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Quarks, Higgs und Internet für alle

Mai 1954. Auf den Äckern von Meyrin, einem kleinen Dorf unweit von Genf, beginnen die Bauarbeiten für eines der größten Forschungszentren der Welt: das Europäische Laboratorium für Teilchenphysik CERN. Tausende von Forschern suchen hier nach den letzten Grundbausteinen der Materie und fahnden mit Riesenbeschleunigern nach Quarks, Neutrinos, Higgs und anderen exotischen Elementarteilchen. Erfolglos sind die Teilchenjäger nicht: Sie haben diverse Nobelpreise einkassiert und – quasi als Abfallprodukt - das World Wide Web erfunden. Doch die größte Herausforderung steht den Physikern noch bevor: Mit dem "LHC” bauen sie den größten, teuersten und technisch anspruchsvollsten Beschleuniger, den die Wissenschaft je gesehen hat.

Von Frank Grotelüschen | 26.09.2004
    Am Anfang war die Leere. Gemacht aus einer unbekannten, unvorstellbar dichten Energie. Ein winziges Stück davon, kleiner als ein Sandkorn, enthält alle Energie des Universums. Ein Fünkchen zündet, seine Energie wird zu Materie. Raum und Zeit entstehen, der Kosmos wird geboren. Das ist der Urknall, der Big Bang.

    Schopper: Was wir machen, ist eigentlich eine Wiederholung des Big Bang, wo seinerzeit aus einer hohen Konzentration von Energie die Elementarteilchen geboren wurden. Und in diesen Ringen erzeugt man so hohe Energiekonzentrationen, dass man einen Materiezustand erzeugen kann, der dem entspricht, wie er Milliardstel Sekunden nach dem Big Bang existiert hat. Und man stellt ja fest einen sehr engen Zusammenhang zwischen Elementarteilchenphysik, der Erforschung des Allerkleinsten, mit dem Verständnis des Allergrößten, nämlich des Universums. Als sich der Kosmos weiter ausdehnt, fällt die Temperatur. Das Universum bekommt Struktur. Kräfte bilden sich aus. Sie formen Teilchen und Atome, Sterne, Planeten - und uns.

    Genf, 30. Juli, ein lauer Freitagabend. Am Ufer des Sees drängen sich die Leute. Karussells wirbeln, Lichter blinken, Buden bieten Imbisskost aus aller Herren Länder an. 200.000 Menschen hat das Stadtfest angelockt. Um Viertel nach zehn blicken sie alle hinaus auf den See. Der Höhepunkt des Abends, das Feuerwerk: Fontänen aus Licht, verschachtelte Farbkaskaden, Abertausende von Sternen, die bunt aufleuchten, um gleich wieder zu verglühen. Gut 20 Minuten dauert das Spektakel. Es symbolisiert die verschiedenen Phasen des Urknalls, des Big Bang - über Verstärker kommentiert von einem Sprecher.

    Am Anfang der Zeit wurde das Universum geschaffen. 13 Milliarden 700 Millionen Jahre später versucht das CERN, dieses mysteriöse Ereignis zu erklären.

    Die Regisseure der pyrotechnischen Show sind die Physiker vom CERN. So heißt das größte Teilchenforschungszentrum der Welt mit Sitz in Genf. Das Feuerwerk ist der Auftakt für Feierlichkeiten, die sich bis in den Oktober hinziehen werden - Vorträge, Ausstellungen, Festakte. Das CERN wird 50. Am 29. September 1954 war jener Vertrag in Kraft getreten, in dem sich zwölf europäische Staaten auf die Gründung eines internationalen Forschungszentrums geeinigt hatten.

    Jack Steinberger, Jahrgang 1921, Physiknobelpreisträger. Seit 1968 am CERN.

    Vor dem Krieg war Europa das Zentrum der Grundlagenforschung. Nach dem Krieg änderte sich die Lage: Jetzt gab Amerika den Ton an, besonders in der Teilchenphysik. Also suchten Europas Physiker in den frühen 50ern nach einem Weg, um zurück ins Geschäft zu kommen. Und sie trafen den Entschluss, dass man sich besser zusammentun sollte.

    CERN ist wohl die einzige Organisation, die aufgrund von zwei Initiativen gegründet worden ist.

    Herwig Schopper, Jahrgang 1924. Von 1981 bis 1988 Generaldirektor des CERN.

