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Niederlande
Sterbehilfegesetz auf dem Prüfstand

Die Niederlande haben das liberalste Sterbehilfegesetz der Welt. Seit zwölf Jahren ist das Töten auf Verlangen unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Doch die Kritik an der Regelung wächst, da sie immer öfter auch psychisch Kranke oder Demenzkranke in Anspruch nehmen.

Von Michael Hollenbach | 20.10.2014
    Ein jüngerer Mensch umfasst das Armgelenk einer älteren Person, die im Krankenbett liegt.
    Die Zahl der Sterbehilfefälle in den Niederlanden steigt dramatisch - allein von 2012 auf 2013 um 15 Prozent auf knapp 5.000 pro Jahr. (picture alliance / dpa / Jm Niester)
    Petra de Jong ist die niederländische Lobbyistin für aktive Sterbehilfe. Die Ärztin ist Direktorin der Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende, kurz NVVE. In den Niederlanden entscheiden die Hausärzte darüber, ob einem Sterbewilligen die letzte Spitze gesetzt wird:
    "Die Ärzte sind Profis darin, zu entscheiden, ob es eine Chance auf Heilung gibt. Wenn es aber keine Perspektive mehr gibt, dass es noch mal besser wird, dann sollte der Arzt helfen - und das Leiden mit einer Sterbehilfe beenden."
    Mehr als 70 Prozent der Sterbehilfeanträge werden von Krebspatienten gestellt. Ärzte dürfen einen Antrag nur dann bewilligen, wenn die Betroffenen ihn freiwillig und wohlüberlegt stellen, unerträglich leiden und eine Heilung aussichtslos ist. Rund zehn Prozent der Mediziner lehnen eine Sterbehilfe aus religiösen Gründen kategorisch ab, sagt der Medizinethiker Theo Boer. Er ist Professor an der Protestantischen Universität von Groningen:
    "Ich glaube aber, dass es für die allermeisten Ärzte sehr schwierig ist, das Leben eines Mitmenschen zu beenden. Da ist ein großer Unterschied, die Behandlung einzustellen und zu sagen: Jetzt darf die Natur seinen Kurs nehmen, als dass man aktiv von einem Moment auf den anderen das Leben beendet."
    Große Mehrheit befürwortet die Regelung
    Die Zahl der Sterbehilfefälle steigt dramatisch - allein von 2012 auf 2013 um 15 Prozent auf knapp 5.000 pro Jahr. Im Vergleich zu 2009 haben sich die Zahlen verdoppelt. Petra de Jong vom NVVE sieht diese Entwicklung durchaus positiv:
    "Was ich beobachte, ist, dass die Niederländer sehr genau wissen, was sie wollen. Und deshalb steigen die Zahlen jener Menschen, die Sterbehilfe für sich akzeptieren. Die jetzige Babyboomer-Generation, das sind Leute, die wollen bewusst ihre eigene Entscheidung treffen - auch wie ihr Leben enden soll. Und die wollen das für sich selbst regeln."
    Die große Mehrheit der Niederländer befürwortet die Euthanasieregelung. Selbst Teile der evangelischen Kirche haben sich für die aktive Sterbehilfe eingesetzt. Doch es zeichnen sich immer mehr ethische Grauzonen ab. Zum Beispiel bei Menschen mit Demenz. Viele äußern in einem frühen Stadium der Erkrankung den Wunsch nach Euthanasie. Knapp 100 Demente erhielten 2013 aktive Sterbehilfe - doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Doch auch wenn man dem Arzt seinen Wunsch nicht mehr direkt sagen kann, ist eine Sterbehilfe möglich, sagt Petra de Jong:
    "Wenn jemand sorgfältig aufgeschrieben hat, was er will im Falle einer Demenz, und er nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern, dann kann der Arzt eine aktive Sterbehilfe durchführen, obwohl die Ärzte da zurückhaltend sind, denn wir haben nur einige Fälle von Sterbehilfe bei fortgeschrittener Demenz."
    Allerdings nehmen die Fälle immer mehr zu, sagt Theo Boer. Der Ethiker war mehr als zehn Jahre Mitglieder einer Kontrollkommission. Diese Kommissionen beurteilen nachträglich, ob bei der Sterbehilfe alle Bestimmungen eingehalten wurden.
