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Prozess um Chodorkowski soll "Warnsignal aussenden"

Das für heute geplante Urteil ist auf den 27. Dezember verschoben, die Wirkung der Verhandlung bleibt: Sie sei eine Warnung an solche, die sich nicht den "Vertikalen der Macht" in Russland einordnen wollten, bilanziert Ernst-Jörg von Studnitz.

Ernst-Jörg von Studnitz im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 15.12.2010
    O-Ton Marina Chodorkowskaja: Die Gerichtsverhandlung dauert jedes Mal von morgens bis 18 Uhr abends. Wenn er in seine Zelle kommt, ist es 20 Uhr, und um 22 Uhr wird schon das Licht ausgeschaltet. Morgens um 5 ist Wecken. Er hat also kaum Zeit, sich mit dem Material zu befassen.

    Dirk-Oliver Heckmann: Marina Chodorkowskaja, die Mutter des wohl berühmtesten Gefangenen der Russischen Föderation, Michail Chodorkowski, Staatsfeind Nummer 1 und Ex-Ölmagnat, ehemals reichster Mann Russlands. Eigentlich hätte der 47-Jährige in knapp einem Jahr freigelassen werden müssen, doch nun könnte es gut sein, dass er sich auf eine empfindliche Verlängerung seiner achtjährigen Haftstrafe einrichten muss, denn die russische Justiz leitete ein zweites Verfahren gegen ihn ein. Der Vorwurf: Er soll die gesamte Ölproduktion seines Konzerns Yukos unterschlagen haben. Viele Beobachter argwöhnen, auch dieses Mal will der Kreml den politisch missliebigen Chodorkowski nur los werden.
    Heute sollte die Urteilsverkündung eigentlich beginnen. Inzwischen ist sie auf den 27.12. verschoben worden. Ein Zettel an der Tür des Gerichtsgebäudes machte auf diesen Umstand aufmerksam. Ohnehin steht für viele das Urteil auch bereits fest.
    Ich habe vor dieser Sendung gesprochen mit dem ehemaligen Botschafter in Moskau, Ernst-Jörg von Studnitz. Er ist nun Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Meine erste Frage an ihn: Ist Michail Chodorkowski ein politischer Gefangener?

    Ernst-Jörg von Studnitz: Ich glaube, wenn man diese Gesamtentwicklung des Prozesses Chodorkowski anschaut, dann muss man sagen, dass das ein politischer Prozess ist und er damit also gefangen ist aus politischen Gründen.

    Heckmann: Das heißt, Russland ist ein Land, in dem politische Gefangene ihr Dasein fristen?

    von Studnitz: Das würde ich so prononciert nicht sagen, aber es gibt auf jeden Fall in Russland Gefangene aus politischen Gründen.

    Heckmann: Wie kann es denn politische Gefangene oder Gefangene aus politischen Gründen geben, wenn das System es nicht erlaubt, diese politischen Gefangenen zu haben?

    von Studnitz: Ein solches System befindet sich in der Entwicklung in Russland. Das muss man einfach so sagen. Und einen Rechtsstaat, wie wir ihn hier bei uns in Westeuropa kennen, hat Russland in den 20 Jahren seiner Demokratieentwicklung noch nicht entwickeln können, sodass da durchaus Relikte alter Gesetzlichkeit, alten Rechtsverständnisses immer noch vorhanden sind.

    Heckmann: Und damit muss man leben quasi wie mit einem Naturgesetz?

    von Studnitz: Ich will nicht sagen, dass man wie mit einem Naturgesetz damit leben muss, aber das ist die Realität, wie sie sich heute darstellt, und die Veränderung von Verhältnissen in einem Lande, das ein so schwieriges Legat wie 70 Jahre kommunistische Herrschaft hat, das kann sich nicht in 20 Jahren vollziehen. Das hängt vor allen Dingen davon ab, dass sich die Denkweise, sprich die Mentalität von Menschen verändert, und wir alle wissen, dass Mentalitäten sich am allerlangsamsten verändern. Und das ist das, was wir heute in Russland leider immer noch sehen.

    Heckmann: Ist es die Mentalität der Menschen, die dafür verantwortlich ist, oder ist es nicht vielmehr die Denkweise derjenigen, die in Moskau das Sagen haben, also Putin beispielsweise, der Ministerpräsident, oder auch der Präsident Medwedew, der ja eigentlich als Liberaler gilt?

    von Studnitz: Das ist auch richtig. Er gilt als Liberaler und ich glaube vieles von dem, was er gesagt hat, auch jüngst jetzt gerade wieder in seiner Ansprache an die Nation Anfang Dezember, entspricht durchaus liberalem Denken. Die Frage ist eben immer nur, wie schnell so etwas umgesetzt werden kann, und die Umsetzung erfordert natürlich auch das Mitwirken von den Menschen im Lande, das erfordert das Mitwirken der Richter, das erfordert das Mitwirken der Staatsanwälte, das erfordert das Mitwirken des gesamten Staatsapparats, wobei ich Staatsapparat jetzt im weitesten Sinne verstehe. Das ist sowohl das Parlament wie die Regierung wie auch die Justiz, und all dieses befindet sich eben erst auf dem Wege und ist noch nicht da angekommen, wo die Wohlmeinenden in Russland es durchaus gerne sähen.