    Erstens gab es eine Initiative von den Physikern in Europa damals, die eingesehen haben, dass nur wenn man die europäischen Kräfte bündelt, Europa konkurrenzfähig ist insbesondere mit den Vereinigten Staaten. Aber es gab eine zweite Initiative: Es wurde knapp nach dem Krieg in Lausanne das Institut für die europäische Kultur gegründet. Der Gründer war ein sehr bekannter Schweizer Schriftsteller, Denis de Rougemont. Und die haben eine Tagung veranstaltet in Lausanne, wo zum ersten Mal nach dem Krieg englische, französische und deutsche Politiker - Carlo Schmid war damals der deutsche Vertreter - sich treffen konnten und überlegt haben: Was kann man tun, dass die Europäer wieder zusammenfinden zu friedlicher Zusammenarbeit. Und daraus entstand die Initiative, ein Forschungslabor zu gründen, wo man eben diese friedliche Zusammenarbeit üben konnte. Und CERN wurde so die erste europäische Organisation - älter als alle anderen.

    Juni 1950. Auf einer UNESCO-Generalversammlung in Florenz nimmt die Idee konkrete Formen an. Zu den Ziehvätern zählen die Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr, Isaac Rabi und Werner Heisenberg. Besonders die Deutschen sehen im CERN eine Chance - die Möglichkeit, das durch die Hitlerzeit ramponierte Ansehen aufzupolieren und sich wieder in die Völkergemeinschaft einzugliedern.

    Gebaut werden soll das Labor in Meyrin, einem Dorf bei Genf, direkt an der Grenze zu Frankreich. Genf liegt in der krisensicheren Schweiz und gilt als bewährter Standort für internationale Organisationen wie dem Roten Kreuz. CERN, das Kürzel steht für "Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire", zu deutsch "Europäischer Rat für Kernforschung". Herwig Schopper:

    Leider wird häufig noch missverstanden das "N" im CERN, das für "Nucléaire" stand am Anfang. Sodass viele Leute hier lange Jahre der Meinung waren, CERN hätte etwas mit Nuklearenergie zu tun, was natürlich überhaupt nicht stimmt. Und deswegen wurde später auch der Name hinzugefügt: Europäisches Zentrum für Teilchenphysik. Es ging von Anfang an nur um Grundlagenforschung und die Frage: Wie ist die Materie aufgebaut? Was sind die Grundbausteine der Materie?

    Mai 1954. Auf den Wiesen von Meyrin beginnen die Bauarbeiten für den ersten Beschleuniger. Beschleuniger bringen kleine Materieteilchen wie Protonen, also Wasserstoffkerne, nahezu auf Lichtgeschwindigkeit, auf 300.000 Kilometer pro Sekunde. Die Teilchen kreisen in einer luftleer gepumpten Stahlröhre, beschleunigt von starken Radiowellen, auf der Bahn gehalten von wuchtigen Magneten. Dann prallen die Teilchen wie Geschosse auf eine Zielscheibe und zerplatzen. Die Bruchstücke durchforsten die Physiker mit Detektoren, das sind riesige Teilchenkameras, nach neuen, unbekannten Materiebausteinen. Je größer dabei der Beschleuniger, desto stärker die Wucht des Aufpralls und desto größer die Chance, neue Teilchen zu finden. Am besten jene Urteilchen, aus denen die Materie zusammengesetzt ist und die in Reinform nur unmittelbar nach dem Urknall existierten.

    Herwig Schopper: Das Hauptziel bestand darin, einen Beschleuniger zu bauen, der die höchste Energie haben sollte - höher als andere Maschinen. Das war das sog. Protonen-Synchrotron. Eine Maschine, die die Teilchen bis auf 26 Gigaelektronenvolt beschleunigte.

    Elektronenvolt. Die Maßzahl eines Beschleunigers, die Energie, auf die er Teilchen bringen kann. Je mehr desto besser. Ein Fernseher beschleunigt Elektronen auf 20.000 Elektronenvolt. Im November 1959 schafft das Protonen-Synchrotron in Genf erstmals 26 Milliarden Elektronenvolt.

    Herwig Schopper: Und in der Tat wurde damit der damalige Energierekord, der bei einem Beschleuniger in der Sowjetunion bestand, geschlagen. Das war der berühmte Fall, wo der Leiter des Projekts John Adams eine Wodkaflasche öffnete, die ihm vom sowjetischen Labor gegeben wurde mit der Auflage, sie erst zu öffnen, wenn der russische Rekord geschlagen würde.

