Freitag, 26. April 2024

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Ökonomie der Aufmerksamkeit

"Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen." So heißt es gleich zu Beginn der alle Aufmerksamkeit verdienenden Abhandlung von Georg Franck mit dem klar-sachlichen und eben deshalb überraschenden Titel Ökonomie der Aufmerksamkeit. "Ökonomie" und nicht etwa "Psychologie", "Kulturgeschichte" oder "Phänomenologie" der Aufmerksamkeit. Der in Wien Architektur und Raumplanung lehrende Autor bevorzugt klare und manchmal auch plakative Formulierungen. Doch der Eingangssatz seines Buches, der so plakativ klingt, ist wohl eher noch untertrieben. Denn Drogen sind das, was wir uns zusätzlich zur Existenzfristung noch leisten, um den Reiz des Daseins bis zum Glühen zu steigern. Aufmerksamkeit aber ist kein Zusatzreiz, sondern das Überlebensmittel schlechthin. Die erste Tat von Neugeborenen ist es, durch intensives Schreien Aufmerksamkeit auf das grundstürzende Faktum ihres Vorhandenseins und ihrer extremen Zuwendungsbedürftigkeit zu lenken. Heranwachsende Kinder gieren nach Aufmerksamkeit. Und erst für den älter Gewordenen, der so viel Aufmerksamkeit anderer erhalten hat, daß er gewissermaßen eine Rücklage gebildet und Aufmerksamkeits-Kapital angelegt hat, wodurch er Kränkungen und Nichtbeachtung eine Weile zu überstehen vermag, kann es so scheinen, als sei die Aufmerksamkeit anderer für das eigene Tun und Lassen eine angenehme Dreingabe.

Jochen Hörisch | 28.06.1998
    Nun liegt aber keine weitere unter den Hunderten von psychologischen Traktaten über kindlichen Narzißmus, Ichstärke, wechselseitige Anerkennung, Selbstbestätigung, Muttersöhne, Vätertöchter oder dergleichen vor. Georg Franck ist es vielmehr gelungen, in unzweifelhaft wichtigsten Kontexten und Problemfeldern ein wirkliches Desiderat zu entdecken und die entdeckte Theorielücke sogleich mit seinem - im Untertitel bescheiden als "Entwurf" charakterisierten - Buch zu füllen. Was nämlich fehlte bislang?

    "Es fehlt eine Einkommens- und Verteilungstheorie der Beachtung. Es fehlt die ökonomische Theorie des Prestiges, der Reputation und der Prominenz. Die theoretische Ökonomie schweigt zum Wandel der Alltagskultur und zum Wandel im Streben der Wirtschaftssubjekte. Dabei wäre es ein grober Irrtum zu glauben, die Ökonomie sei auf Fragen der Geldwirtschaft und des Haushaltens mit materiellen Gütern festgelegt. Die Unterstellung rationaler Vorteilssuche bedeutet keine Vorauswahl, was die Art des Haushaltens oder die Art der getauschten Güter betrifft. Sie setzt lediglich voraus, daß die Kategorien der Wunscherfüllung und Bedürfnisbefriedigung greifen. Ob die Mittel, die dafür geeignet sind, materieller oder postmaterieller Natur sind, ist sekundär."

    Daß wir auf dem Weg zu einer postindustriellen Gesellschaft sind, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Der Börsenwert einer Softwarefirma wie SAP übertrumpft den einer Aktiengesellschaft, die immer noch harte Stahlträger herstellen, um ein Vielfaches. Georg Francks Pointe ist nun aber nicht, noch einmal das zeitdiagnostische Stichwort "postmateriell" durchzudekinieren. Vielmehr geht es ihm darum zu zeigen, daß wir auch in postmateriellen Sphären die Ökonomie nicht loswerden. Eine ökonomische Theorie im engeren Sinne kann seine Theorie der Aufmerksamkeit gleich aus mehrfachen Gründen sein. Die Ökonomie ist das Funktionssystem von Gesellschaften, dem das Problem der Knappheit an Gütern und Dienstleistungen zu lösen anvertraut ist. Aufmerksamkeit aber ist ein notorisch knappes Gut. Jeder Autor wird sich eine noch höhere Auflage seines Buches, jeder Mann und jede Frau noch mehr VerehrerInnen und jeder Talkmaster noch höhere Einschaltquoten wünschen. Aufmerksamkeit ist, so die eigentliche Pointe von Francks Theorie, tatsächlich eine Währung. So wie man nie genug Geld haben kann, so kann man nie genug Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Lasten des Überflusses, also Finanz- oder Aufmerksamkeitsverwaltung, nimmt man in der Regel billigend in Kauf.