    Heckmann: Wie ist es denn insgesamt bestellt um die Menschenrechte in Russland? Ist der Fall Chodorkowski nur ein Fall von vielen, oder wie würden Sie das einordnen?

    von Studnitz: Ich glaube, der Fall Chodorkowski ist vor allen Dingen als eine Warnung aufzufassen, als eine Warnung an solche, die sich dem immer noch sehr strikten Regime der, wie Putin es einmal bezeichnet hat, Vertikalen der Macht nicht einordnen wollen, und es hätte manch anderen gegeben, dem man die gleichen Vorwürfe hätte entgegenstellen können wie Chodorkowski, das ist aber nicht geschehen. Insofern ist Chodorkowski ein Pilotfall, der ein Warnsignal aussenden soll an diejenigen, die sich in das von der regierenden Macht als akzeptabel angesehene Gefüge nicht einordnen wollen.

    Heckmann: Jetzt ist es so, Herr von Studnitz, dass Russland möglicherweise bald der Welthandelsorganisation beitreten wird, der rote Teppich wird ausgerollt sozusagen auch vom Westen. Ist das denn die richtige Politik, oder müsste man da nicht sagen, bevor das passiert, müsste auch politisch in Russland mehr geschehen?

    von Studnitz: Ich glaube, das Einbeziehen Russlands in das westliche System ist dasjenige, was am Ende Erfolg verspricht. Dass man Russland vor nunmehr fast 15 Jahren in den Europarat aufgenommen hat, ist ein wichtiges Signal gewesen. Russland war nicht auf dem Niveau dessen, was man verlangte, um in den Europarat einzutreten, aber die Verhaltensregeln des Europarats sind Russland entgegengehalten worden und es muss sich daran halten – mit der Folge zum Beispiel, dass seit jener Zeit, obwohl immer noch die Todesstrafe vorgesehen ist, sie nicht mehr vollstreckt worden ist. Das ist ein Fortschritt. Und ich bin überzeugt, dass die Aufnahme in die Welthandelsorganisation Schritt für Schritt auch westliche Standards zum Beispiel der Rechtsstaatlichkeit für wirtschaftliches Verhalten im Lande realisieren wird, und das wird vor allen Dingen eingefordert werden von westlichen Unternehmern, die in Russland ihren Geschäften nachgehen. Insofern: auch wenn Russland noch nicht auf dem Niveau angekommen ist, es ist der Weg bereitet, diese Standards Schritt für Schritt auch in Russland einzuführen.

    Heckmann: Sie haben die westlichen Unternehmen angesprochen. Wäre es nicht in der Tat auch deren Aufgabe, Menschenrechtsstandards einzufordern? Die Bündnis-Grüne Marieluise Beck behauptet, dass die westliche Wirtschaft sich doch einigermaßen bedeckt halte.

    von Studnitz: Ich glaube, man muss einfach sehen: die Wirtschaft hat eine andere Aufgabe. Die Wirtschaft hat nicht die Aufgabe, Menschenrechtsstandards einzufordern. Die Wirtschaft soll dafür sorgen, dass wir hier bei uns in dem Lande den Lebensstandard leben können, an den wir gewöhnt sind und den wir auch alle einfordern über unseren Sozialstaat. Man muss wissen: Menschenrechtsforderungen sind von anderen Institutionen zu erheben als von der agierenden Wirtschaft. Menschenrechtsforderungen sind Forderungen, die zu erheben sind von den Medien, von den Politikern, vom Europaparlament, vom Europarat. Das sind die Adressen, wo berechtigterweise auch heute Menschenrechtsforderungen erhoben werden, auch mit gewissen Erfolgen.

    Heckmann: Und die Wirtschaft ist da außen vor?

    von Studnitz: Die Wirtschaft hat eine andere Aufgabe und ich glaube, man darf hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.

    Heckmann: Herr von Studnitz, letzte Frage: Was erwarten Sie von dem Urteil? Halten Sie es für möglich, dass da am Ende doch ein Freispruch herauskommt, oder ist das ausgeschlossen, steht das Urteil also sozusagen schon fest?

    von Studnitz: Ich würde mich freuen, ich würde hoffen, dass es zu einem Freispruch führt, denn all das, was wir über diesen Prozess gehört haben und erlebt haben, ist eigentlich angetan, sehr starke Zweifel zu äußern an der Rechtmäßigkeit dieses Prozesses, sodass nach unserem westlichen Verständnis eigentlich nur ein Freispruch dabei herauskommen dürfte. Ob es das allerdings wirklich sein wird, ist mehr gegenwärtig eine Hoffnung als eine Gewissheit.

    Heckmann: Botschafter a.D. Ernst-Jörg von Studnitz, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums.

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