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Nur ein Prozent Vieren an deutschen Unis

Eine absolute Vergleichbarkeit von Noten sei unmöglich, sagt auch Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Er sieht aber einen klaren Trend zu besseren Noten und fordert hier ein Gegensteuern. Es werde immer ein subjektives Element erhalten bleiben: "Nur das müssen wir einfach reduzieren, soweit es geht."

Wolfgang Marquardt im Gespräch mit Dirk Müller | 12.11.2012
    Dirk Müller: Wir wollen über die Noten mehr wissen, reden darüber jetzt mit Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrates, der die Bundesregierung und die Länder berät. Guten Morgen!

    Wolfgang Marquardt: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Marquardt, verteilen Sie lieber Dreien?

    Marquardt: Nein, um das geht's überhaupt nicht. Unser Anliegen ist wirklich, dass wir einen Beitrag leisten, alle zusammen - wir heißt insbesondere die Fachgesellschaften im Wissenschaftssystem -, dass wir uns klar werden, was hier passiert, dass wir sehen, dass einfach Noten nicht so aus dem Kontext gerissen vergleichbar sind. Und dass wir alles dafür tun, dass wir objektive und vergleichbare Noten auch vergeben.

    Müller: Sie haben ja viele Zahlen dort herausbefördert, wir haben das eben genannt, ich möchte das noch mal nennen. 80 Prozent aller Studenten haben abgeschlossen im vergangenen Jahr mit mindestens "Gut" oder mit "Sehr Gut". Das heißt, es hat nur 20 Prozent gegeben für schlechtere Noten. Um auch das noch einmal zu wiederholen, wenn ich das richtig gelesen habe: Im Grunde nur ein Prozent "Vieren" hat es gegeben. Kann das oder muss das falsch sein?

    Marquardt: Das könnte falsch sein, das muss aber nicht. Natürlich bedauern wir und beklagen wir, dass der Trend zu guten Noten deutlich ist. Das ist nicht zum ersten Mal, das war in den vorherigen Untersuchungen, die wir gemacht haben vor fünf und vor zehn Jahren, auch schon der Fall. Aber man muss natürlich auch die vielfältigen Einflussfaktoren sehen. Wir haben eine Auswahl der Studierenden am Anfang, am Eingang, wir haben harte Prüfungen. Gerade wenn ein Studium, wie es heute beim Bachelor und Master ist, aus Teilprüfungen besteht, dann werden viele Studierende, die anfangen, auch in einem Studium gar nicht reüssieren. Wir haben Abbruchquoten auch von 50 Prozent. Die werden natürlich insgesamt das Notenspektrum verbessern, das ist klar, aber es erklärt nicht, warum die Noten besser geworden sind. Da ist eine schleichende Aufweichung garantiert da und der gilt es, entgegenzuwirken.

    Müller: Sind das Gefälligkeitszensuren?

    Marquardt: So weit würde ich nicht gehen. Ich glaube nicht, dass da ein expliziter Mechanismus dahinter steht. Das ist eher ein Anpassungs-, ein schleichender Anpassungsdruck, den man da feststellen kann ...

    Müller: Bitte! – Ich wollte Sie nicht unterbrechen!

    Marquardt: Man möchte natürlich den Studierenden keine Lebenschancen verbauen, es gibt durchaus auch Wettbewerb zwischen den einzelnen Fächern. Und man möchte nicht unbedingt jetzt derjenige sein, der sich durch harte Zensurgebung und schlechtere Noten im Schnitt auszeichnet in einem Kollegium. Also, das sind subtile Anpassungsmechanismen, die wir explizit machen müssen, über die wir sprechen müssen. Und dann, glaube ich, kann man schon sehr viel gewinnen.

    Müller: Der Wettbewerb der Hochschulen untereinander hat ja zugenommen in den vergangenen Jahren. Das ist auch Ziel der Politik gewesen, auch Ziel der Hochschulleitungen. Führt mehr Wettbewerb dazu, dass die Universitäten und auch die Führungen sagen, wir vergeben, verteilen gute Noten, damit mehr Studenten kommen?