    Aufmerksamkeit ist weiterhin funktional mit Geld vergleichbar, weil sie wie das monetäre Medium zugleich heiß begehrt und seltsamer Weise doch hochgradig indifferent ist. Das Medium Geld ist indifferent gegenüber den Zeitpunkten des Tauschs, den tauschenden Personen und den getauschten Gütern. Auch Aufmerksamkeit ist indifferent. Und dies, obwohl es erst einmal ganz anders scheint. Georg Franck ist bei diesem Aspekt seines Buches, das sonst Wiederholungen nicht scheut, allzu knapp. Doch er hat immerhin eine Definition des Wortes ‘Aufmerksamkeit’ parat, die darauf hinweist, daß es mit der Spezifik oder eben Indifferenz von Aufmerksamkeit eigentümlich bestellt ist:

    "Das Aufmerksamsein sei, ganz im Sinne des umgangssprachlichen Wortgebrauchs, als die zugewandte und zugleich wach daseiende Geistesgegenwart verstanden. Mit Aufmerksamkeit wird immer sowohl die Kapazität zu selektiver Informationsverarbeitung als auch der Zustand der Geistesgegenwart angesprochen sein. Und mit dem Zustand der Geistesgegenwart wird, um auch dies zu betonen, nie nur die Bereitschaft zur Informationsverarbeitung und das Aktiviertsein von Hintergrundwissen gemeint sein, sondern immer auch die bewußte Präsenz." Das Problem ist nun, daß der wachen Zuwendung an andere engste Grenzen gesetzt sind. Denn "noch kein Subjekt hat je die inneren Zustände eines anderen inspiziert. (...) Es führt keine Tür aus dem eigenen Bewußtsein hinaus und kein Fenster zum anderen hinüber. Das andere Bewußtsein ist immer die Projektion aus dem eigenen heraus. Unsere subjektive Erlebnissphäre ist eine fensterlose Monade. Ein jedes Bewußtsein ist eine Welt für sich. In dieser Welt kommt alles vor, was für das Bewußtsein Wirklichkeit ist."

    Wir verfügen eben - anders als Peregrinus in E.T.A. Hoffmanns witziger Erzählung "Meister Floh" - über kein "Gedankenmikroskop", das uns erlaubt, unmittelbar die mentalen Zustände, Gedanken und Gefühle von sogenannten Mitmenschen zu inspizieren. Grade weil das so ist, gerade weil Introspektion unmöglich ist, ist eine Ökonomie der Aufmerksamkeit angezeigt. So wie das Medium Geld auch deshalb erforderlich ist, weil A und B (um von X und Y zu schweigen) sich nie auf intuitive oder konsensuelle über den Wert dessen, was sie haben oder aber eben haben wollen, einigen können. Geld distanziert und objektiviert - so wie die Münze, in der Aufmerksamkeit gerechnet wird: Prominenz. Wer prominent ist, ist eben prominent - soll heißen: es ist erst einmal ziemlich gleichgültig, ob sich diese Prominenz der Fähigkeit verdankt, einen Ball ein wenig geschickter als andere über ein Netz zu befördern, das hohe C zu singen, mit einem eleganten Konkurs Banken auszutricksen, einen Krieg zu beginnen oder zu beenden oder ein gescheites Buch zu schreiben.

