Sonntag, 28. April 2024

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Norbert F. Pötzl: Erich Honecker. Eine deutsche Biographie.

Jahrelang war auf dem Buchmarkt keine einzige einigermaßen aktuelle Biografie über Erich Honecker greifbar; seit etwa zwei Jahren geht es dafür nun Schlag auf Schlag. Die letzte Biografie über den einstigen Lenker des Arbeiter- und Bauernstaats, die bei Rowohlt erschien, erwies sich als ziemlicher Schnellschuss. Der Autor des nun bei der Deutschen Verlags Anstalt veröffentlichten Buches, SPIEGEL-Redakteur Norbert F. Pötzl, der einst den Fall Barschel aufrollte, darf hingegen zumindest für sich in Anspruch nehmen, Honecker und seinen Vertrauten bis zuletzt wortwörtlich auf den Fersen gewesen zu sein - so saß Pötzl beispielsweise mit in der Maschine, die Honecker ins chilenische Exil brachte. Jacqueline Boysen verrät Ihnen, ob Pötzl mit seinem Buch eine schlüssige Gesamtdarstellung der Person Honecker gelungen ist.

Jacqueline Boysen | 25.11.2002
    Erich Honecker 18. Oktober 1989 – 9. Tagung des ZK der SED: Liebe Genossinnen und Genossen, nach reiflicher Überlegung und im Ergebnis der gestrigen Beratung im Politbüro bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Infolge meiner Erkrankung und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke der Partei und des Volkes heute und künftig verlangen. Deshalb bitte ich das Zentralkomitee, mich von der Funktion des Generalsekretärs des ZK, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik zu entbinden.

    Als der Genosse Erich Honecker am 18. Oktober 1989 vor dem Zentralkomitee der SED seine Rücktrittserklärung ausdruckslos und silbenschluckend wie gewohnt herunterleierte, bestand für die Anwesenden schon kein Zweifel mehr: Den Königsmantel, den sich der Bergarbeitersohn nach dem Sturz Walter Ulbrichts im Jahre 1971 hatte umlegen lassen und der – nach Ansicht von Rudolf Bahro – von jeher zu groß für ihn gewesen war, der wurde ihm nun endgültig abgenommen. Am Tag zuvor bereits hatte das Politbüro nach einer dreistündigen "Aussprache" den Beschluss gefasst, Honecker, seinen Wirtschaftslenker Günter Mittag sowie den Oberzensor- und Agitator Joachim Herrmann absetzen zu lassen – einstimmig wie immer war die Entscheidung im Politbüro ausgefallen: Honecker hatte keine Kraft mehr zu einem Votum dagegen:

    Die Gründung und erfolgreichen Entwicklung der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik, deren Bilanz wir am 40. Jahrestag gemeinsam gezogen haben, betrachte ich als die Krönung des Kampfes unserer Partei und meines eigenen Wirkens als Kommunist.

    In diesen letzten Tagen der DDR alten Zuschnitts verabschiedete sich Erich Honecker als gebrochener, kränklicher Greis aus der Weltgeschichte – ein überzeugter kommunistischer Apparatschik, dessen Wirken banale, klägliche Spuren hinterließ, dessen Ideale längst an der Realität gescheitert waren und dessen kleiner sozialistischer deutscher Staat unweigerlich der Implosion entgegenschlingerte. Das landläufige Bild Honeckers zeigt bis heute einen blassen, starrköpfigen Kleinbürger – keinen stalinistischen Diktator, viel eher ein armes Würstchen.

    Die vom Spiegel-Redakteur Norbert Pötzl vorgelegte Biographie des Staats- und Parteichefs begreift Erich Honecker indes als einen gewieften Machtmenschen. Pötzl beschreibt Honecker aus angemessener Distanz, oftmals über Aussagen von leider überwiegend westdeutschen Zeitzeugen – wobei der interessanteste zweifellos Klaus Bölling ist: Die Wege des Regierungssprechers von Helmut Schmidt und Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in Ost-Berlin hatten die von Erich Honecker bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit gekreuzt: der 18-jährige Bölling arbeitete eine Weile in der Redaktion der von Honecker mitinitiierten Zeitschrift Neues Leben. Der Jugendfunktionär Honecker, den Bölling aus dieser Zeit in Erinnerung hat, hat wenig gemein mit dem verblendeten, dogmatischen Genossen der späten Achtziger. Obwohl dem Autor im Text gelegentlich kleine Ungenauigkeiten unterlaufen – es gelingt Norbert Pötzl, Honeckers Denkmuster zu erklären und über ihn schließlich auch angemessen zu urteilen. Dabei erscheint der Generalsekretär der Staatspartei der DDR nun selbstverständlich nicht charismatisch oder herausragend, auch wird seine intellektuelle Mittelmäßigkeit eher bestätigt denn widerlegt, aber EH – wie seine Paraphe auf unzähligen Schriftstücken lautete – wird in diesem Band als handelnder und taktierender Politiker ernst genommen und nicht per se zur Marionette der Sowjetunion im Kalten Krieg degradiert.

