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Obdachlosenzeitschrift "Situation Sthlm"
Ein Hochglanzmagazin für den guten Zweck

Promigeschichten, Gesellschaftskritik, Filmrezensionen: Die schwedische Obdachlosenzeitschrift "Situation" bietet eine bunte Themenmischung und hat damit seit über 20 Jahren Erfolg. Sie ist aber viel mehr als nur ein Printmagazin.

Von Carsten Schmiester | 17.01.2018
    Eine lächelnde Frau auf der Titelseite der schwedischen Obdachlosenzeitschrift "Situation Sthlm"
    "Situation Sthlm" sieht deutlich anders aus als viele andere Obdachlosen-Magazine (Situation Sthlm)
    Stockholm, U-Bahnhof T-Centralen, mitten in der Stadt. Das übliche Gewusel: Pendler, Schüler, Touristen. Und dazwischen steht Ann. Sie ist obdachlos und eine von etwa 300 Verkäuferinnen bei "Situation", einem preisgekrönten Hochglanzmagazin, immer mit einem Promi auf dem Titel. Aktuell ist es die gerade von Hollywood nach Schweden zurückgezogene Schauspielerin Lena Olin. Ann verkauft gut an diesem Morgen, aber das war nicht immer so.
    "Anfangs war es hart, mit den Zeitungen da zu stehen. Richtig hart. Aber wenn man anfängt, zu verkaufen und nette Menschen auf einen zukommen, mit einem reden, wissen wollen, wie es einem geht, dann wird es besser. Man darf ja ruhig selbstbewusst sein, denn man macht ja etwas, um der Gesellschaft nicht so sehr zur Last zu fallen", sagt die Verkäuferin.
    Verkäufer schreiben an Zeitschrift mit
    Das Konzept ist bekannt, die Umsetzung bemerkenswert professionell. Das Magazin mit knapp 70 Seiten erscheint seit 1995 monatlich mit Promigeschichten, Portraits von Stockholmer Wohnbezirken, sozialkritischen Reportagen, mit Buch-, Film und Musikkritiken.
    Eine Besonderheit: Immer auf Seite sechs schreiben Verkäufer über ihren Alltag, ihr Leben. "Situation" verkauft monatlich etwa 33.000 Exemplare, ist aber auch online sehr präsent und hat nach eigenen Angaben durchschnittlich etwa 150.000 Leser. Das Magazin kostet 50 Kronen, umgerechnet gut fünf Euro, die Hälfte davon geht an die Verkäufer.
    Mehr als nur ein Hochglanzmagazin
    Und weil Schweden inzwischen fast bargeldlos funktioniert, hat die Zeitung immer wieder mit modernem Vertrieb auf sich aufmerksam gemacht. Die Verkäufer haben Kartenleser dabei, man kann auch per SMS oder – ganz neu – mit dem Handy-zu-Handy Überweisungdienst "Swish" bezahlen.
    Da hat sich über die Jahre viel verändert, das Grundprinzip ist geblieben und wird weiter gelebt: Es geht nicht nur darum, den Obdachlosen ein Einkommen zu ermöglichen, sie werden beraten, bei Behördengängen unterstützt. Das macht, neben anderen Mitarbeitern, Jogge:
    "Die Leute kommen morgens rein, frühstücken hier, checken Emails und Post, dann ziehen sie los und verkaufen. Später kommen sie wieder. Wir begleiten sie durch den Tag, helfen und machen Mut, wenn etwas passiert ist. Manche sind traurig, andere froh. Und mein Job ist es, Mitmensch zu sein."
    Hilfe für Bedürftige
    Mitmensch in einem Land, dass sich doch eigentlich "humanitarian superpower", "Supermacht der Menschlichkeit", nennt und wo es eigentlich doch niemanden geben dürfte, der durch das soziale Netz fällt. Aber das ist die schwedische Theorie, die Praxis hat mit Bullerbü immer weniger zu tun. Viele, wie diese Frau, die anonym bleiben wollte, verlassen sich deshalb nicht länger nur auf den Staat, sondern auch auf das Team von "Situation":
    "Ich kriege hier immer eine Antwort auf meine Fragen. Sie haben Zeit für mich. Hier finde ich Unterstützung und Freude. Es gefiel mir hier von Anfang an."