    Marquardt: Das könnte sein. Das ist klar, dass jedes Anreizsystem auch negative Auswirkungen hat. Ob das in diesem Fall der Fall ist, weiß man einfach nicht. Das ist übrigens insgesamt ein Problem bei der ganzen Debatte. Wir können das Ergebnis gewissermaßen, die Notenverteilung in den verschiedenen Fächern, deutschlandweit erfassen. Das ist letztlich Inhalt des Arbeitsberichts des Wissenschaftsrats, diese statistische Auswertung. Wir haben allerdings Mühe oder überhaupt keine Grundlage, das Zustandekommen dieser Daten, die wir hier sehen, auch wirklich zu beurteilen. Dazu ist es unbedingt nötig, dass wir auch im Sinne von Hochschulforschung den Ursachen für diese Ergebnisse, die wir hier sehen, mal nachgehen. Und da wird leider viel zu wenig getan.

    Müller: Haben Sie, Herr Marquardt, vielleicht ohne das wissenschaftlich nachweisen, begründen zu können, denn eine Erklärung dafür?

    Marquardt: Über die Spreizung der Noten – ich greife einfach mal die Spreizung der Noten heraus. Wir hatten über die Trends schon geredet. Wir haben ja gesehen, dass in einem Fach und zwar fast unabhängig vom Fach, wenn man in Deutschland die Standorte mit den besten und schlechtesten Noten vergleicht, dann ist da so ein Notenschnitt, ganz grob gesprochen, dazwischen. Das muss aber nicht heißen, dass man an dem Standort mit den schlechten Noten schlechter bewertet als an dem mit dem guten Notendurchschnitt. Warum? - Weil es eben klar ist, dass die Studierenden, die bessere Zensuren schaffen, weil sie mit besseren Eingangsvoraussetzungen, also einem besseren Abitur da reingehen, dass die die Studienorte bevorzugen, die sehr attraktiv sind. Und dass die Studienorte, die eben attraktiv sind, die besseren Studenten auch auswählen können. Wir haben sozusagen ein Push-Pull-Phänomen, das die besseren Studierenden zu den attraktiveren Standorten bringt. Und selbst wenn man objektiv bewerten würde, würde man Unterschiede sehen. Ganz wichtig ist es für die Abnehmer der Absolventen, also die Arbeitgeber am Ende, dass die Noten im Kontext betrachten und sich im Klaren sind, wie die Datenlage ist, dass man also nicht eine Note in München genauso interpretiert wie eine Note in Leipzig.

    Müller: Das müssen Sie uns erklären, weil München definitiv härter bewertet?

    Marquardt: Nein. Das habe ich jetzt einfach so als zwei verschiedene Standorte genommen. Und das ist nicht so, dass das über alle Fächer jetzt ist. Wenn Sie jetzt einen Standort nehmen, dann können Sie nicht sagen, dort sind die Noten in allen Fächern besser oder schlechter. Das ist nicht so. Da finden Sie wirklich alles.

    Müller: Vergleichbarkeit ist das Stichwort, was Sie auch eingebracht haben. Die Unternehmer sagen sich jetzt im Grunde, die haben gar nichts von diesen Noten. Oder sie müssen im Grunde so clever, so intelligent, auch so informiert sein, das Ganze in den Kontext zu setzen. Ist das zumutbar?