    Pötzl: Also intellektuell, da werde ich natürlich nix Neues erzählen, war er ziemlich unterbelichtet, ein einfacher, biederer Mensch, ein Handwerker, einer, der nicht einmal seine Lehre zuende gebracht hat, der zeitlebens eben kommunistischer Funktionär war, das hat ihn geprägt, aber diese Prägung hat eines hervorgebracht, er war sehr machtbewusst, hat einen Machtinstinkt gehabt, war bauernschlau, listig, auch flexibel, also Dinge, die man vielleicht diesem mausgrauen biedermännischen Typ auf den ersten Blick gar nicht so angesehen hat und weshalb er von vielen auch unterschätzt worden ist.

    Das gilt in erster Linie für seine westdeutschen Gesprächspartner, auf die der eitle Generalsekretär der SED soviel Wert legte, legitimierte ihn doch jedes Treffen mit einem auch nur halbwegs angesehenen Politiker aus dem Ausland oder der Bundesrepublik und bestärkte ihn in seinem Glauben daran, dass auch er auf der großen Weltbühne mitspielten durfte. Für Helmut Schmidt hegte Honecker eine gewisse Bewunderung, musste aber zum Beispiel beim Besuch des sozialdemokratischen Bundeskanzlers 1981 ständig gegen die eigene Furcht davor ankämpfen, dass die Überlegenheit des Hamburgers offenkundig würde.

    Locker begrüßte ihn Honecker an der Gangway auf dem Flughafen Schönefeld. Honecker hatte zuvor überlegt, welche Kopfbedeckung er tragen solle – es war ja Winter, und auf dem weiten Platz zieht es immer. "Wenn ich einen Hut aufsetze", meinte Honecker zu seinen Beratern, "muss ich den zur Begrüßung abnehmen, aber eine Pelzmütze kann ich aufbehalten." So fiel die kleinkarierte Entscheidung für die Fellkappe, um nicht vor dem Kanzler höflich den Hut lüften zu müssen.

    Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß wiederum lockte den knöchernen Staats- und Parteichef bei einem ihrer Treffen offenbar dermaßen aus der Reserve, dass Strauß’ Gattin Marianne den Staatsratsvorsitzenden anschließend freimütig als "stattliches Mannsbild" bezeichnete. Der in ihrer gemeinsamen kommunistischen Jugendzeit in den dreißiger Jahren begonnenen Freundschaft zu Herbert Wehner kommt eine besondere Bedeutung zu. In der Beziehung zwischen Wehner – aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt – und dem Ex-Zuchthäusler Honecker, der unter weiterhin dubiosen Umständen im März 1945 aus einem Arbeitskommando fliehen konnte, manifestiert sich die Kraft der in der Zeit des Widerstands gewachsenen weltanschaulichen Wurzeln. Zur Widersprüchlichkeit des verbohrten Parteisoldaten gehört es, dass er die Nähe zu seinem Gesinnungsgenossen von damals suchte, obgleich Herbert Wehner sich bekanntlich vom Kommunismus abgewandt hatte.

    Es war vielleicht eine der wenigen Freundschaften, die er wirklich gepflegt hat. Natürlich aus dieser frühen Bekanntschaft, 1935 bei der Saarabstimmung haben sie zusammen gekämpft, das war Herbert Wehner noch in der KPD, und sie haben sich dann 1973 im Mai zum ersten Mal wiedergetroffen. Und schon diese Begegnung zeigt, sie wollten dort genau wieder anknüpfen, wo sie aufgehört hatten. Sie haben gleich darüber gesprochen, dass sie sich natürlich duzen, und Honecker hat über Wolfgang Vogel dann in den Folgejahren einen ständigen Draht zu Herbert Wehner unterhalten. Und als die Todesnachricht von Herbert Wehner Honecker erreichte, war er selber im Krankenhaus, selber gerade operiert worden, selber mit Gedanken an den Tod beschäftigt, und er hat einen anrührenden Kondolenzbrief an die Witwe geschrieben, den ich zum ersten Mal in Gänze zitieren kann und wo er sich nicht verstellen musste. Das war ja nun wirklich etwas Vertrauliches, was nicht für außen gedacht war.

    Ambivalent wie die Bindung an den Sozialdemokraten Wehner ist auch die Tatsache, dass Honecker die christliche Frömmigkeit der Kindheit in einen unbedingten Glauben an das marxistisch-leninistische Dogma umwandelt und zeitlebens ein verqueres Verhältnis zur Kirche unterhielt, vor allem aber das von Pötzl beschriebene gesamtdeutsche Bewusstsein des einstigen Trommlers aus der Wiebelskirchener Schalmeienkapelle. Erich Honecker hing sehr an seiner saarländischen Heimat, zugleich aber profilierte er sich von seinem Ziehvater Walter Ulbricht nicht zuletzt im Jahr 1961 – ausgerechnet als Organisator des Mauerbaus, Manifest der deutschen Teilung.

