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Philosophie
Michel de Montaigne und sein Skeptizismus

1572, im Jahr der Bartholomäusnacht, dem blutigen Massaker an französischen Protestanten, begann der Philosoph Michel de Montaigne sein Hauptwerk, die "Essais". Selber Katholik, sieht sich der Skeptiker Montaigne verpflichtet, dem Menschen seine "miseria" vor Augen zu führen.

Von Astrid Nettling | 02.01.2014
    Eine Statue des Politikers und Philosophen Michel de Montaigne steht auf der Esplanade des Quinconces in Bordeaux (Gironde/Frankreich), aufgenommen am 13.08.2012.
    Statue des Politikers und Philosophen Michel de Montaigne (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    "Als ich mich jüngst zurückzog, entschlossen, mich mit nichts anderem abzugeben als damit, in Ruhe und für mich den kleinen Rest meines Lebens zu verbringen, da glaubte ich, meinem Geist keine größere Gunst zu erweisen, als wenn ich ihn in völliger Muße bei sich Einkehr halten und sich mit sich selbst beschäftigen ließ",
    notiert Michel de Montaigne auf den ersten Seiten seiner "Essais". Zwei Jahre sind es her, dass er sein Amt als Parlamentsrat in Bordeaux verkauft und sich auf seinen ererbten Landsitz, auf das Schloss Montaigne, in der Nähe von Bordeaux zurückgezogen hat.
    "In den Schoß der gelehrten Musen seit Langem der Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde."
    Er ist 38 Jahre alt. Dort, im Turmzimmer seines Schlosses, umgeben von einer stattlichen Anzahl von Büchern sowie von bekannten Sinnsprüchen antiker Autoren und Zitaten aus der Bibel, die er in die Querbalken der Decke hatte einbrennen lassen, beginnt er im Schicksalsjahr 1572 mit der Niederschrift des ersten Buchs.
    Meuchelmorde im Namen des Glaubens
    "Montaigne begann seine Essais im Jahr der Pariser Bluthochzeit zu schreiben, der Bartholomäusnacht, die das Signal zur Schlächterei in ganz Frankreich gab und die als unauslöschliches Brandmal des Verrats, der Niedertracht und des Meuchelmords im Namen der höchsten Glaubensgewissheiten in die Geschichte eingegangen ist: die Mordnacht in Paris und das Te Deum laudamus der großen Dankmesse, mit der sie in Rom begrüßt wurde",
    so der Historiker Herbert Lüthy. Anlass für dieses Massaker war die "gotteslästerliche" Heirat der Katholikin Margarete von Valois mit dem protestantischen König Heinrich von Navarra. Was ursprünglich als politischer Schachzug geplant war, um die schwelenden Spannungen zwischen der katholischen Mehrheit des Landes und den Protestanten zu mildern, ließ die Gegensätze erst richtig aufbrechen.
    In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 werden in Paris sämtliche Führer der Hugenotten ermordet, die anlässlich der Hochzeit in der Stadt weilen, und in den Tagen danach weitere 3000 Menschen - in der Mehrzahl Hugenotten. Aus Notwehr habe das von einer protestantischen Verschwörung bedrohte Königreich gehandelt, lautet die zwei Tage später vom Königshaus veröffentlichte Stellungnahme. Im ganzen Land breitet sich eine Welle von Gewalt aus - sie gelangt auch nach Bordeaux, wo bei einem Gemetzel fast 300 Hugenotten ermordet werden. Der Historiker Jean Lacouture:
    "Montaigne muss die Nachricht von dem Massaker, das ganze zehn Meilen entfernt von ihm begangen worden war, mit Grauen aufgenommen haben. Unter den Verantwortlichen waren Männer, die in enger Beziehung zu seiner Familie standen, unter den Opfern waren ehemalige Kollegen. Die führenden Männer der katholischen Partei - die Jesuiten eingeschlossen - waren Freunde oder Verwandte von ihm."