    Geld und Aufmerksameit sind auch insofern vergleichbar, als sie kapitalisiert werden können. Die Prominenten sind die klassischen Kapitalisten der Aufmerksamkeit; Leute mit hoher Reputation verfügen über einen beachtlichen Reichtum an bereichsspezifischer Beachtung (z.B. als Juristen, wissenschaftliche Gutachter oder Mediziner); und Personen mit hohem Prestige genießen eine unspezifische Form kapitalisierter Beachtung. So entsteht eine eigentümliche Dynamik, die der des Geld heckenden Geldes durchaus vergleichbar ist. Prominenz wirft Zinsen ab. Machen Sie den Test, liebe Zuhörer. Die banalste Äußerung eines Prominenten wird höher gehandelt als Ihre geistreichste Formulierung. In den Worten von Georg Franck:

    "Mit wachsendem Reichtum wird der ursprüngliche Grund der Beachtung zunehmend durch die Attraktivität, die die Beachtlichkeit von sich aus entwickelt, überdeckt. Das Einkommen, das als Zins und Zinseszins anfällt, riecht nicht mehr nach dem Ursprung. Auch die Verrenkungen, die man manchmal unternahm, um im Mittelpunkt zu stehen, sind vergessen, wenn sich die andern krumm machen, um etwas von der beachtlich gewordenen Aufmerksamkeit zu erhaschen. Schließlich steht der intellektuelen Schmerzlichkeit des Bewußtseins um den preislichen Charakter des Selbstwerts die kreatürliche Lust gegenüber, sich an Beachtung reich zu fühlen. Wer an Beachtung arm bleibt, dem bleibt die Schreckvorstellung erspart, daß seine Selbstwertschätzung die Züge eines Marktpreises tragen könnte."

    An die aufschlußreiche Grenze der Vergleichbarkeit von Geld und der Währung Aufmerksamkeit kommt Georg Francks Theorie gleich zweimal. Beide Grenzlinien gehen - wie sollte es anders sein? - ineinander über. Zum einen gibt es so etwas wie autonome Währungsgebiete. Es sind die der Wissenschaft. Zwar ist der Wissenschaftsbetrieb alles andere als aufmerksamkeitsindifferent. Umgekehrt: "Die Wissenschaft ist ein einziger Tanz um die Aufmerksamkeit." Gerade ein Wissenschaftler verzehrt sich, neidvoll allen Kollegen die Beachtung mißgönnend, die ihre mäßigen Forschungen und Werke finden, nach Aufmerksamkeit. Ihm ist "Reputation wichtiger als Geld." Aber diese Repuation ist bereichsspezifisch. Ein Wissenschaftler wird keine Einwände haben, wenn die Bild-Zeitung über ihn berichtet. Wichtiger aber ist ihm die Anerkennung der Fachkollegen. Deshalb auch ist es schwer vorstellbar, daß die prall gefüllte Südkurve des Westfalen-Stadions eine Begeisterungswelle auf die nächste folgen läßt, weil ein Philosophieprofessor in der Hegel-Vorlesung besonders elegant den Fallrückzieher einer doppelten Negation erklärt hat. "So ein Tag so wunderschön wie heute" werden die akademischen Massen nach dem interpretatorisch siegreichen Umgang mit einer Hölderlin-Elegie in einer Germanistik-Vorlesung nicht singen.

    Wissenschaftliche Aufmerksamkeit ist sozusagen eine Edelwährung. Und diese Edelwährung macht (zweite Grenzlinie der Vergleichbarkeit von Geld und Aufmerksamkeit) auf eine Verschiebung unserer Leitorientierung aufmerksam, in deren Analyse Georg Francks Buch seinen Höhepukt findet. In der Tat spricht nämlich einiges dafür, daß Geld und Aufmerksamkeit nicht nur zwei Währungen sind, sondern daß Aufmerksamkeit auch das klassische Medium Geld überformt und zurückdrängt. Wie das? Erste, vergleichsweise banale Antwort: wenn in reichen Gesellschaften zwar nicht alle, aber doch bemerkenswert viele Menschen so viel Geld haben, daß materielle Knappheit kein Hauptproblem mehr darstellt, wächste quasi automatisch der Wert des wirklich Knappen. Und wirklich knapp ist in der Phase hochindustrieller Medientechnologie und ihres Overloads an Aufmerksamkeitszumutungen eben die Ressource Aufmerksamkeit. Anachronistische Menschen können das Quantum und die Intensität ihrer Aufmerksamkeit nicht entfernt in dem Maße steigern können, in dem die öffentlich ausgestellten und Aufmerksamkeit heischenden Ereignismassen wachsen.

