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Petra Morsbach: "Justizpalast"
Epos über das Rechtswesen

Für ihre neueste Milieuerkundung bekommt Petra Morsbach den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2017 von Deutschlandradio und der Stadt Braunschweig. Ein leicht überfrachteter, aber in der Summe großartiger Roman, findet Wolfgang Schneider. Er sieht darin eine kritische Verneigung vor der deutschen Justiz.

Von Wolfgang Schneider | 22.09.2017
    Die Buchautorin, Petra Morsbach, bei der Buchpräsentation "Der Cembalospieler", aufgenommen am 18.10.2008 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Fast zehn Jahre hat Petra Morsbach recherchiert, bevor sie ihr eingehendes Porträt der deutschen Justiz geschrieben hat. (picture-alliance / dpa / Arno Burgi)
    "Aus Gerichtsperspektive scheint jeder mit jedem zu streiten, das ganze reiche Land eine Horde von hereingelegten und hereinlegenden, erschrockenen und erbosten, beleidigten und wütenden Bürgern."
    Juristen haben in der deutschen Literatur viele Spuren hinterlassen, man denke nur an Kafka und seine surrealen Prozesse oder an Heinrich von Kleist und seine Liebe zu sonderbaren, literarisch ergiebigen Rechtsfällen. Viele Prozessbeobachtungen und Fallgeschichten bietet auch Petra Morsbachs "Justizpalast" – kein Roman mit einer schnurgeraden Handlung, sondern ein Epos über das deutsche Rechtswesen, eine literarische Erkundung des arbeitsreichen und oft frustrierenden Alltags der Richter und Schlichter in der Streitrepublik Deutschland.
    Erzählt aus Sicht einer Richterin
    Im Mittelpunkt steht die Richterin Thirza Zorniger. Ihr Leben wird erzählt, von der Kindheit um 1960 bis in die späten Berufsjahre der Gegenwart. Schon Thirzas Mutter Gudrun hatte davon geträumt, Richterin zu werden, dann aber ihre Karriere drangegeben wegen Carlos Zorniger – einem berühmten Schauspieler und selbstverliebten Charismatiker, der Frauen auf Händen zu tragen versprach, aber gar nicht genug Hände hatte für all die Damen, die in seinen Bann gerieten:
    "Der ganze Mann strahlte die gelassene Erwartung eines bewährten Zuchthengstes aus", heißt es maliziös über diesen Vater. Thirzas Mutter wird unter Tränen und Theatralik sitzen gelassen und stirbt früh, die Tochter wächst bei den Großeltern in München auf. Der Großvater, ein stiller Patriarch mit einem von den Zeitläuften beleidigten Gesicht, war bereits Strafrichter, auch unter Hitler. Davon ist im Familienkreis aber weniger die Rede als von der verlorenen Heimat in Ostpreußen.
    Ein Aufstieg in der deutschen Justiz
    Thirza folgt also einer familiären Spur, indem sie Jura studiert. Auf vielen Arbeitsfeldern hat sie dann im Lauf ihres Berufslebens zu ackern, viele Stationen lernt sie kennen: Sie ist Zivil- und Familienrichterin am Amtsgericht, Staatsanwältin, Oberregierungsrätin im Gnadenreferat, Beisitzerin am Landgericht im Münchner Justizpalast und schließlich Vorsitzende Richterin einer dortigen Zivilkammer. Bei all dem dürfen ihr die Leser im Roman über die Schulter schauen: Und sehen Akten über Akten, hunderte Fälle, die sich aufstauen, darunter viele verschleppte und immer vertrackter werdende Altverfahren, die gefürchteten "U-Boote" im Juristenjargon:
    "Das ist also unsere Gerechtigkeitsfabrik: am Ende hoher höhlenartiger Zimmer sitzen Richter wie Grottenolme auf Papierbergen, jeder für sich. (...) Und dann auch noch im Justizpalast! Ein Monument von Hybris, Macht und Würde, das beschämte und erhob. Ein bröckeliges Monument: protzige Fassade, heruntergekommene Büros. (...) Bei uns gehen die Regalhalter kaputt, und die Regale stürzen ab. Es braucht ein halbes Jahr, bis ein Handwerker kommt. Wie können wir die Würde des Gerichts vertreten, wenn uns die Verwaltung so würdelos behandelt?"
