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Noëlle Revaz neuer Roman
Attacke auf die Mediengesellschaft

Die Schriftstellerin Noëlle Revaz entwirt mit ihrem Roman "Das unendliche Buch" ein futuristisches Szenario: Literatur ist ein Phänomen alter Zeiten. Bücher werden von Algorithmen generiert. So auch das Werk zwei junger Erfolgsautorinnen, die fortan gemeinsam durch Talkshows tingeln und wie in einer Bildschirmdiktatur leben.

Von Christel Wester | 13.03.2017
    Bücherreihen, fotografiert am 17.02.2015 in einer Buchhandlung in Potsdam (Brandenburg).
    In der Dystopie von Noëlle Revaz wagen nur noch Kinder den Blick ins Buch. (dpa / picture-alliance / Ralf Hirschberger)
    Zwei junge Erfolgsautorinnen sind die Hauptfiguren in Noëlle Revaz’ Roman "Das unendliche Buch":
    "Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi."
    Ihre Namen klingen ähnlich, und das ist kein Zufall. Denn bald schon sollen sie verschmelzen zu:
    "Joenna Fortunaggi."
    Eine Superautorin! Bestehend aus zwei attraktiven Frauen, die wie siamesische Zwillinge von Talkshow zu Talkshow tingeln müssen. In einem Überrumpelungsakt hat der Verlag ein Gemeinschaftswerk der beiden auf den Markt geworfen. Und das Beste: Sie mussten es gar nicht selbst schreiben. Denn Bücher werden längst von Algorithmen generiert. Bei Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi regt sich anfangs noch leiser Widerstand gegen ihre Zwangsvereinigung. Doch beim Anblick des Fotos auf dem Buchumschlag geraten auch schließlich ins Schwärmen:
    "Das war ja das Faszinierende: Dieses Gesicht war ihr eigenes, das Gesicht von Joanna Fortaggi. Dann wurde es zum Gesicht von Jenna Fortuni. Dann wieder ihr Eigenes und gleichzeitig das von Jenna Fortuni. Aber plötzlich gehörte dieses Gesicht keiner von beiden mehr. Es war nun einfach ein großes Gesicht, anonym und unpersönlich, wie das einer Statue. Voll und leer. Wirklich, unwirklich."
    In Noëlle Revaz' Romanwelt sind Bücher regelrechte Fetische
    Wirklich und unwirklich zugleich ist auch das Szenario, das die Schriftstellerin Noëlle Revaz entwirft. Da tragen Kinder Chips unter der Haut, mit denen sie elektronische Geräte aus der Ferne bedienen können. Eine ominöse Matrize, von der keiner weiß, wo sie sich befindet, sorgt für musikalische Dauerberieselung. Freunde werden per Internetkatalog ausgesucht. Ist das schon Zukunft oder noch Gegenwart? Immer noch ist das Fernsehen ein Leitmedium. Künstler aller Sparten sind heiß darauf in Talkshows aufzutreten. Doch ausgerechnet Schriftsteller und ihre Bücher sind besonders begehrt. In Noëlle Revaz’ Romanwelt sind Bücher regelrechte Fetische, von denen aber nur noch die prachtvollen Einbände wahrgenommen werden.
    "Man hatte das Öffnen von Büchern für überholt erklärt."
    Mehr noch: Man hatte es geradezu tabuisiert.
    "Die Geste, ein Buch aufzuschlagen, war schamlos."
    Einmal fällt in einer Talkshow ein Buch auf den Boden und öffnet sich.
    "Das Buch lag total liederlich da. Die frische Luft strich um seine Eingeweide, das Innere war zur Schau gestellt. Und zu beiden Seiten seines offenen Herzens war es zerteilt, preisgegeben, weiß und gewölbt, bedeckt mit kleinen Strichen und Rundungen und braven Zeilen, die neugierig machten."
    Eine Dystopie
    In dieser Dystopie von Noëlle Revaz wagen nur noch Kinder den Blick ins Buch – und Menschen in irgendwelchen fernen zurückgeblieben Ländern, für die die Erfolgsautorinnen Patenschaften übernommen haben. Literatur ist ein Phänomen alter Zeiten, niemand weiß mehr so genau, was man sich darunter vorstellen soll. Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi wundern sich darüber, dass es früher einmal Plagiatsskandale gegeben hat. Denn anders als in Revaz Dystopie schrieben die Schriftsteller der Vergangenheit ihre Bücher immerhin noch selbst. Wenn auch ausschließlich per Copy-and-Paste von Textversatzstücken aus dem Internet. In Noëlle Revaz’ Roman gibt es einen kurzen Auftritt der Galionsfigur dieser Bewegung:
    "Zum Schluss hatte der Schriftsteller H. P. Vim ein paar Sätze gesagt, die dauerhafte Berühmtheit erlangen sollten: Originalität gebe es heute ohnehin nicht mehr."
    H. P. Vim erinnert verdächtig an Helene Hegemann, die sich ganz real wegen ihres Romans "Axolotl Roadkill" 2010 Plagiatsvorwürfen ausgesetzt sah – und deren Fall damals auch in der Schweiz Furore machte. Aber Noëlle Revaz hat keine reine Parodie auf den Literaturbetrieb geschrieben. "Das unendliche Buch" ist eine Attacke auf die gesamte Mediengesellschaft. Ihre beiden, futuristischen Superautorinnen leben in einer Bildschirmdiktatur. Und in der wirken alle mit, keiner rebelliert. Bis am Schluss der Literatur doch noch eine rettende Rolle zukommt. Dafür wurde der Roman, der im französischen Original bereits vor drei Jahren erschienen ist, mit dem Schweizer Literaturpreis 2015 ausgezeichnet. Als "poetisches Manifest" lobte die Jury "Das unendliche Buch". Das Urteil muss man nicht teilen. Etwa zwei Drittel der Handlung spielt sich in Fernsehtalkshows ab. In kurzen Kapiteln reiht Noëlle Revaz mal mehr, mal weniger witzige slapstickhafte Szenen aneinander. Das wirkt nach einiger Zeit ermüdend, so als ob man sich endlos durch Fernsehkanäle zappt. Denn man begegnet keinen psychologisch ausgearbeiteten Figuren, sondern lediglich Typen, die ein bisschen wirken wie die riesigen Abziehbilder, die Jenna und ihr Mann als Kinderersatz auf ihre Fenster geklebt haben. Man muss recht viel Ausdauer aufbringen, bis sich ab Seite 195 eine neue Entwicklung abzeichnet. Dann endlich wagen es Joanna und Jenna, ein Buch aufzuschlagen. Und im Fortgang der Handlung entfaltet die Poesie ihre subversive Kraft.
    "Denn beim Durchblättern des Buches hatten sich hunderte, tausende, unzählbar viele Schmetterlingsflügel erhoben."
    Auf diese Weise durchweht Noëlle Revaz’ düsteres Szenario am Ende ein – leider ziemlich kitschiger – Hauch Hoffnung.
    Noëlle Revaz: "Das unendliche Buch",
    Roman aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch
    Wallstein Verlag, 283 Seiten, 22 Euro.