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Psychologie statt Mord

Inspector Thomas Lynley und seine Kollegin Sergeant Barbara Havers melden sich zurück. In ihrem bisher längsten Inspector-Lynley-Roman konzentriert sich Autorin Elisabeth George auf die Psychologie ihrer Figuren. Im Mittelpunkt steht nicht ein klassischer Mord, sondern die Ränkespiele der Gesellschaft.

Von Emilia Egge | 29.08.2012
    Sie ist 1949 in den USA geboren, ist dort aufgewachsen, hat in Amerika studiert, dort angefangen zu schreiben und lebt auch heute noch dort, und zwar im Staat Washington. Einen zweiten Wohnsitz hat sie in London. Aus gutem Grund. Denn von hier aus kann sie ihre Kriminalromane an Ort und Stelle recherchieren. Elizabeth Georges Serienkommissar Inspector Lynley ist selbstverständlich Engländer. In seinem 17. Fall wird er an den "Lake District" im Nordwesten Englands geschickt, in die Provinz Cumbria. Es bereitet Elizabeth George sichtlich Behagen, die Landschaft dort als Kulisse für ihren neuen Roman "Glaube der Lüge" aufzubauen. Es geht hier nicht um Menschen, die Lügen verbreiten, sondern um Menschen, die Lebenslügen brauchen, um die Realität des Bestehenden zu ertragen. Das ist die Grundidee einer Autorin, die sich in Psychologie bestens auskennt. Sie hat das Fach studiert, ehe sie Autorin wurde.

    Elizabeth Georges Protagonisten sind vor allem der ernste Inspector Lynley, ein Mann mit aristokratischem Hintergrund, finanziell unabhängig, und Sergeant Barbara Havers, aus vergleichsweise einfachen Verhältnissen, nicht derart von Welt geschlagen wie ihr Kollege. Die unterschiedlichen Herkünfte führen zu Konflikten. Die Ermittlungen der Beiden finden auch in diesem Band wieder in der gehobenen Gesellschaftsschicht statt. In seinem neuesten Fall wird der Inspektor beauftragt, den Hintergründen eines Unfalls nachzugehen. Ausgangspunkt ist der Tod von Ian Cresswell, dem Neffen des wohlhabenden Geschäftsmannes Bernard Fairclough. Dieser wollte sich nach einem Streit mit seinem Lebenspartner beim Rudern abreagieren. Beim Aussteigen aus dem Boot rutscht Ian aus, schlägt mit dem Kopf auf und ertrinkt. Je intensiver Inspector Lyneley dem Fall nachgeht, umso mehr Geheimnissen und Lügen in der Familiengeschichte der Faircloughs kommt er auf die Spur. Fairclough geht davon aus, dass es sich um einen Mord handelt. Er verdächtigt sogar seinen eigenen Sohn. Aber der Inspektor ermittelt: Es handelt sich nicht um ein Verbrechen.

    Und wirklich: "Glaube der Lüge" ist ein Kriminalroman ohne Mord. Die Autorin konzentriert sich auf andere Aspekte. Es geht ihr um gesellschaftlich aktuelle Themen wie Pädophilie, Alkoholismus, Homosexualität, Geschlechtsumwandlung, Leihmutterschaft, In-vitro-Fertilisation. Der Roman besteht neben der Haupthandlung um die Ermittlungen des Inspektors aus vielen Nebenhandlungen. Jeder Charakter hat ein eigenes Rätsel. Auch Inspector Lyneley selbst, der sich weidlich auf eine geheime sexuelle Beziehung mit seiner Chefin einlässt. Eine illustre Figur ist auch Zed Benjamin, ein Boulevard-Zeitungsreporter. Er schnüffelt ebenfalls in der Geschichte der Faircloughs herum und muss mit der Kündigung rechnen, sollte er keine "sexy Story" abliefern, wie sein Boss das erwartet. Auch mit seiner Mutter hat Zed zu kämpfen. Diese versucht ihn, über seinen Kopf hinweg, permanent zu verheiraten – am Ende vergeblich.

    Bei dieser Fülle an komplexen und verstrickten Handlungen kann der Leser schnell den Überblick verlieren. Aber es gehört zum Kalkül der Autorin, ihn zu verwirren und seine Konzentration nicht allein auf einen vermeintlichen Mordfalls zu lenken. Elizabeth George schafft es am Ende dennoch, alle Handlungsstränge zusammen und zu einem verblüffenden Finale zu führen. Wer Elizabeth Georges frühere Romane kennt, hat es bei der Lektüre leichter als "Einsteiger". Sind dem Elizabeth-George-Fan doch einzelne Protagonisten aus den vorangegangenen Krimis der Autorin schon bekannt. "Glaube der Lüge" ist Elizabeth Georges mit gut 700 Seiten bislang längster Roman. Wer ihn nicht schafft, muss auf die Verfilmung warten. Und die kommt auch in diesem Fall ganz bestimmt.


    Literaturhinweis: Elizabeth George: Glaube der Lüge. Ein Inspector-Lynley-Roman, ins Deutsche übertragen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann. Erschienen im Wilhelm Goldmann Verlag, München 2012 (Band 17 der Inspector Lyneley Reihe). 704 Seiten, 24,99 Euro.