    Also, auch wenn er auf sowjetischen Druck 1974 den Begriff der deutschen Nation aus der DDR-Verfassung gestrichen hat, war er in seinem Herzen – das haben auch die westdeutschen Gesprächspartner immer erlebt, Willy Brandt nannte ihn mal den letzten Gesamtdeutschen, einer, der ja aus dem Westen, aus dem Saarland, kam und der viele Bezüge in den Westen hatte, für den stellte sich nicht die Frage der staatlichen Einheit, aber doch des Zusammenlebens, er hat sich sehr stark an dieser Bundesrepublik orientiert. Alle Gesprächspartner haben gesagt, er hat morgens immer als erstes westdeutsche Zeitungen gelesen, er war immer interessiert daran, wie seine Politik im Westen ankam, und er hat ja auch ein entsprechendes Echo aus dem Westen erfahren. In den 80er Jahren haben ihm ja die Bonner Politiker die Bude eingerannt.

    Der stets vom Rotgardistenblut träumende Honecker war zum Ende der DDR keineswegs mehr von Revolutionselan getragen. Seine Macht – so Pötzls Analyse – ruhte auf drei Säulen: Erich Mielkes Staatssicherheit, Günter Mittags maroder realsozialistischer Wirtschaft und natürlich dem Propaganda-Apparat unter der Regie von Joachim Herrmann. Dies scheint angesichts der vierzig Jahre währenden Diktatur im Arbeiter- und Bauernstaat ein etwas grobes Erklärungsmuster. Ergänzt wird es von Pötzl jedoch von einer ausführlichen Beschreibung des Realitätsverlusts des graugesichtigen Herrn der Partei, der immer mehr die erstarrende DDR zu personifizieren schien. Selbstverliebt genoss Honecker in den letzten Jahren seiner Amtszeit die Litanei seiner Titel und Ämter, die in der Aktuellen Kamera gern in voller Länge heruntergebetet wurden. Schließlich darf die äußerliche Bescheidenheit des eher unscheinbaren Wandlitz-Bewohners Honecker nicht über seine Selbstherrlichkeit hinwegtäuschen. Er hatte sich in den für die DDR goldenen Siebzigern mit taktischem Geschick gegen Ulbricht, den Ziehvater von einst, an die Spitze von Partei und Staat manövriert. Fortan verschloss er sich der Realität und ließ sich von niemandem mehr – außer vielleicht von Ehefrau Margot – Kritik gefallen. Im übrigen reichte dem altersstarrsinnigen Staatslenker sein antifaschistisches Weltbild aus den dreißiger Jahren, konstatiert Pötzl.

    Er hat die Fortschritte in der DDR immer daran gemessen, um wie viel besser es war als im Deutschland der Weimarer Zeit. Er hat immer geglaubt, die Leute müssen doch eigentlich zufrieden sein: Sie haben eine ordentliche Wohnung, sie haben zu essen, sie haben Kleidung, und damit glaubte er eigentlich, müsse das Volk ihn lieben.

    Norbert Pötzls Verdienst ist es, hier eine Herrschaftsgeschichte der DDR verfasst zu haben, die gespickt ist mit subtilen Beobachtungen – nicht zuletzt über sprachliche Absurditäten aus dem Realsozialismus. So hat wohl ein Staat, der über Jahre "die Todesstrafe verwirklicht" und sich dessen auch noch rühmt, tatsächlich den Untergang verdient. Aus der Biographie, in der sich die betrachtete Person oft gleichsam hinter den Ereignissen versteckt, lassen sich nicht allein die deutsch-deutschen Zeitläufe herauslesen. Die eingestreuten Bemerkungen über Honeckers Charakter, seine Verhaltensweisen und Gedanken, Schrullen oder auch persönliche Freundschaften lassen ihn am Ende der Lektüre doch als Individuum erscheinen. Erich Honecker mochte sich bekanntlich nicht in die Rolle des Gescheiterten, der von den eigenen Genossen schmachvoll in den Ruhestand gezwungen wurde, fügen. Er hat die Gründe für das als unehrenhaft empfundene Ende seiner Laufbahn nie akzeptiert, fühlte sich verraten und zutiefst gekränkt. Nachdem sich auch seine Nachfolger dem Aufbegehren der Menschen auf der Straße beugen mussten und er sich – bereits schwerkrank – nach der Wiedervereinigung wegen der Todesopfer an der Mauer auch noch vor einem bundesrepublikanischen Gericht zu verantworten hatte, bäumte er sich noch einmal kämpferisch auf. Nicht nur, dass Erich Honecker vor der 27. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts seine nach Meinung vieler wohl eindrucksvollste Rede hielt, er verstieg sich schließlich in eine vielsagende Hypothese: "Ich hätte das mit Kohl nie gemacht." Obschon die Bürger des untergegangenen Staates diesem mehrheitlich nicht nachweinen, so hängen viele noch heute der Illusion an, wie schön es doch hätte werden können. Dass es diese Illusion noch heute gibt, das ist Honeckers lebendiges Erbe.