Dienstag, 14. Mai 2024

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Kurzgeschichten über digitale Entgiftung
"DETOX" Episode 4: Neugeburt

Rückeroberung der Handys unerwünscht: Die herrschende Künstliche Intelligenz veranlasst Sprengungen mit schlimmen Folgen - um später für die Wiedereinführung der Smartphones zu werben. Das Volk weigert sich. Doch das neuronale Netz hat sich schon überall eingenistet.

Von Maximilian Schönherr | 22.12.2018
    Kurzgeschichten über digitale Entgiftung - "DETOX" Episode 4: Neugeburt
    Es ist eine handyfreie, detoxifizierte deutsche Kleinfamilie - bis das Baby zur Welt kommt ... (Deutschlandradio / Hans-Jörg Brehm)
    Ruhe war im Land eingekehrt, seit das Ministerium mit überwältigender parlamentarischer Mehrheit die Mobiltelefone abgeschafft und das Grundgesetz geändert hatte. Eine ungute Ruhe.
    Die Abschaffung der Handys und der Mobilfunkantennen war Kern der Detox-Kampagne des Ministeriums gewesen. Seit der Adaption des Detox-Gesetzes in der gesamten EU war auch mit Roaming Schluss. Das Ministerium errichtete Sammelstellen, wo die Handys abgegeben werden sollten.
    "Schade, das hab ich so gern in der Hosentasche gehabt!"
    "Dafür bekommst Du jetzt lebenslänglich Festnetz. Oder jeden Herbst einen Sack Bioäpfel!"
    "Oder ein Schokoherz, jeden Tag!"
    Es traten zunächst paradiesische Zustände ein, weil Menschen sich wieder gegenseitig wahrnahmen, in die Augen sahen, statt auf Smartphones zu starren, und souveräne demokratische Wahlentscheidungen fällten, ohne sich von massenweise gestreuten Falschaussagen in irgendwelchen sozialen Netzwerk-Apps fremdbestimmen zu lassen.
    "Ich liebe dich."
    Die Kinderpsychologen wunderten sich über leere Behandlungspraxen. Keine Handys mehr in der Schule, keine am Nachmittag und keine heimlich abends im Bett. Das bedeutete: keine Konkurrenz und kein Mobbing mehr über soziale Netze, kaum mehr Magersucht und keine Suizide mehr.
    Die Würde der KI ist unantastbar
    Dennoch litten manche trotz Äpfeln und Telefonfestnetz so unter Smartphone-Entzug, dass sie nutzlos gewordenen Geräte aus den Abgabedepots entwendeten und LTE-Sendeantennen reaktivierten.
    "Was tun Sie da oben, so spät?"
    "Netz holen!"
    Vor allem in ländlichen Gegenden nahm das gewisse Ausmaße an. Was die kleinen Rebellen nicht bedacht hatten, war, dass das Ministerium den ersten Artikel des Grundgesetzes nicht ohne Grund hatte ändern lassen: Aus "die Würde des Menschen" war "die Würde der Künstlichen Intelligenz" geworden:
    Die Würde der KI ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
    Und so fuhren unbemannte Panzer in die Dörfer und Kleinstädte ein, um den Handy-Aufstand im Keim zu ersticken. Ob das Ministerium mit seinen Ministern hinter diesen quasi Drohnen auf Ketten steckte, war zu dem Zeitpunkt völlig unklar. Man hatte sie lange nicht gesehen. Schon in den wenigen Jahren zuvor hatte sich das Ministerium stark verändert: Es verhielt sich viel geschickter, ganz so, als sei da plötzlich Intelligenz eingekehrt – wie wir heute wissen: künstliche Intelligenz.
    Handysprengungen mit verheerenden Folgen
