkels Letitia dazu, die Vorstellung von ihm neu zusammenzusetzen. Sie sucht sich selbst, aber vor allem sucht sie den Onkel in seiner Beziehung zu ihr, plötzlich interessiert es sie, was mit ihm passiert ist. In ihrer Logik ist sein Leben ein Fiasko, denn er hat immer geschrieben, gearbeitet, in vielen seiner trüben und angespannten Existenz abgerungenen Stunden, doch es ist ihm nie gelungen, etwas davon zu veröffentlichen, das heißt, für sie hat er sich einer völlig vergeblichen Anstrengung unterzogen."

    Hartnäckig setzt sich Letitia nun für die Veröffentlichung der nachgelassenen Schriften ihres Onkels ein, und wird dabei zur Liebhaberin eines Wissenschaftlers, der sie bei diesem Vorhaben unterstützt. Doch wer hier wen benutzt hat, bleibt letztlich offen.

    Gabriela Adamesteanu gelingt in ihrem Buch das eindrucksvolle Porträt einer widersprüchlichen, sensiblen jungen Frau, die sich in vorgespiegelte Gleichgültigkeit rettet und auffallende Distanz zur Welt hält. Das isoliert sie, befähigt sie aber auch zu peinlich genauen Beobachtungen, die wiederum der Ich-Erzählerin zugutekommen. Letitia träumt zwar von der Liebe, doch die naiv-sentimentalen Schwärmereien ihrer studentischen Mitbewohnerinnen sind ihr fremd. Sie verspürt zwar den Wunsch zu gefallen, verzichtet aber nicht auf ihre Unabhängigkeit. Sie ist nicht bereit, sich den selbstverliebten Männern zu unterwerfen und in die weibliche Rolle zu schlüpfen, die von der Macho-Gesellschaft für sie vorgesehen ist. "Der gleiche Weg an jedem Tag" ist auch das beeindruckende Porträt einer patriarchalischen Welt, deren aggressive Mechanismen gegen Frauen sich nicht nur in den obsessiven sexuellen Gesprächen spiegeln, die man im Wohnheim führt. Bedrückend ist vor allem die Schilderung eines Gerichtsverfahrens, das gegen einige der Prostitution angeklagte Studentinnen in Gang kommt, die auf diese Weise zu doppelten Opfern der ihnen aufgezwungen Rolle werden.

    "Das, was ich bei diesem Buch versucht habe, war: nicht zu lügen. Das ist mein Ziel, seit ich angefangen habe, zu schreiben. Das scheint ein anspruchsloses Ziel zu sein, doch das gilt nicht für eine Gesellschaft, in der alles falsch war, die öffentliche und die private Rede, eine Gesellschaft, in der die Menschen sich verstellten und man eine Literatur schrieb, die unwahrscheinliche Situationen konstruierte. Das Ziel, nicht zu lügen, hat meine Aufmerksamkeit geschärft, und die Gesellschaft, in der wir lebten, war in der Tat eine Macho-Gesellschaft. Es war bestimmt nicht meine Absicht, ein feministisches Buch zu schreiben, ich habe schlicht und einfach benannt, was ich sah: So stellte sich unsere Gesellschaft dar, so stellt sich noch heute dar, es hat sich überhaupt nichts geändert, ja, vielleicht ist alles noch schlimmer geworden."

    Obwohl die politische Sphäre im Roman fast ausgespart bleibt, dringt sie doch kapillar, bedrohlich und beklemmend, in alle Lebensgeschichten ein. Die scheinbare Abwesenheit des allzeit Gegenwärtigen ist aber nur in geringem Maße durch den Eingriff der Zensur zu erklären.

    "Die politischen Elemente fehlen, weil viele Menschen im Kommunismus versuchten, ein gewöhnliches Leben zu führen und das Politische, das aus Sitzungen, der Verpflichtung zu politischer Erziehung oder der Teilnahme an politischen Aktionen bestand, möglichst zu ignorieren; im Übrigen lebt nicht nur meine Figur so, sondern auch die anderen Mädchen, die andere Geschichten haben und nicht unbedingt an einem politischen Trauma leiden, das sie verbergen müssen oder vergessen wollen. Auch sie leben ihr privates Leben, ignorieren den politischen Rahmen, tun so, als nehmen sie ihn nicht wahr. Das war die konkrete Realität, in der man lebte, es gab eine Realität, die man sehen konnte und eine Realität, die komplett verborgen blieb, denn die kommunistische Gesellschaft ist eine okkulte Gesellschaft mit vielen verborgenen Räumen."

    Die 1942 in der westmoldauischen Stadt Târgu Ocna geborene Gabriela Adamesteanu nahm 1960 das Studium an der Fakultät Rumänische Sprache und Literatur in Bukarest auf. Jahrzehntelang arbeitete sie als Redakteurin und Lektorin in Verlagen, bis sie, ein Jahr nach dem Sturz Ceausescus, Chefredakteurin der politischen Wochenzeitung "22" wurde, dem Sprachrohr der kritischen Intelligenz Rumäniens, und ihre Schriftstellerkarriere der politischen Einmischung und Herstellung einer modernen Öffentlichkeit opferte. Mit 29 Jahren legte Gabriela Adamesteanu ihren ersten Erzählband vor, mit 33 veröffentlichte sie mit der Geschichte um Letitia Branea ihren ersten Roman, der damit auch für die Autorin selbst ein Initiationserlebnis war, denn zunächst arbeitete sie spontan und ohne Plan an diesem Buch, in dem sie anfangs allenfalls eine Erzählung vermutete.

    Paradoxerweise merkt man dem Roman diesen Entstehungsvorgang nicht an, dafür wirkt seine Komposition zu perfekt; die anschaulich-reiche Sprache der Ich-Erzählerin, die vor dem Leser allerdings eine aschgraue Welt ausbreitet, hat kaum etwas von der Angestrengtheit, der man oft bei Debüts begegnet. Es scheint, als falle der reife Charakter Letitia Braneas mit der Reife ihrer Erfinderin zusammen, die ansonsten bestreitet, dass es sich bei "Der gleiche Weg am selben Tag" um einen autobiografischen Stoff handelt:

    "Ich musste oft erklären, dass die Geschichte nicht meine Geschichte ist, dass meine Eltern sich nicht haben scheiden lassen und vielleicht unter allen Paaren, die ich kenne, am besten zusammenpassten, dass mein Vater kein politischer Häftling war und dass ich auch meinen Professor nicht verführt, geschweige denn geheiratet habe."

    Doch auch wenn Letitia Branea nicht das Alter Ego der Autorin ist, so hat sie doch Ähnlichkeiten mit ihrer Heldin, sei es in der scharfen Beobachtungsgabe, sei es in der Form innerer Unbeugsamkeit gegen die Zumutungen der rumänischen Gesellschaft. Kein Zufall, dass auch Letitia Schriftstellerin werden möchte, und dass im bisher letzten Roman Gabriela Adamesteanus, dem 2010 erschienenen "Provizorat" (Provisorium), in dem die rumänische Autorin das weitere Leben ihrer Heldin in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erzählt, tatsächlich zur Schriftstellerin wird: so wie ihre Erfinderin.

    Man kann nur hoffen, dass dem glücklichen literarischen Einstand der Gabriela Adamesteanu auf dem deutschen Buchmarkt bald auch die Übersetzung des noch reiferen und reicheren, polyphon erzählten Nachfolgebuches folgt.

    Gabriela Adamesteanu: Der gleiche Weg an jedem Tag. Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2013. 434 Seiten.