    Die zweite, spezifischere Antwort auf die Frage, ob die Währung Aufmerksamkeit die klassische Geldwährung marginalisiert, lautet: die Informationsflut ist bemerkenswert billig. Ganz konkret: Geld spielt im Internet eine sensationell geringe Rolle. Einige Indizien sprechen dafür, daß die kapitalistische Gesellschaft mit ihrem Leitmedium Geld sich selbst überholt. Information und Aufmerksamkeit werden zur neuen Leitwährung und zum neuen Leitmedium.

    "Die hoffnungsvolle Lesart der gemischten Ökonomie (von Aufmerksamkeit und Geld) wäre also die, daß sich in der wachsenden Bedeutung der Information und Attraktion auch ein Geländegewinn für Wirtschaftsweisen abzeichnet, in der Geld nicht mehr die erste Rolle spielt. (...) Die Frage nach dem Geländegewinn einer post-pekuniären Wirtschaftsweise ist spätestens seit dem Erfolg nicht mehr aus der Luft gegriffen, den der Großversuch eines alternativen Informationsmarkts unter dem Namen Internet verzeichnet. Im Internet werden nur noch die Beutzungsgebühren für die technische Infrastruktur in Geld bezahlt. Die Wahrnehmung des Informationsangebots selber ist bis auf Ausnahmen frei. Die große Mehrzahl der Informationsanbieter hat es nur noch auf die Aufmerksamkeit der Teilnehmer abgesehen. Was zählt, sind die Zahlen der Zugriffsstatistik und die inhaltlichen Reaktionen aus dem Publikum. Allerdings hat kein Informationsmarkt je solche Wachstumsraten verbucht wie das Internet. Die Wachstumszahlen der Anbieter sind atemberaubend. Und die Netzgemeinde wehrt sich vehement dagegen, dem Internet ein allgemeinverbindliches pekuniäres Zahlungssystem einzuziehen."

    Die derzeitigen Kämpfe um Pay-TV oder um die Kommerzialisierung des Internets, auf die Georg Franck leider nur en passant eingeht, sind mehr als nur ein Gerangel zwischen der Kirch-Gruppe oder der Murdoch-Gruppe und den politischen Gruppierungen, die die Mediengroßkonzerne noch nicht gekauft haben. Die verbissenen Versuche, Information und Aufmerksamkeit (im TV-Fall also Werbung) teuer zu verkaufen, sind auch Manifestationen eines in seinen Fernwirkungen schwer zu überschätzenden Kulturkampfes. Er tobt um nichts Geringeres als um die Frage, ob Geld weiterhin das Leitmedium moderner Gesellschaften sein muß, kann und soll.

    "Der Kapitalismus des Geldes war eine Tragödie. Der Kapitalismus der Aufmerksamkeit trägt zweifellos närrische Züge. Nur gehört es zur Komödie, daß die Narretei sehr ernst genommen wird." So heißt es lakonisch in Georg Francks Abhandlung. Sie verdient alle Aufmerksamkeit. Nicht auszuschließen, daß eine Ökonomie der Aufmerksamkeit einmal ein institutionalisiertes Grundlagenfach im Wissenschaftsbetrieb sein wird. Aufmerksamkeit über enge Fachgrenzen hinaus dürfte ihm sicher sein. Georg Francks "Ökomonie der Aufmerksamkeit" hat sich einen hohen Anteil an Ihrer knappen Aufmerksamkeit, verehrte Hörerin, verehrter Hörer, so redlich wie geistreich verdient.