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Podcasting in Frankreich
Die Welt in mehr als 50 Sekunden erklären

Einmal Hype und wieder zurück: Podcasting erfreut sich wieder wachsender Beliebtheit. In Frankreich ist gerade ein neues Projekt an den Start gegangen. "Boxsons" wird über Abonnements finanziert. Seine Macher setzen auf tiefgründige Alltags-Reportagen - und mehr.

Von Suzanne Krause | 03.07.2017
    President of French far-right party Front national (FN) and candidate for the 2012 French presidential election is interviewed by journalist Pascale Clark in a political show at French radio station France Inter, on April 19, 2012 in Paris.
    Boxsons-Initiatorin Pascale Clark, lange Jahre eine der bekanntesten Stimmen beim öffentlichen Radiosender France Inter (AFP / Thomas Samson)
    Nach und nach trudeln die Mitarbeiter von Boxsons zur Redaktionskonferenz ein, zur Programmbesprechung. Es ist Sonntagnachmittag, Kaffeeklatsch-Zeit. Boxsons-Initiatorin Pascale Clark empfängt in ihrer Wohnung, nahe der Métrostation Barbés im Pariser Norden, neue Heimat schwarzafrikanischer Migranten. Für eine Redaktionssitzung ein ungewöhnlicher Ort, eine ungewöhnliche Zeit. Typisch Boxsons. Pascale Clark, lange Jahre eine der bekanntesten Stimmen beim öffentlichen Radiosender France Inter, grinst verschmitzt.
    "Was wir überall im Radio hörten, hat uns nicht gefallen. Da fehlt uns der Klang des Alltagslebens. Das Basismaterial beim Radio ist doch Ton, Stimmen und Geräusche, das wurde zu sehr vergessen. Die meisten Sendungen kommen heute aus dem Studio, Gesprächsrunden, oft mit bekannten Leuten. Wir wollen andere Töne hören."
    Reportagen, Reihen und ungewöhnliche Beiträge
    In einer fünfteiligen Reportage-Serie schildert Sami, wie er sich von seiner Heimat Eritrea bis ins britische Leeds durchgeschlagen hat, 10.384 Kilometer Leidensweg, sensibel zu einer Art Hörspiel der Realität aufbereitet. Drei Jahre lang hat Journalistin Marie Monier Sami immer wieder interviewt, hauptsächlich im 'Dschungel', dem berüchtigten Transitlager im nordfranzösischen Calais.
    "Als ich zum ersten Mal nach Calais kam, war es sehr, sehr kalt. Als ich den Dschungel gesehen habe, konnte ich es nicht glauben. Da schliefen Leute unter den Bäumen, wie Tiere, schrecklich. Ich sagte mir: Ist das Europa, ist das Frankreich?"
    In der Reihe 'Wache Erinnerung' lässt eine betagte Französin ihr Leben Revue passieren. Ihr Vater war einer der letzten Strafgefangenen im berüchtigten Lager von Cayenne, in Französisch-Guyana. Des Weiteren bietet das neue Internetportal einen akustischen Bummel durch Beirut. Begleitet einen Klempner, der in Paris verstopfte Toiletten repariert.
    In der Kalenderblatt-Rubrik am 14. Juni wird ein Treppenwitz des Lebens aufgedeckt.
    "An einem 14. Juni kam Che Guevara zur Welt. Und Donald Trump."
    Die beiden Lebenswege werden im Beitrag einander gegenüber gestellt. Informativ und humorvoll, mit astrologischem Seitenhieb.
    "Der Zwilling ist rational, brillant und giert nach Wissen. Äh, Trump eher nach Macht und Reichtum."
    Sich Zeit nehmen
    Bei der Redaktionskonferenz berichtet Emilie Denètre von ihrem aktuellen Projekt: den Werdegang von Kindern, deren Eltern sie aus Frankreich nach Syrien verschleppten, zur Terrormiliz Islamischer Staat. 20 Kinder seien bislang heimgekehrt, ihre Gesamtzahl wird auf 450 geschätzt. Seit Wochen recherchiert Emilie Denètre an dieser Geschichte.
    "Nur bei Boxsons kann ich mein Thema so lang, so tiefschürfend und so nuanciert aufbereiten, wie ich möchte. In jedem anderen Sender würde mir die Beitragslänge vorgegeben, meine Arbeit formatiert. Bei Boxsons steht die Redaktion voll hinter mir, aber lässt mir freie Hand. Mir als Autorin bringt dies viel intellektuelle Befriedigung."
    Sich Zeit zu nehmen, Zeit zu lassen ist redaktionelles Credo für die Berichterstattung, bekräftigt Boxsons-Mitgründerin Candice Marchal.
    "Wir hoffen vor allem, Hörer, Bürger ganz allgemein, mit den Medien auszusöhnen, gegen das unglaubliche Misstrauen unserem Stand gegenüber angehen zu können. Klar, wenn Journalisten sich anmaßen, die Welt in 50 Sekunden zu erklären, dann fühlt sich mancher Hörer einfach nur für blöd verkauft."
    Die ersten 1500 Hörer fand das Internetportal dank einer Crowdfunding-Aktion. Seither sind einige hundert Abonnenten dazu gestoßen, für neun Euro monatlich. Dafür erhalten sie nicht nur tiefgründige Alltags-Reportagen, sondern ebenso Klangkunst. Zum Team gehört auch ein Geräusche-Macher, der normalerweise für das Kino arbeitet. Gemeinsam mit einem Elektro-Akustiker entwickelte er 'Ododo' - eine digitale Schlaftablette. Ein Renner beim Boxsons-Angebot.