    Gleichwohl finden sich im ersten Buch seiner "Essais" keinerlei Hinweise auf diese blutigen Ereignisse. Jahre später, im dritten Buch, aber heißt es im Kapitel "Über das Nützliche und das Rechte":
    "Das öffentliche Wohl verlangt, dass man zum Verräter werde, dass man lüge und morde? Dann treten wir dieses Amt eben an Leute ab, die dienstbeflissner und anpassungsfähiger sind als wir! Mich widern wilde Anfeuerungen und aus allen Fugen geratene Seelen an."
    Rückzug ins Private
    Nicht lange jedoch ist es ihm vergönnt, abgeschieden in seinem Turmzimmer "in völliger Muße bei sich Einkehr" zu halten. König Heinrich III. beruft ihn zum Kammerherrn, ebenso wird er Vertrauensmann Heinrichs von Navarra, des Oberhaupts der protestantischen Partei, der ihn gleichfalls zu seinem Kämmerer ernennt. Als Ratgeber und Vermittler wird er bis zuletzt zwischen den beiden Lagern hin- und herpendeln. Herbert Lüthy:
    "Eine schwer zu erfassende Rolle, wie die Rolle all derer, die nicht zum Kampf rufen und Schlachten schlagen, sondern Frieden zu stiften suchen, verdächtig wie alle Mäßigung, gefährdet wie aller Mut zur Mitte in Zeiten des Fanatismus."
    "Man stelle sich ein fortwährendes Bekennen von Unwissenheit vor, ein völlig unparteiisches, unter keinen Umständen irgendeiner Seite zuneigendes Denken".
    Denn inmitten des heillosen Wirrwarrs der Glaubenskämpfe und zweifelhaft gewordener Glaubensgewissheiten sei eine gegen "jedes vorgefasste Urteil gefeite Seele auf dem Weg zur inneren Ruhe allem weit voraus. Wir wären viel besser beraten, wenn wir uns vom gewohnten Gang der Welt leiten ließen, ohne unsere Nase in alles zu stecken. Beobachtet doch einmal, wie wir die Religion zu Wachs in unseren Händen machen, um aus einer so festen und eindeutigen Setzung so viele widersprüchliche Gebilde zu kneten! Die einen zerren sie nach links, die anderen nach rechts, die einen nennen sie weiß, die anderen schwarz, alle aber beuten sie auf gleiche Weise für ihre ehrgeizigen und gewalttätigen Unternehmungen aus."
    Deshalb hält er es mit Sokrates "für die richtigste Meinung über das Überirdische, sich keine Meinung darüber zu machen" und an altbewährten Glaubensformen festzuhalten, statt sich auf unwägbare Neuerungen einzulassen.
    "Schaut euch an, mit welch erschreckender Unverschämtheit wir die göttlichen Glaubenssetzungen zu unserem Spielball machen", schreibt er in seinem umfangreichsten und streitbarsten Essay, der "Apologie für Raymond Sebond", den er zwischen 1576 und 1580 verfasst.
    Einige Jahre zuvor hatte er bereits die Hauptschrift dieses katalanischen Theologen aus dem 15. Jahrhundert, die "Theologia naturalis", auf Wunsch seines Vaters übersetzt. Als eine "Wissenschaft", die "jeden Menschen lehre, die Wahrheit über sich, über Gott und alles, was ihm zur Erlangung des Heils nötig ist, zu erkennen", wie es bei Sebond lautet, das heißt, ohne den Glauben oder die Offenbarung zur Hilfe zu nehmen. Der Montaigneforscher Hugo Friedrich:
    "Die Verwandten von Sebonds Buch sind in den Schriften der italienischen Humanisten über die Dignitas hominis 'Über die Würde des Menschen' zu suchen. Das wird Montaignes Widerspruch herausfordern."