    Ein erster Triumph für das CERN. Doch die erste wissenschaftliche Sensation lässt auf sich warten, erinnert sich Jack Steinberger.

    Es hat eine Weile gedauert, bis die Teilchenphysik hier so richtig zum Laufen kam. Der Durchbruch fürs CERN kam 1973, als ein Detektor namens Gargamelle ein neues, bis dato theoretisches Phänomen entdeckte - einen Effekt, der sich in anderen Experimenten nicht einmal angedeutet hatte. Damit hatte sich das CERN erstmals an die vorderste Front der Forschung gesetzt.

    Juli 1973. Der Franzose André Lagarrigue vermeldet die Entdeckung der neutralen Ströme, so heißt das Phänomen. Damit hat das CERN eine fundamentale Theorie bestätigt - die elektroschwache Theorie. Sie bringt zwei elementare Naturkräfte unter einen Hut: die elektromagnetische Kraft und die schwache Kernkraft; letztere löst radioaktive Zerfallsprozesse aus. Für die Fachwelt ein Triumph. Im 19. Jahrhundert war ein ähnlich wichtiger Schritt schon einmal gelungen: James Clerk Maxwell hatte herausgefunden, dass Elektrizität und Magnetismus zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind - der elektromagnetischen Kraft. Die Physik wurde dadurch revolutioniert. Und jetzt war eine solche Vereinheitlichung von Kräften ein zweites mal gelungen.

    Wäre Lagarrigue nicht ein paar Jahre nach der Entdeckung gestorben, hätte er ganz sicher den Nobelpreis bekommen, meint Jack Steinberger. Er selber, Steinberger, wäre dann wohl leer ausgegangen.

    Dezember 1984, der bis dahin größte Tag für das CERN. In Stockholm nehmen der Italiener Carlo Rubbia und der Niederländer Simon van der Meer den Physiknobelpreis in Empfang. Die beiden haben eine ganz neue Gattung von Teilchen entdeckt, Z- und W-Teilchen genannt. Sie sind 100 Mal schwerer als Wasserstoff und fungieren als Überträger der schwachen Kernkraft. Die Entdeckung gilt als weiterer, als direkter Beweis der elektroschwachen Theorie.
    Schon 1976 ist den Physikern klar, dass sie, um die Teilchen zu finden, einen überaus starken Beschleuniger brauchen. Die zündende Idee kommt ihnen in der Kaffeepause einer Konferenz: Wie wäre es, wenn man den damals größten CERN-Beschleuniger umbauen würde, sodass er die Teilchen nicht mehr auf eine Zielscheibe schießt, sondern frontal aufeinanderprallen lässt? Das brächte noch mehr Wucht, noch mehr Kollisionsenergie.

    Technisch war das monströs beinahe.

    Hans Hoffmann, damals verantwortlich für den Aufbau von UA1. So heißt die Teilchenkamera, die die exotischen Teilchen aufspüren soll.

    Die Idee war eigentlich technisch zunächst mal verrückt. Aber CERN ist wirklich ein Platz, wo man auch sehr weit hergeholte Dinge realisieren kann.

    Der Entwurf ist 1978 fertig. Im Sommer 81 spuckt die Maschine erste Messdaten aus. Die einzige Konkurrenz für UA1 kommt aus dem eigenen Lager. Ebenfalls am CERN steht ein zweiter Detektor, UA2.

    Wenn Sie ein zweites Experiment auf ihren Fersen haben, dann ist das sehr aufregend. Denn die könnten ja vielleicht besser sein. Und die könnten das, was man sucht, eher finden. ... Das waren Wochen, die waren sehr aufregend.
    Am 20. Januar 83 ist sich Rubbia seiner Sache sicher. Er stellt die Messungen im überfüllten Hörsaal vor - einen Tag früher als Pierre Darriulat, der Chef von UA2. Später soll sich herausstellen, dass sein Team das Z-Teilchen zuerst gefunden hatte, sich der Entdeckung aber nicht ganz sicher gewesen war. Wäre Darriulat weniger zögerlich gewesen, hätte er den Nobelpreis bekommen.

    Oktober 2000. In einem Container, vollgestellt mit Computern, Bildschirmen und Messgeräten, sitzen vier Wissenschaftler, darunter Christoph Rembser aus Deutschland.

    Angespannt starrt er auf die Energieanzeige: Eben noch stand das Instrument auf 103,4. Jetzt sind es 104.