    Eine große menschliche Tragikomödie
    Die juristische Logik und das Chaos des Lebens: Das ist die grundlegende Antithese des Romans. Kaum etwas Menschliches bleibt der Erfolgsjuristin Thirza Zorniger auf ihrem Karriereweg fremd: Streit um Kartell-, Urheber- und Markenrechte, Schadenersatzklagen, Insolvenzen, Immobilienschwindel, Erbschaftsfehden, Ehekriege. "Justizpalast" ist eine große, geschichtenreiche menschliche Tragikomödie.
    Auch die Richter und Staatsanwälte pflegen dabei ihre Feindschaften, Animositäten und Statuskämpfe, schmieden Ränke auf dem Karriereweg, bespötteln und verachten sich gegenseitig. Sie träumen schlecht von verhassten Kollegen und schütten der lebensklugen, äußerlich ruhigen Thirza immer wieder ihre vergifteten Herzen aus. Bei nicht wenigen Juristen verstärkt der tägliche Blick in die Abgründe der Streitgesellschaft die Charakterentwicklung hin zum Zyniker; die sympathische Thirza dagegen wappnet sich mit Humor und Melancholie gegen eine Welt von Plagen und Paragraphen.
    Kinderleid belastet die Familienrichterin schwer
    Als empathische Familienrichterin ist das Leid der Kinder in den Beziehungskriegen für sie eine besonders schwere seelische Belastung:
    "Andere Kinder regredierten nicht, sondern versuchten die Eltern zu retten… Ein leukämiekranker Bub, der glaubte, seine Krankheit habe die Krise ausgelöst, erklärte unaufhörlich, es gehe ihm gut. Ein anderer holte sein Sparschwein, als die Eltern um Geld stritten, und rief: "Hört auf! Ich zahle!" Ein besonders begabtes Kind versuchte mit den Eltern "vernünftig" zu reden, jedenfalls berichtete davon süffisant dieses eiskalte Intellektuellenpaar. Als aber Thirza das Kind allein anhörte, klapperte es vor Angst buchstäblich mit den Zähnen. Ein Zwölfjähriger arbeitete selbstständig Besuchspläne aus, weil die Eltern dazu nicht in der Lage waren. Mama lebte mit dreißig Ratten in einer Einzimmerwohnung, Papa baute mit dem Kind zusammen Modell-KZs."
    Im Privatleben dominiert Angst, zum Streitfall zu werden
    Morsbach präsentiert eine ganze Galerie von Juristentypen. Nicht nur die komplexe Justizmaschine, sondern auch diejenigen, die sie bedienen, sollen zur Darstellung kommen – mit ihren allzu menschlichen Komplexen, vor denen auch Juristen durch ihr strukturiertes, juristisches Denken nicht gefeit sind. Dass das Privatleben mancher Juristen, zumindest in diesem Roman, eine Tendenz zur Verkümmerung zeigt, liegt offenbar nicht nur an der Arbeitsüberlastung. Es scheint vielmehr, als würden die Menschen, die beruflich so viel mit dem Menschenelend und der Streitwut zu tun haben, vor tiefergehenden Bindungen mehr zurückscheuen als der Durchschnittsbürger.
    Thirza jedenfalls, die gerne Liebesromane schmökert, erlaubt sich in der Realität keine Leidenschaft, skeptisch geworden nach einigen eigenen Enttäuschungen und durch das Carlos-Zorniger-Familiendrama im Hintergrund, und immer in der Angst, in einen "Klassiker" zu geraten. Soll heißen: in ein gerichtsnotorisches Ehedrama mit Schulden, Eifersucht und Drohungen:
    "Auf einmal sah Thirza die ganze Ödnis ihres künftigen Lebens als einsame Palastrichterin vor sich: Arbeit bis zum Scheitel, Pflichterfüllung inmitten eines Meers von Empörung, Unglück und Gier, zähe Vergleiche, Urteile, die nichts heilen, nach jeder mühseligen Befriedung eine Woge neuer Fälle…"
    Spätes, tragisch überschattetes Liebesglück
    Aber da, nach der Hälfte des Romans, tritt mit kühnem Schwung plötzlich Max Girstl in ihr Leben, ein verkrachter Jurist und "Laubenanwalt", der zwischenzeitlich Sachbearbeiter bei einer Versicherung war, Gebiet: Haustierhaftpflicht. Max ist fasziniert von Thirza, seit sie als Familienrichterin vor zehn Jahren seine eigene Ehe geschieden hat. Dieser leidenschaftliche Leser und Vorleser überwindet Thirzas psychische Sperren und Schutzvorrichtungen und sorgt für ein spätes unverhofftes Zweisamkeitsglück, das am Ende allerdings tragisch überschattet ist.