    Wie hohl, eitel und nichtig
    Anstatt wie diese Humanisten den Menschen als den edelsten und vollkommensten Teil an die Spitze der Schöpfung zu stellen, muss man ihn, so Montaigne, entthronen, muss seine "dignitas", seine vermeintliche Würde, Stück für Stück abtragen und ihm seine "miseria" vor Augen führen, "ihn fühlen lassen, wie hohl, eitel und nichtig er ist, und ihm die gebrechlichen Waffen seiner Vernunft aus den Händen schlagen."
    Montaignes "Apologie für Raymond Sebond", die Verteidigung der natürlichen Theologie, erweist sich in Wirklichkeit als das genaue Gegenteil: Sie ist der Rundumschlag eines Skeptikers gegen die Anmaßungen menschlicher Vernunft nicht zuletzt in Sachen Religion und Glauben.
    Und eines Skeptikers, der zugleich die Paulusworte zitiert:
    "Da die Menschen sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild des vergänglichen Menschen verwandelt."
    Wie Augustinus oder William von Ockham, aber ebenso wie Martin Luther weist Montaigne jeglichen Anspruch, Gott mit den Mitteln der Vernunft erkennen oder gar beweisen zu wollen, aus fideistischer Überzeugung zurück:
    "Je mehr wir uns Gott vertrauensvoll ausliefern, je mehr wir uns selbst verleugnen, desto besser steht es mit uns."
    Hugo Friedrich:
    "Aber Montaignes Fideismus hat weder Pathos noch eine Spur mystischer Sehnsucht. Er bedeutet ein intellektuelles Bewusstsein von der menschlichen Grenze. Sein Fideismus ist negativer Art: die Gewissheit der Ungewissheit. Er bezweckt keine Schädigung des Glaubens. Im Gegenteil, der Glaube bleibt möglich, nur werden seine Inhalte, wie jegliche Transzendenz überhaupt, hinausverlegt in eine absolute Dunkelheit. Die 'Theologie Montaignes' - falls man von Derartigem überhaupt sprechen darf - braucht die Ferne Gottes, um die Geringfügigkeit des Menschen zu sichern, in der seine innerweltliche Anthropologie sich einrichten wird."
    "Unser Glaube ist nicht unser Verdienst, er ist das reine Geschenk göttlicher Großmut."
    Ein reines Geschenk freilich nur für seltene und begnadete Geister. Montaigne zählt sich nicht dazu, er ist Christ wie die Mehrheit des Volkes auch. Kein Begnadeter, sondern ein 'guter' Katholik, der den religiösen Gepflogenheiten nachkommt und am Herkömmlichen festhält. Er schreibt:
    "Weil ich nicht imstande bin zu wählen, folge ich der Wahl anderer und bleibe in dem Geleise, in das Gott mich gesetzt hat."
    Zugleich aber ist er als wahrer Skeptiker tolerant genug, jeglichen Glauben gelten zu lassen, selbst jeglichen Aberglauben. Freimütig bekennt er:
    "Ich bin bereit dem heiligen Michael eine Kerze zu stiften und dem Drachen auch eine. Wir nehmen unsere Religion nur auf unsere Weise und aus unsren eigenen Händen an und nicht anders, als die anderen Religionen angenommen werden: entweder, weil wir sie im Lande unserer Geburt als üblich vorfanden oder weil wir ihre Altehrwürdigkeit achten oder weil wir die Strafen fürchten, die sie den Ungläubigen androht, oder ihren Versprechen trauen. Ein anderer Himmelsstrich, andere Glaubenszeugen, ähnliche Verheißungen und Drohungen können uns auf dieselbe Weise einen entgegengesetzten Glauben einpflanzen. Christen sind wir im gleichen Sinne, wie wir Périgordiner oder Deutsche sind."
    Eine Angelegenheit also von Herkunft, Konvention und Tradition, der Vielfalt menschlicher Lebensformen in dieser Welt entsprungen.
    "Ganz gleich, was man uns predigt, stets sollten wir bedenken, dass eine sterbliche Hand es uns reicht, und eine sterbliche Hand es entgegennimmt."