    "Traditionell haben die Kontrollkommissionen immer gesagt: Wenn nur eine Patientenverfügung da ist, und der Patient ist nicht mehr kompetent, dann findet keine aktive Sterbehilfe statt. In diesem Moment aber glaube ich, dass da sich etwas ändert und mehr und mehr Leute sagen, lediglich auf der Basis einer Willenserklärung kann man aktive Sterbehilfe geben. Ich denke, das ist eine schiefe Ebene, denn es gibt Fälle, in dem Leute in einem Pflegeheim sind, die eine Patientenverfügung haben, aber die nicht leiden, aber wo trotzdem Leute sagen: Da dürfen die jetzt sterben."
    Umstritten: Sterbehilfe für psychisch Kranke
    In die Kritik geraten ist auch die sogenannte Lebensende-Klinik der NVVE, der Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende. Deren Direktorin Petra de Jong:
    "Es gab viele Leute, die Sterbehilfe für sich in Anspruch nehmen wollten, aber die Hausärzte sagten oft, sie wollten das lieber nicht machen. Das war ein Problem, weil zu viele Menschen abgewiesen wurden, und deshalb haben wir vor zwei Jahren die Lebensende-Klinik gegründet."
    Gerade die Lebensende-Klinik betreut nun vor allem jene Patienten, deren Todeswunsch manche Mediziner hinterfragen:
    "In der Lebensende-Klinik beobachten wir eine Veränderung: Da sind mehr Patienten mit Demenz oder psychiatrischen Erkrankungen, weil die Hausärzte sich scheuen, Menschen zu töten, die psychisch krank oder dement sind."
    Aufsehen erregte in diesem Jahr ein Fall, als die Klinik einer Frau Sterbehilfe leistete, weil diese nicht in ein Pflegeheim wollte. Das hatte sie 20 Jahre zuvor in einer Willenserklärung festgehalten.
    Gerade die Sterbehilfe für psychisch Kranke ist umstritten, und war bei der Verabschiedung des Gesetzes auch nicht vorgesehen, sagt der Medizinethiker Theo Boer:
    "Im Prinzip war von Anfang an die Existenz einer Depression als Kontraindikation für aktive Sterbehilfe gesehen, weil man gedacht hat, man weiß nie, ob man geheilt werden kann. Und man weiß auch nicht, ob der Patient das kompetent beurteilen kann. In den letzten Jahren - muss ich sagen - sind die Zahlen aber für psychisch Kranke sehr in die Höhe gegangen."
    Auf 42 Fälle im Jahr 2013 - dreimal so viele wie im Vorjahr. Eine gesicherte medizinische Prognose sei bei psychisch Kranken nur sehr schwer möglich, sagt Theo Boer:
    "Zum Beispiel bei Krebskranken, da ist die Lebenserwartung nur ein paar Wochen und man weiß auch, dass es auch nicht zu heilen ist; bei psychischen Krankheiten ist das ja ganz anders. Da kann es sein, dass Menschen, die wirklich sehr schlimm leiden, nach ein paar Jahren doch wieder zu sich finden und ein gesundes Leben haben. Von daher glaube ich, dass ein Arzt immer große Bedenken haben muss, bevor er darauf eingeht."
    "Schwächere Menschen im Auge behalten"
    Theo Boer, der anfangs kein Gegner der Sterbehilfe war, sieht die Praxis mittlerweile immer skeptischer. Vor allem stellt er eine schleichende Veränderung in der niederländischen Gesellschaft fest. In seiner Arbeit in der Kontrollkommission habe er manchmal einen familiären Druck auf die Patienten spüren können:
    "Man sieht zwischen den Zeilen, dass der Patient um aktive Sterbehilfe bittet, weil er denkt, ich bin eine Last für meine Verwandtschaft."
    Auch der Autor und Journalist Gerbert van Loenen spricht von einer schiefen Ebene. Das Sterbehilfegesetz sei zwar nicht außer Kontrolle geraten:
    "Es gibt aber diese Debatte über die Grenzen und die ist schwierig. Das ist eine wichtige Frage, in wie weit sich auch die Mentalität geändert hat. Ob wir vielleicht jetzt anders umgehen mit Leid und mit leidenden Menschen?"
    Gerbert von Loenen kritisiert, dass das Sterbehilfegesetz vor allem die Starken und Autonomen im Blick habe, aber nicht diejenigen, die schon lange psychisch krank, schwach oder süchtig seien und - gerade im Alter - auf Hilfe angewiesen seien:
    "Ich finde es ganz wichtig, dass man in der Sterbehilfedebatte, dass man nicht nur über autonome Bürger redet, sondern auch die schwächeren Menschen im Auge behält, die vielleicht Unterstützung brauchen und die auch unter Druck kommen können."