    Die deutsche Rechtsprechung genießt heute nicht immer guten Ruf. Viele lästern vorschnell über die Gerichte, fühlen sich unverstanden oder ungerecht behandelt, wenn sie mit ihnen zu tun bekommen. Und schütteln den Kopf über das verschachtelte Juristendeutsch, das doch ein an unzähligen Fällen entwickeltes Präzisionsinstrumentarium ist.
    Verneigung vor der Justiz, doch nicht ohne Kritik
    Morsbachs Roman ist demgegenüber eine Hommage auf die Justiz, die Millionen Bürgerstreitigkeiten regelt und die Zivilgesellschaft stabilisiert, indem sie überhaupt erst Rechtssicherheit schafft. Eine Hommage, allerdings keine unkritische. Denn die Sünden der Korruption sind bei Morsbach auch Juristen nicht fremd. Und je höher die Karriere führt, desto mehr Verrenkungen der Anpassung sind im Justizpalast nötig.
    Vor allem auf den höchsten Ebenen ist Willfährigkeit gegenüber Politikern verbreitet – und die Unabhängigkeit der Justiz bisweilen gefährdet. Da die deutsche Staatsanwaltschaft weisungsgebunden ist, können Vorgesetzte bis hinauf zum Justizminister Einfluss auf Ermittlungen nehmen, in Form von "Empfehlungen" oder sogenannten "Prüfbitten". Das wiederum hat oft den vorauseilenden Gehorsam von Juristen zur Folge. Thirza liest die Zeichen der Hierarchie:
    "Der Ministerialrat schlug keine Maßnahme vor, bei der die geringste Gefahr der Ablehnung bestand, und erreichte, indem er auf schneidige Weise immer das Opportune tat, den Ruf eines zupackenden Typen, der niemals einknickt. Thirza entschlüsselte seine forsche Begrüßung folgenderweise: Erstens als reflexhaften Test auf Kadertauglichkeit, zweitens, durch das Winken mit dem Urlaubsformular, als scherzhaftes Angebot der Kumpanei mit einer Prise gemüthaft ironischer Korruption. Thirza begriff, was sie zu tun hatte: den Stil des Hauses übernehmen (…) und keinen Ranghöheren in Verlegenheit bringen."
    Roman auf Basis Dutzender Interviews mit Juristen
    Ein Paradebeispiel für die Verstrickung von Politik und Justiz ist im Roman Franz Josef Strauß, der seine politischen Ämter wie ein afrikanischer Potentat zur persönlichen Bereicherung nutzte. Petra Morsbach hält sich bei der Causa Strauß an die Enthüllungen des ehemaligen Ministerialrats Wilhelm Schlötterer.
    Fast ein Jahrzehnt hat die Autorin für ihren Roman recherchiert und Gespräche mit fünfzig Juristen, darunter dreißig Richtern, geführt. Das alles kommt der Erfahrungsdichte und Realitätstreue ihrer Darstellung sehr zugute. Die Fülle des Gerichtsmaterials führt allerdings vor allem auf den letzten hundert Seiten zu einer gewissen Überlastung der Romanhandlung, aufs Ganze gesehen aber eine verzeihliche Schwäche.
    So umfangreich dieser außergewöhnliche Roman geworden ist, im Kern ist Petra Morsbach eine Lakonikerin, die griffige Formulierungen und trockene Pointen liebt. Das macht "Justizpalast" zu einem Werk, das Erkenntnisgewinn und Lesevergnügen zugleich bietet.
    Petra Morsbach: "Justizpalast"
    Knaus Verlag: München 2017. 481 Seiten, 25 Euro