    Marquardt: Das machen die Unternehmen bereits. Ansonsten könnten sie Noten gar nicht als Vorauswahlkriterien in ihren Bewerbungsverfahren benutzen. Man muss sich eben auch klar sein, dass Noten nicht das einzige Bewertungs- und Auswahlkriterium in einem Bewerbungsverfahren sind. Das ist ein Kriterium von vielen. Wenn die Bewerberzahlen auf eine Stelle allerdings groß sind, dann ist klar, dass man aufgrund der Papierform eine Vorauswahl treffen muss. Und da ist Note ein wichtiger Beitrag – auch nicht der einzige, aber natürlich ein wichtiger Beitrag. Insofern ist es nicht beliebig, wie man mit der Notenvergabe umgeht. Aber die Unternehmen können da, glaube ich, sehr gut damit umgehen. Wo wir eher ein Problem sehen im Wissenschaftsrat ist, dass wir eben jetzt an den Hochschulen selbst mit dieser Notenvergabepraxis konfrontiert sind, wenn es darum geht, den Übergang vom Bachelor in den Master zu organisieren, also dort Auswahlkriterien festzulegen, die einfach objektiv sind. Und da ist im Moment zumindest die Note ein Kriterium mit einem starken Gewicht – auch nicht ausschließlich an vielen Standorten, aber mit einem sehr starken Gewicht.

    Müller: Aber das ist ja ziemlich frustrierend. Das heißt, wenn jemand jetzt eine Eins oder eine Zwei macht im Bachelor, ist das nicht automatisch Qualifikation genug, um den Master-Studiengang aufnehmen zu können? Welche Kriterien gibt es denn darüber hinaus?

    Marquardt: Es gibt an manchen Standorten Eignungstests, Auswahlgespräche, also über die Zensuren hinausgehende Bewertungssysteme. Ob sich die durchsetzen werden, ob die dann zu mehr Objektivität führen, ich glaube, da ist es einfach zu früh, noch ein Urteil zu fällen. Klar ist, dass da ein zusätzlicher Aufwand entsteht, ein nicht unerheblicher Aufwand, wenn wir die großen Zahlen an Studierenden einfach mal ins Auge fassen, die da bewertet werden müssen. Und es wäre natürlich wünschenswert, wenn dieser Zusatzaufwand auf ein Minimum wirklich reduziert wird. Und deshalb finde ich, es ist wichtig, dass wir Vergleichbarkeit der Notengebung wenigstens in einem Fach und verwandten Fächern anstreben. Und da sehe ich die Fachgesellschaften, also die Fachleute in einem Fach – das können die Fakultäten sein, die Fakultätentage oder auch die Fachgesellschaften -, die sich auf Kriterien und Standards einigen sollten.

    Müller: Hört sich so ein bisschen an, Herr Marquardt – Entschuldigung, wenn ich hier reingehe -, wie das Zentralabitur.

    Marquardt: Ja, wobei das ist natürlich illusorisch, dass man in der Fülle der Fächer sich auf einen zentralen Katalog von Prüfungsfragen einigt. Das ist, glaube ich, auch nicht zielführend. Da ist die Vielfalt, die Wissenschaft braucht, die wäre da in Gefahr. Aber man kann sich über Standards und über Anforderung im Sinn von welche Kompetenzen müssen auf welchem Niveau am Ende eines Studiums X erreicht werden, darüber kann man sich einigen und austauschen. Und das heißt nicht – und da bin ich schon bei Herrn Alberts, den Sie zitiert haben -, dass man absolute Vergleichbarkeit der Noten schaffen wird. Da wird natürlich immer ein subjektives Element drin sein. Nur das müssen wir einfach reduzieren, soweit es geht.

    Müller: Aber im Grunde, Herr Marquardt, ist es so, wenn wir das am Ende noch mal zusammenfassen, all diejenigen, die jetzt zugehört haben, gilt auch für mich: Die Noten sind nicht mehr so viel wert wie früher?

    Marquardt: Waren sie mal mehr wert?

    Müller: Früher war alles besser, sagt man in der Regel ja.

    Marquardt: Ja, aber das würde ich nicht so stehen lassen wollen. Wie gesagt, der einzige Trend, den wir sehen, ist wirklich eine Verschiebung des Notenspektrums zu besseren Noten. Alles andere, wenn wir sonst die Daten anschauen aus den letzten zehn Jahren, dann sehen Sie keine signifikanten qualitativen Unterschiede. Also früher war alles besser, dem würde ich ein bisschen entgegenwirken wollen.

    Müller: ..., sagt Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrates, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Marquardt: Gerne! Auf Wiederhören, Herr Müller!

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