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"Proteste wirklich ein sehr positives Zeichen"

Die Bürger in Bulgarien setzen sich mehr und mehr für Rechtsstaatlichkeit ein, sagt die frühere Vize-Außenministerin des Landes, Antoinette Primatarowa. Sie betont: Die anhaltenden Proteste gegen die Regierung seien dank des EU-Beitritts 2007 möglich geworden.

Antoinette Primatarowa im Gespräch mit Jürgen Liminski | 25.07.2013
    Mario Dobovisek: Im ärmsten Land der Europäischen Union, in Bulgarien, geht es turbulent zu. Das Parlament wird blockiert, bei Ausschreitungen gibt es Verletzte, Demonstranten verlangen den Rücktritt der Regierung, die Opposition fordert wieder Neuwahlen. Mein Kollege Jürgen Liminski hatte am Abend Gelegenheit, mit Antoinette Primatarowa zu sprechen. Sie war bulgarische Ministerin für EU-Integration und auch Botschafterin ihres Landes in Brüssel. Seine erste Frage lautete: Ist dies gar kein politischer Prozess, sondern vielmehr ein Protest gegen Sparmaßnahmen, gegen die Armut in einem der ärmsten Länder Europas?

    Antoinette Primatarowa: Es ist ein sehr politischer Prozess und in dieser Hinsicht sehr zu begrüßen. Über Europa kann man nicht allgemein sprechen, aber der deutsche Botschafter in Sofia, der französische Botschafter in Sofia und die Kommissarin Viviane Reding, sie wurden von den Bulgaren als europäische Politiker empfunden, die die Seite der Protestierenden oder zumindest wirklich ihre Anliegen betrachten. Und ich würde hier Bertolt Brecht paraphrasieren wollen: In der Dreigroschenoper haben wir den berühmten Satz, erst kommt das Fressen, dann die Moral, und ich würde sagen, dieser Prozess in Sofia ist jetzt ein Protest. Diese Proteste, die eigentlich unter dem Motto laufen könnten, erst kommt die Moral in der Politik, ohne Moral in der Politik gibt es gar kein Fressen.

    Es ist eine sehr verbreitete Meinung, dass Bulgarien und Rumänien zu früh in die Europäische Union aufgenommen wurden. Ohne diesen Beitritt hätten wir solche Erscheinungsformen der Zivilgesellschaft in Bulgarien gar nicht haben können. Aber ich würde nicht der Europäischen Union insgesamt Schuld geben, aber den Parteien im Europäischen Parlament, wenn die Parteien im Europäischen Parlament, sowohl vor dem Beitritt als auch nach dem Beitritt, immer bereit sind, ein Auge zuzudrücken, wenn es um Parteien und Regierungen geht, die gerade zu ihrer Familie gehören.

    Und ich muss hier unbedingt hinzufügen, dass zum Beispiel die vormalige Regierung mit dem Ministerpräsidenten Bolko Borissov eigentlich die ganze Zeit unterstützt wurde vom Europäischen Parlament und von der Europäischen Volkspartei, und dasselbe haben wir jetzt bei der Regierung der Sozialisten. Stanischev ist nicht nur Vorsitzender der Sozialisten, sondern auch Vorsitzender der europäischen Sozialisten, und gerade nachdem die Proteste in Sofia begonnen hatten, waren sowohl Martin Schulz als auch Hannes Swoboda hier in Sofia für eine Jahresversammlung der Sozialistischen Partei Europas und die haben Stanischev praktisch unterstützt.

    Jürgen Liminski: Im Moment ist ja nun Konfrontation in Sofia, Straße gegen Regierung. Muss es in so einer Situation zu Neuwahlen kommen?

    Primatarowa: Es muss unbedingt zu Neuwahlen kommen und viele Beobachter, also das ist nicht meine persönliche Meinung, sondern viele meinen, je mehr man die Entscheidung über Neuwahlen hinauszögert, desto eher werden die Neuwahlen kommen. Jetzt gibt es auch sehr viele Anhänger der Sozialistischen Partei und Politiker der Sozialistischen Partei, die praktisch zugeben, dass es so nicht weitergehen kann, dass Neuwahlen kommen sollen, aber die bestehen darauf, dass die Neuwahlen erst im nächsten Jahr im Mai zusammen mit den Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden, und das wird irgendwann mal die große Frage sein, Wahlen jetzt schon im Oktober, November, oder erst im Mai. Aber es kommt darauf an, dass die Regierung, der Ministerpräsident sozusagen mit einem Versprechen an die Öffentlichkeit geht, dass sie zurücktreten werden zu einem gegebenen Zeitpunkt, zuvor aber gewisse Gesetze abstimmen im Parlament, die notwendig sind sowohl für die Neuwahlen als auch für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes.

    Liminski: Wie kann denn Bulgarien wirtschaftlich gesunden, ohne den Primat des Rechts, also ohne die Achtung auch der Institutionen?

    Primatarowa: Das Paradoxe in der Situation Bulgariens ist, dass Bulgariens Wirtschaft eigentlich nicht kränkelt, zum Unterschied von, sagen wir, unserem Nachbarland Griechenland. Aber mehr Rechtsstaatlichkeit brauchen wir ganz sicher, und das Positive ist, dass die Bürger das mehr und mehr einsehen und sich dafür einsetzen. Man kann wirklich ohne eine lebendige Zivilgesellschaft diese Grundziele nicht erreichen. Ich denke da immer an ein Zitat von Ralf Dahrendorf, der gemeint hat, dass der Umwandlungsprozess in den östlichen postkommunistischen Staaten sechs Monate beanspruchen wird in Bezug auf Rechtsstaat und sechs Jahre in Bezug auf Marktwirtschaft und 60 Jahre in Bezug auf die Zivilgesellschaft.

    Ich glaube, er hat sich nur bei der Marktwirtschaft nicht verschätzt, und ich glaube, bei der Zivilgesellschaft sind wir noch in diesem Prozess. Aber man kann natürlich auch kein Land wie Bulgarien oder auch die Länder vom Westbalkan oder auch Ungarn, weil das jetzt auch Probleme aufwirft, 60 Jahre lang lassen, bis man eine gesunde Zivilgesellschaft hat. Im Großen und Ganzen sind für mich diese Proteste wirklich ein sehr positives Zeichen und das ist auch dank unseres EU-Beitritts im Jahre 2007 alles möglich geworden.

    Dobovisek: Die frühere bulgarische Politikerin Antoinette Primatarowa im Gespräch mit meinem Kollegen Jürgen Liminski.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.