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Portugal
Arm trotz Mindestlohn

In keinem anderen südeuropäischen Land ist der Mindestlohn so niedrig wie in Portugal. Dazu kommt die Wirtschaftskrise, die die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Für manche Portugiesen hat das drastische Konsequenzen.

Von Tilo Wagner | 17.12.2013
    Patrícia Castro sitzt in einem Café im Lissabonner Hafenbezirk Alcântara und winkt energisch ab. Nein, ihren Arbeitsplatz könne sie auf keinen Fall zeigen. Dann würde sie sofort Probleme mit ihrem Chef bekommen. Die 34-jährige Portugiesin zählt auf, welche Aufgaben sie bei ihrem Job erfüllen muss:
    "Ich bin Zahnarzthelferin, ich sitze an der Rezeption, ich bin Putzfrau und ich erstelle die Zahnabdrücke aus Gips. Ich bin Mädchen für alles und kriege dafür nur den Mindestlohn. Das kann doch nicht sein."
    Das sind in Portugal zurzeit 485 Euro, abzüglich Sozialabgaben, umgerechnet sind das also nicht einmal drei Euro pro Stunde. Patrícia Castro kommt damit in Lissabon nicht weit. In der portugiesischen Hauptstadt sind die Lebenskosten teurer als zum Bespiel in Madrid, wo der Mindestlohn deutlich höher ist.
    "Ich komme mit dem Geld nicht über die Runden. Ich habe ein Handy, aber das lade ich nur auf, wenn ich kurz davor bin, den Vertrag zu verlieren. Ich kann mir Telefongespräche nicht leisten. Deshalb klopfe ich immer kurz an und lege dann auf. Ähnlich ist das mit Hygieneartikeln: Entweder ich kaufe mir Shampoo oder ein Deo. Beides geht nicht. Selbst mit dem Geld, das mir meine Mutter beisteuert, zähle ich jeden Groschen und bete darum, dass es bis zum Monatsende reicht."
    Patrícia Castro schüttelt immer wieder mit dem Kopf. Ihr Leben hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Sie hat ein Tourismusstudium abgeschlossen und eine Weiterbildung in Management daraufgesetzt. Ohne Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. Als sie vor einem Jahr aus dem Norden nach Lissabon kam, verschickte sie in zwei Monaten über 100 Bewerbungen. Niemand antwortete. In der Zahnarztpraxis arbeitet sie zwischen 45 und 50 Stunden wöchentlich, die Überstunden kriegt sie nicht bezahlt. Und wenn sie sich beschwert, erhält sie von ihrem Chef eine klare Antwort:
    "Er sagt: ‚Du bist unzufrieden? Kein Problem, es gibt viele, die deinen Job wollen.‘ Natürlich will ich so nicht arbeiten, aber was soll ich machen, von was soll ich leben? Das ist ein innerer Konflikt, mit dem ich jeden Tag umgehen muss. Ich komme von der Arbeit und bin erschöpft, ausgelaugt, frustriert. Ich will aufgeben, aber ich kann nicht. Ich bin jetzt 34 Jahre alt, ich habe studiert, und was ist: Ich wohne in einem winzigen Zimmer und kann mir noch nicht mal eine Wohnung leisten. Das tut schon richtig weh."
    Hinter der Diskussion um den Mindestlohn verbergen sich zwei unterschiedliche Entwicklungen. Einer älteren Generation schlecht qualifizierter Arbeitnehmern droht immer häufiger die Arbeitslosigkeit, weil die Ansprüche an Industriearbeiter in Portugal gestiegen sind. Gleichzeitig finden viele gut ausgebildete, junge Portugiesen keinen angemessen bezahlten Job. Die Folge ist, dass immer mehr Portugiesen schlecht bezahlt werden. In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Zahl der Arbeitnehmer, die den Mindestlohn erhalten, verdreifacht. Diese Entwicklung wird von der Regierung und den internationalen Geldgebern sogar begrüßt. Wenn es nach Meinung der Troika aus EU, IWF und Europäischer Zentralbank ginge, müsste sich das Lohnniveau in Portugal weiter verringern, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes steigern.
    Für Patrícia Castro sind diese Ideen schwer nachvollziehbar. Ebenso wie der kommunistisch beeinflusste Gewerkschaftsdachverband CGTP fordert sie eine Erhöhung des Mindestlohns. Vor drei Jahren wurde der Satz das letzte Mal aufgestockt: um zehn Euro monatlich. Eine derartig geringe Lohnsteigerung sei fast eine Beleidigung, sagt Patrícia Castro:
    "Der Mindestlohn muss soweit angehoben werden, dass Menschen wie ich unter würdigen Bedingungen leben können. Ich muss mir doch zumindest meine eigenen vier Wände leisten können, und sei es nur irgendein Loch. Der Mindestlohn muss mir doch garantieren, dass ich lebenswichtige Notwendigkeiten bezahlen kann, dass ich ein stabiles Leben führe und dass ich endlich von meiner Mutter finanziell unabhängig sein kann."