    Jetzt laufen wir mit keiner Reserve mehr. Man kitzelt jetzt wirklich das Allerletzte raus.

    Das Allerletzte aus dem größten Beschleuniger, den es je gegeben hat: LEP heißt er, Large Electron-Positron-Collider. Ein Ring, 27 Kilometer Umfang, eingebaut in eine Art U-Bahn-Tunnel 100 Meter tief unterhalb der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz. Elf Jahre lang hat LEP Elektronen aufeinander gefeuert, haben seine Detektoren die Kollisionen bis ins Kleinste analysiert. Im September 2000 soll die Maschinerie abgeschaltet werden. Doch dann kommt es anders für Christoph Rembser und seine Leute.

    Dann kamen diese Kandidaten. Und wenn man dann plötzlich Hinweise hat - natürlich kriegt man dann glänzende Augen!

    Im letzten Moment ist LEP einer möglichen wissenschaftlichen Sensation auf die Spur gekommen - dem Higgs-Teilchen, dem meist gesuchten Partikel in der Physik. Higgs soll erklären helfen, warum die elementaren Bausteine der Materie, Teilchen wie Quarks und Elektronen, überhaupt Masse besitzen. Rembser und seine Kollegen messen fieberhaft, schieben Sonderschichten. Doch später stellt sich heraus: wahrscheinlich ein falscher Alarm. Zufällige Schwankungen in den Messdaten haben eine Entdeckung wohl nur vorgegaukelt.

    Die Bilanz von LEP, sie ernüchtert ein wenig. Der bis heute größte Beschleuniger der Welt hat nicht den erhofften Paukenschlag gebracht, hat kein neues Teilchen entdeckt. Dafür aber, meint Herwig Schopper, hat LEP das aktuelle Weltbild der Physik gefestigt, das Standardmodell. In einfachen Worten besagt es, dass Materie im wesentlichen aus zwei Arten von Bausteinen besteht: aus Quarks und aus Elektronen.

    Das Hauptergebnis war, dass dieses Standardmodell der Elementarteilchenphysik mit einer Genauigkeit von besser als einem Prozent bestätigt werden konnte.

    Ein Ergebnis, nicht untypisch fürs CERN: eine Unzahl von Messdaten mit hohem Wert für die Experten, doch nur wenige Durchbrüche wie die Entdeckung ganz neuer Partikel. Das spiegelt sich auch in der Anzahl der Nobelpreise: Immerhin fünf gab es in den letzten Jahrzehnten für amerikanische Teilchenexperimente. Nur zwei gingen ans CERN.

    Viele Nichtphysiker aber dürften beim Stichwort CERN weniger an Elektronen und Quarks denken. Sie verbinden etwas anderes mit einem der größten Labors der Welt.

    Das ist so ein lausiges System. Völlig unmöglich, sich irgendeine der Funktionen zu merken. Ich geb's auf!

    Robert Cailliau knallt den Hörer auf die Gabel. Eigentlich wollte er das Telefon umstellen zur Sekretärin. Er hat in der Bedienungsanleitung geblättert, doch wie’s funktioniert, hat Cailliau nicht begriffen. An sich erstaunlich für einen, der mitverantwortlich ist für eine der wichtigsten Innovationen der Informationstechnologie: das World Wide Web.

    Ende der 80er Jahre hatte praktisch jeder Teilchenforscher seine Workstation, seinen eigenen Computer. Da wurde es langsam zum Problem, dass viele Forscher ständig zwischen dem CERN und ihrer Heimatuniversität pendelten. Damals waren die Unis zwar schon ans Internet angeschlossen. Noch aber war es nicht so ohne weiteres möglich, von einem Rechner etwa aus Deutschland auf einen Computer hier am CERN zuzugreifen, um sich Daten anzuschauen oder herunter zu laden. Man musste vorher jemanden anrufen und ihn fragen: Kannst du mir das bitte mal als E-Mail schicken?

    Wie lässt sich die digitale Kommunikation vereinfachen? Über dieses Problem denkt in Genf vor allem einer nach: Tim Berners-Lee. Gemeinsam mit Robert Cailliau und zwei, drei anderen Experten nimmt er die Sache in Angriff. Das Hauptproblem:

    Können wir jedem Dokument, egal auf welchem Rechner in der Welt es abgelegt ist, einen eigenen, einen unverwechselbaren Namen geben? Nur dadurch wäre sichergestellt, dass man dieses Dokument auch wirklich findet. Dieses Problem zu lösen, war Tims eigentliche Erfindung.