    Im Juni 1580 bricht er zu seiner "großen Reise" auf, die ihn zusammen mit seinen Begleitern über Mülhausen nach Basel zu den Bädern von Baden, nach Augsburg, München, Innsbruck, Verona, Padua, Venedig, Florenz und schließlich nach Rom führt. Der Historiker Jean Lacouture:
    "Rom war für ihn immer die Hauptstadt der Christenheit, für wie verdorben er sie auch hielt. Doch der Reisende, der im Morgengrauen des 30. Septembers 1580 Rom betritt, wird diese päpstlich-cäsarische Gesellschaft mit dem ungezwungenen Blick eines Mannes betrachten, der das Fremdartige genießt, mit den Augen eines gutmütigen Agnostikers."
    Die Fußspitze des Papstes
    Am 29. Dezember findet eine Audienz bei Papst Gregor XIII. statt. In seinem "Reisetagebuch" hat Montaigne das absurde Zeremoniell durch die Feder seines Sekretärs festhalten lassen:
    "Als die Herren an diesem Punkt der Zeremonie angekommen waren, setzte der Botschafter, der sie vorstellte, ein Knie auf den Boden und schlug das Gewand des Papstes an dessen rechtem Fuß so zurück, dass ein roter Pantoffel mit einem weißen Kreuz zum Vorschein kam. Die Knienden rutschten jetzt bis zum Fuß des Papstes vor und beugten sich zur Erde, um ihn zu küssen. Der Herr de Montaigne sagte später, der Papst habe hierbei die Fußspitze etwas angehoben. "
    Am 7. September 1581 erhält Montaigne in der Toskana die Nachricht von seiner Wahl zum Bürgermeister von Bordeaux. Auf ausdrücklichen Befehl Heinrichs III. kehrt er unverzüglich zurück, um sein Amt anzutreten, das er nach seiner Wiederwahl zwei Jahre später bis 1585 ausüben wird.
    Die Zeit, um in seinem Turm in Muße bei sich Einkehr zu halten, nimmt er sich dennoch. Zeit für seine "arrière boutique", wie er es nennt.
    "Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, wo wir unser tägliches Gespräch von uns zu uns selbst führen können und in dessen Freiraum niemand hineinzureden und hineinzuregieren hat. Der 'Bürgermeister von Bordeaux' und Montaigne, das waren immer zwei - klar und säuberlich voneinander geschieden."
    Der Historiker Herbert Lüthy:
    "Er spielte seine Rolle, wie sie ihm in böser Zeit zugefallen war, als Franzose, Katholik, Bürger und Bürgermeister von Bordeaux, pflichtgemäß und ohne Leidenschaft und bewahrte sich damit die innere Freiheit, Michel de Montaigne zu bleiben. Die schönste Frucht ist die absolute Offenheit gegenüber anderem und anderen. Dieser Skeptiker gegenüber jedem Dogma ist aufgeschlossen für die ganze unendliche Vielfalt der geistigen Möglichkeiten, Lebensformen und Lebenswahrheiten anderer Menschen, und er begegnet mit Achtung auch jenen, die ihm selbst verschlossen sind."
    "Ein Mensch bin ich, nichts Menschliches ist mir fremd", diesen berühmten Satz des Komödiendichters Terenz aus der römischen Antike, der zugleich als Wahlspruch des Humanismus gelten könnte, hatte Montaigne in seiner Bibliothek anbringen lassen.
    In diesem Sinne enden auch die drei Bücher der "Essais", deren erste vollständige Ausgabe 1588, vier Jahre vor Montaignes Tod, erscheint. Ihre abschließenden Sätze lauten:
    "Nichts ist so schön und ehrenhaft, als wahrhaft und wie es sich gehört ein Mensch zu sein, und keine Kunst so schwer, wie dieses Leben recht und natürlich zu leben. Wir trachten nach einem anderen Los, weil wir das unsre nicht zu nützen wissen, und wollen über uns hinaus, weil wir nicht begreifen, was in uns ist."