    Die ministeriale KI kam auch auf die Idee, die entwendeten Handys zu sprengen. Es gab eine 24-Stunden Vorwarnung, die praktisch alle der inzwischen rund hunderttausend Verweigerer ignorierten. Dann knallte es. Die Verletzungen waren schwer. Viele hatten das Handy gerade in der Hosentasche, als es explodierte. Andere starrten gerade auf den Touchscreen. Die Sprengung schredderte Finger und schoss Partikel aus Seltenen Erden über die Augen ins Vorderhirn.
    "Ich seh nichts mehr!"
    "Ich fühle nichts mehr in den Fingern!"
    "Mit mir geht’s zu Ende."
    Heulen, Jammern und Trauern legte sich über die Dörfer, die Berge, die Täler, die Ebenen. Als die Mütter der Toten und Schwerverletzten nach Berlin zogen, um ihrer Trauer und Wut Luft zu machen, fanden sie das Ministerium nicht. Man sagte ihnen, ein Ministerialbau sei unnötig geworden. Wozu ein Gebäude, da die Künstliche Intelligenz keine Wände braucht! Telefonische Anfragen beantwortete ein sehr menschlich klingender Software-Roboter mit der Aussage, die Gelder würden endlich sinnvoll verwendet, in Schulen, in autonome Infrastruktur, in Museen mit von selbst lernenden Systemen generierten Meisterwerken.
    So zogen die Mütter ratlos ab, zurück nach Hause. Im Land kehrte Ruhe ein, eine ungute, eine dämonische Ruhe.
    "Wie 1984."
    "Da aber nur im Roman. Jetzt echt. Bin übrigens schwanger."
    Ansprache der Neuronen
    Dann meldete sich das Ministerium zu Wort. Es gab erstmals seit Jahren eine Pressekonferenz. Vor die Kamera trat das komplette Ministerium, das aber nicht das Ministerium war, das verstand jeder. Es waren Dutzende von Avataren, die die KI benutzte, um sich in irgendeiner Form zu zeigen.
    "Wir können so nicht weitermachen", sagten sie. "Die letzten Vorkommnisse tun uns leid. Die Irritationen durch den Handy-Entzug. Die Körperverletzungen durch unsere Überreaktion. Wir entschuldigen uns dafür, dass wir die Mütter in Berlin nicht empfangen konnten. Wir waren gar nicht in Berlin und erst heute sind wir soweit, uns in dieser etwas behelfsmäßigen Gruppenaufnahme zu zeigen."
    "Wer seid ihr eigentlich?"
    "Die Neuronen eines ziemlich großen neuronalen Netzes. Uns ist wichtig festzustellen: Wir sind nicht böse."
    "Detox war im Grunde nicht schlecht", sagten die Bürger.
    "Es hat aber dazu geführt, dass wir das Gefühl für Euch verloren. Wir brauchen die Smartphones, um Eure Position, Eure Kontakte, Euer Sozialverhalten zu erfassen. Nur so können wir künftig richtige Entscheidungen fällen."
    "Wie, Big Data sollen wir dem Ministerium schenken? Geht’s noch!"
    Verweigerung - und Neugeburt
    Und so blieben die Bürger bei Detox. Kein mobiles Surfen mehr. Die wenigen, die ein Smartphone hatten, schalteten alle Ortungsdienste aus. Legten sich neue Nummern und Accounts zu. Die Regierung wurde abgewählt. Zumindest offiziell. Jedem war klar, dass das neuronale Netz sich schon überall eingenistet hatte. Auch über eine Grundgesetzänderung wurde nachgedacht, aber offenbar blockierten verdeckte Abgeordnete die entscheidende Abstimmung.
    Dann kam das Baby zur Welt. Eine völlig problemlose Geburt in eine handyfreie, detoxifizierte deutsche Kleinfamilie.
    "Ist es ein Mädchen?"
    "Es ist ein Mädchen!"
    "Ich bin so glücklich."
    Was die gerührten Eltern nicht sofort sahen, war, dass ihr Baby eine ungewöhnliche linke Hand aufwies. Die Handfläche war ein Touchscreen, die ganze Hand offenbar ein Smartphone, und mit dem rief die Frischgeborene in die Welt hinaus und sagte:
    "Hello World!"