    Tim Berners-Lee ordnet jedem Institut, jeder Universität einen eindeutigen Namen zu, Domain genannt. Außerdem erfinden er und seine Leute html, also ein einheitliches Format fürs Internet. Erst dadurch sieht eine Webseite auf allen Rechnern gleich aus.

    Die erste Software mitsamt Server, Browser usw. hatten wir Ende 1990/91 fingen dann auch andere Teilchenforschungslabors an, das System zu nutzen. (18:42) Den Namen übrigens hatten wir schon im Mai 1990, also bevor das Ganze überhaupt lief. Wir hatten etwas Kurzes, Griffiges gesucht, aber einfach nichts gefunden. Also blieben wir bei dem, was an sich nur ein Arbeitstitel war: World Wide Web.

    Binnen zweier Jahre setzt sich das Web bei den Teilchenforschern durch. Dann, im April 1993, gibt das CERN die Programmcodes frei. Kurz darauf erscheinen die ersten Browser für Betriebssysteme wie Windows oder Mac. Der Siegeszug von ”www” beginnt. Seit Mitte der 90er breitet sich das Web über den Globus aus wie ein dicht gewebtes Spinnennetz.

    Die Leitung des CERN hat die Bedeutung anfangs gar nicht erfasst. Sie duldete unsere Arbeiten mit der Haltung: Lasst die mal machen, vielleicht kommt dabei ja etwas raus. Das Web war nie ein offizielles CERN-Projekt.

    Heute schmückt man sich gern mit den Lorbeeren: ”CERN - where the web was born”, so lautet der Slogan zum 50jährigen Jubiläum: ”CERN, der Geburtsort des Web”. Urvater Tim Berners-Lee arbeitet heute nicht mehr in Genf, sondern in Boston am arrivierten MIT. Doch er dürfte genauso überrascht sein vom Erfolg seiner Erfindung wie sein ehemaliger Mitstreiter Robert Cailliau.

    Ja. Es hatte diverse Anwendungen, an die wir nie gedacht hatten. Dass sich heute so viele kommerzielle Sachen im Web abspielen, haben wir nicht vorausgesehen. Wir hatten eher an so etwas gedacht wie eine virtuelle Weltbücherei, also eher nahe liegende Sachen.

    Und die Experten vom CERN basteln schon am nächsten Clou, an der nächsten digitalen Revolution.

    Wenn wir jetzt da reingehen, wird das sehr laut.

    Das heißt Farm. Wie auf einem großen Maisfeld stehen hier die Rechner einer neben dem anderen. Das hat natürlich mit der Idee einer Farm sehr viel zu tun.


    Der Raum ist groß wie eine Turnhalle, und die Klimaanlage rauscht so laut, dass man fast dagegen anschreien muss. Links wie rechts stehen Regale mit Hunderten von PCs, aufgestellt in Reih und Glied, als warteten sie im Supermarkt auf ihre Käufer. Das hier ist die Keimzelle für das neue Rechnerkonzept vom CERN: Grid heißt es, wörtlich übersetzt Gitter.

    Wenn Sie es vergleichen mit dem Web, wo man Textseiten oder Bilder aufrufen kann, ohne direkt zu wissen, wo sich die Information befindet, ist die Hoffnung, dass man in der Zukunft beim Grid nicht nur die Information verteilen kann, sondern dass man die Rechenleistung automatisch integrieren kann.

    Wolfgang von Rüden, Leiter der IT-Abteilung des CERN. Bislang ist das Internet ein großes, globales Hin- und Herschieben von Daten. Rechnen aber tut jeder Computer ganz für sich allein. Anders beim Grid: Hier sind Computer in sämtlichen Winkeln des Erdballs so miteinander vernetzt, dass sie gemeinsam rechnen können. Das Grid schaufelt Daten hin und her, kopiert Programme und lässt dort rechnen, wo die Computer gerade nichts zu tun haben. Am Ende bekommt der Benutzer sein Ergebnis, ohne auch nur zu ahnen, ob die Nuss in Hamburg geknackt wurde oder in Haiti.

    Die Grid-Software sorgt dafür, dass der Endverbraucher das gesamte Netz wie einen einzigen Rechner sieht. Das ist zumindest die Vorstellung, die wir heute haben. Wir sind noch nicht soweit. Wir fangen an, die ersten Schritte in diese Richtung zu machen.

