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Niedersachsen
Ende der Ära Braunkohle in Helmstedt

In den 1950er-Jahren haben die Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke Helmstedt und die Umgebung massiv geprägt. Doch nun geht diese Ära zu Ende. Industriearbeitsplätze gehen damit verloren - eine Herausforderung für die strukturschwache Region.

Von Dietrich Mohaupt | 06.10.2016
    Der Blick auf das Braunkohlekraftwerk und die Müllverbrennungsanlage Buschhaus bei Helmstedt, aufgenommen am 04.10.2003. Im Vordergrund sind die Dächer des Dorfes Esbeck zu sehen, im Hintergrund stehen Windkrafträder am Rande eines aufgelassenen Tagebaus.
    Das Braunkohlekraftwerk im niedersächsischen Buschhaus. (dpa / Stefan Hähnsen )
    "Das Ende einer Ära, Beginn eines neuen Zeitabschnittes. Ich bin hier groß geworden, aufgewachsen. Das ist traurig. Das ist schon ein schwieriger Moment – ich glaube, das merkt man auch sehr deutlich an der Stimmung."
    Recht hatte er, der niedersächsische Wirtschaftsminister Olaf Lies. In Feierlaune waren die Bergleute und Kraftwerksmitarbeiter beim offiziellen Abschied vom Braunkohle-Tagebau in der ehemaligen deutsch-deutschen Grenzregion nicht – das musste jedem Beobachter spätestens auffallen, als Torsten Dietze von der Geschäftsführung der Helmstedter Revier GmbH beim Abschiedsfrühstück vor ein paar Tagen ans Mikro trat.
    "Also liebe Kollegen – wie es Tradition ist, würde ich jetzt darum bitten, dass wir gemeinsam das Steigerlied singen. – Glückauf, Glückauf, der Steiger kommt."
    So klang das Ende des Kraftwerks Buschhaus bei Helmstedt; nicht gerade euphorisch – wie sollte es auch, wo doch gerade 450 gut bezahlte Industriearbeitsplätze in einer eh schon strukturschwachen Region damit verschwinden. Aber – die Traditionen, die werden erhalten bleiben, da ist sich Torsten Dietze ganz sicher. Schließlich habe der Bergbau zu den besten Zeiten der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke, kurz BKB, in den 1950er-Jahren das Leben in Helmstedt und Umgebung massiv geprägt.
    "Die BKB hat hier mal über 7.000 Beschäftigte gehabt, hier waren ganze Generationen in Lohn und Brot – also ich weiß, dass gerade dieses ‘Glückauf’ hier in der Gegend weiter verwurzelt bleiben wird."
    Ein traditioneller Bergmannsgruß reicht aber nicht – die Region gehe unter, das sei unübersehbar, erzählt Jürgen Bosse. Vier Generationen seiner Familie haben beim Helmstedter Revier gearbeitet. Er selbst ist vor zwei Jahren schon in den Vorruhestand gegangen, für viele andere in seinem Wohnort bei Helmstedt kommt jetzt das Aus.
    "In meinem Ort, wo ich herkomme – das ist Büddenstedt, ein Kohledorf – kriegt man inzwischen eine Doppelhaushälfte mit 1.000 Quadratmetern Grundstück für 20.000 Euro. Und das ist schon ein Zeichen, die Immobilienpreise sind hier im freien Fall, die Familien, die jungen Leute ziehen weg. Das ist wirklich ein Aderlass, den diese Region erfährt."
    Keine greifbare Perspektive
    Da hilft es auch nicht weiter, dass in den nächsten knapp vier Jahren noch 130 Jobs bei der Rekultivierung des Tagebaus sicher sind und im Kraftwerk 80 Kollegen vier Jahre lang den sogenannten Stillstandsbetrieb aufrechterhalten sollen. Es fehle eine greifbare Perspektive für die Ansiedlung neuer Arbeitsplätze, kritisiert Hans-Georg Schrader. Mehr als 46 Jahre hat er im Helmstedter Revier malocht – von den Plänen für die Zukunft der Region hält er nicht viel.