    Zurzeit sind 5000 Computer aus 60 Rechenzentren zu einem vorläufigen Grid zusammengeschaltet. Auch IT-Firmen wie IBM und Intel mischen mit und beobachten genau, was da am CERN ausgeheckt wird. Man weiß ja nie: Vielleicht wird's ja wieder so ein Renner wie das Web.

    Als das Web hier entwickelt wurde mit dem Ziel, die Kommunikation zwischen den Physikern zu verbessern, hat keiner sich damals vorstellen können, was daraus werde würde. Mit dem Grid sind wir möglicherweise in einer ähnlichen Situation. Ich glaube, es wäre vermessen zu behaupten, dass man heute weiß, wie es in vier, fünf Jahren aussehen wird. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass diese Technologie ihren Weg finden wird in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft. Ich denke z.B. an Röntgenaufnahmen usw., sodass auch der Allgemeinverbraucher durchaus davon profitieren wird.

    Das Fernziel könnte sein: eine Kombination von Web und Grid zu einem digitalen Supernetz. Doch für die CERN-Forscher ist das Grid natürlich kein Selbstzweck. Sie entwickeln es vor allem für das Zukunftsprojekt des CERN: einen Superbeschleuniger, der so viele Daten liefern wird, dass ein Rechenzentrum alleine überfordert wäre. LHC, so heißt der Riese, Large Hadron Collider - der mit Abstand stärkste Beschleuniger der Welt. Die Vorarbeiten sind schon in vollem Gange.

    Ein Schwertransport. Jeder Magnet ist 30 Tonnen schwer. Und davon hat es 1200 Stück. Der Magnet, den wir hier gerade raus fahren sehen, ist schon voll fertig ausgetestet. Und der Magnet wird jetzt irgendwo auf ein Gelände gebracht, wo er abgestellt wird, bis er in den Tunnel gehen kann.

    Der Magnet ist eine blau lackierte Metallröhre, knapp einen Meter dick und 15 Meter lang. Das Herzstück des LHC, sagt Physiker Jörg Wenninger. Insgesamt gibt es 1200 dieser extrem starken Magneten. Sie sollen ultraschnelle Protonen auf einer Kreisbahn halten.

    Das Besondere an den Magneten ist, dass sie supraleitend sind. Sie werden so weit abgekühlt, bis der elektrische Widerstand auf null geht. Was den enormen Vorteil hat, dass man extrem hohe Ströme durch extrem kleine Kabel durchschieben kann, ohne dass die sich erhitzen, verschmelzen. Der einzige Nachteil: Man muss den Magneten erst mal auf minus 270 Grad abkühlen, bevor man so was machen kann.

    Wie ein ferngesteuertes Modellauto fährt der Techniker einen der 30-Tonnen-Magneten durch die Testhalle. Bald werden die Leute vom CERN damit beginnen, die blauen Röhren in den alten, ausgeschlachteten LEP-Tunnel einzubauen - ein unterirdischer Riesenring, Umfang 27 Kilometer.

    100 Meter fährt der Fahrstuhl in die Tiefe, dann öffnet sich die Tür. Ein paar Schritte durch einen Gang, und plötzlich steht man in einer Halle von den Ausmaßen einer Kathedrale.

    Was man sieht, das am eindrücklichsten ist, sind die Füße des Detektors. Die sind ungefähr drei Meter und vier Meter breit, füllen ungefähr eine Länge von 30 Meter aus. Und da wird einmal das Experiment draufstehen.

    Silvia Schuh, Physikerin bei Atlas, so heißt der Detektor, eine riesige Teilchenkamera.

    Der Detektor wird 40 mal 20 Meter groß werden. Und natürlich brauchen wir da eine Kaverne, die größer ist, um diesen Detektor zu beherbergen. Es ist soviel ich weiß die größte unterirdische Kaverne, die es gibt für so einen Detektor.

    Noch ist die Halle ziemlich leer. Die Physiker haben gerade erst begonnen, ihren Detektor zusammenzubauen. In den Hallenwänden fallen zwei Löcher ins Auge. Sie sind knapp fünf Meter groß und liegen sich genau gegenüber. Da geht’s zum Tunnel für den LHC, sagt Silvia Schuh.