    "Das was die Herren Politiker machen hier – finde ich absolut nicht gut. Die wollen hier nur Tourismus haben – alles was hier an Firmen her wollte, denen haben sie nur Knüppel zwischen die Beine geschmissen, allen, egal welchen! Die wollen nur Abenteuerspielplatz hier haben."
    Die – die "Herren Politiker" – damit meint er auch den niedersächsischen Wirtschaftsminister Olaf Lies. Der hatte im März dieses Jahres eine "Taskforce Braunkohlerevier Helmstedt" installiert – und die habe inzwischen immerhin eine Million Euro zur Entwicklung neuer Perspektiven bereitgestellt, erklärt der Minister.
    "Natürlich haben die Ersten konkrete Wünsche und sagen: ‘Jetzt ist doch ein halbes Jahr vergangen, was kommt denn jetzt morgen an Betrieben hier hin?’- so einfach geht es natürlich nicht. Das ist schon ein etwas längerer Prozess, den wir angehen müssen. Wir haben mit dem Geld, das wir zur Verfügung stellen, ja nicht die Projekte finanziert, sondern damit unterstützen wir diesen Prozess. Und zwar mit dem Ziel, sich nicht durch den einen oder anderen netten touristischen Gedanken den Industriearbeitsplatz zu verbauen – der muss erste Priorität haben!"
    Das entscheidende Stichwort: Industriearbeitsplätze. In Naherholungsgebieten mit einer Seenlandschaft in renaturierten Tagebauen sieht auch Jörg Liebermann von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie – IG BCE – keine Perspektive für die Region:
    "Wenn wir unseren eigenen Kindern oder Enkelkindern in der Region keine Zukunft bieten können, werden die Menschen, die hier leben, mit ihren Kindern die Region verlassen müssen. Deswegen – ganz wichtig für uns – Industriearbeitsplätze, denn Industriearbeitsplätze sichern den Menschen auch ein auskömmliches Einkommen. Und aus meiner Sicht ist der Tourismus nicht die Garantie, die der Mensch braucht, um ein auskömmliches Einkommen zu haben!"
    Müllverbrennungsanlage auf dem Kraftwerksgelände
    Und von Anregungen wie der des grünen Umweltministers Stefan Wenzel, auf dem Gelände des Braunkohlekraftwerks ein energiepolitisches Bildungszentrum zu errichten, quasi als eine Art Mahnmal für die verfehlte Energiepolitik der 70er- und 80er-Jahre, hält Jörg Liebermann schon mal gar nix. Das sei hier ein Industrieareal, meint der Gewerkschafter und verweist auf die große Müllverbrennungsanlage auf dem Kraftwerksgelände.
    "Wir haben hier jetzt – auch aus der BKB entstanden – die EEW, Energy from Waste, den größten Abfallverbrenner Europas. Chinesen haben den gekauft und die Chinesen wollen, dass diese EEW auch in China Müllverbrennungsanlagen baut und betreibt. Das werden nicht unsere Leute aus Helmstedt machen, aber unsere Leute aus Helmstedt sind in der Lage, Chinesen zu schulen."
    Ein regelrechtes Kompetenzzentrum Müllverbrennung schwebt Jörg Liebermann vor. Die Zukunft der Region, wie er sie versteht, könne langfristig durch chinesische Abfallberge gesichert werden, es gehe immerhin um etwa 1.000 geplante Müllverbrennungsanlagen – in China. Klingt fast schon wie eine echte Perspektive – ist aber noch eher ungewiss. Die Realität im Helmstedter Braunkohlerevier sieht ganz anders aus, betont der Ex-Kohlekumpel Hans-Georg Schrader.
    "Tun Sie sich mal den Gefallen, fahren Sie nach Schöningen und gehen Sie über den Marktplatz egal zu welcher Tageszeit, es sieht immer leer aus. Es sind nur noch Alte hier. Wirklich, es ist traurig."