    Von beiden Seiten kommt der Strahl herein und wird dann im Zentrum des Detektors zur Kollision gebracht. Also von rechts und von links kommen Protonen, und die kollidieren dann im Zentrum. Was dabei passiert ist, dass neue Teilchen, die vorher noch nicht existiert haben, entstehen können, erzeugt werden in dem Zentrum von unserem Detektor. Die leben eine bestimmte Zeit, zerfallen dann. Und wir sehen uns eben an, was nachher quasi passiert, nachdem sie zerfallen sind. Wir messen ihre Zerfallsprodukte.

    Mit einer Milliarde Kollisionen pro Sekunde rechnen die Forscher. Die interessantesten wollen sie auswerten, wollen rekonstruieren, was an neuen, exotischen Teilchen im Ring entstanden ist.

    Wir wollen herausfinden, woher die Masse der Teilchen kommt. Unsere Theorie sagt uns eben, dass es ein Teilchen geben soll, das Higgs-Teilchen. Und wir versuchen dieses Teilchen zu finden.

    Genau das Teilchen also, nach dem der alte LEP-Beschleuniger vergeblich gesucht hatte. Der LHC aber, da sind sich die Physiker fast sicher, wird das Higgs finden - und dem CERN einen weiteren Nobelpreis bescheren. Und noch einer neuen, bislang unentdeckten Teilchengattung ist der Megabeschleuniger auf der Spur - den so genannten supersymmetrischen Teilchen.

    Die Supersymmetrie würde eine weitere Vereinfachung im Bild der Teilchenphysik bringen.

    Peter Jenni, Sprecher des Atlas-Detektors.

    Dabei sagt diese Theorie voraus, dass alle uns jetzt bekannten Teilchen Partnerteilchen haben. Der LHC und das Atlas-Experiment wurden so konzipiert, dass wir nach diesen Teilchen Ausschau halten können.

    Und vielleicht sind es eben diese supersymmetrischen Teilchen, die hinter einem großen Rätsel des Universums stecken: der sog. dunklen Materie. Physiker wissen, dass es im Universum eine rätselhafte Materieform geben muss, die die Galaxien zusammenhält wie ein unsichtbarer Klebstoff. Die supersymmetrischen Teilchen gelten als ausgesprochen heiße Kandidaten für diese rätselhafte, dunkle Materie.

    Der Traum der Teilchenphysiker ist auch, dass etwas Neues, Unerwartetes passieren könnte. Und das Aufregende am LHC ist wirklich, dass wir eine so hohe Kollisionsenergie zur Verfügung haben, dass das durchaus der Fall sein kann.

    14.000 Gigaelektronenvolt Kollisionsenergie soll der LHC bringen - sieben Mal mehr als der heutige Rekordhalter, eine Teilchenschleuder in den USA, und rund 500 Mal mehr als der erste CERN-Beschleuniger von 1959. Das Ganze hat natürlich seinen Preis: Über drei Milliarden Euro wird der LHC kosten, insgesamt vier Detektoren inklusive. Vor zwei Jahren waren die Kosten sogar aus dem Ruder gelaufen - eine Angelegenheit, bei der das CERN-Management nicht gerade souverän wirkte. Am Ende musste es den Rotstift ansetzen und den Start des Beschleuniger um ein Jahr verschieben.

    Peter Jenni: Das Gerät soll Ende 2006 fertig montiert sein. Sodass wir dann bereit sind, im Sommer 2007 die ersten Kollisionen zu beobachten.

    Zurück auf dem Hauptgelände. Zur Mittagszeit trifft sich das Forscherbabylon in der Kantine. Hier wird englisch und französisch gesprochen, dort tönt es deutsch und italienisch, weiter hinten am Tisch russisch und chinesisch. Aus den zwölf Mitgliedsstaaten der Gründertage sind 20 geworden. 3000 Menschen arbeiten fest am CERN. Und jedes Jahr kommen 6000 Gastwissenschaftler, manche für Tage, andere für Monate. Mittlerweile arbeiten nicht nur Europäer in Genf, sondern immer mehr Forscher aus Ländern wie China, Japan und den USA.

    Das Gelände hat heute die Ausmaße einer Kleinstadt. Und auch wenn die schmucklosen Betonhallen und tristen Verwaltungsgebäude nicht gerade zum Verweilen laden - wenn erst mal der Superbeschleuniger LHC in Betrieb geht, werden noch mehr Teilchenforscher aus aller Welt nach Genf reisen. Doch eines sollte man nicht vergessen, meint sichtlich bewegt Ex-Generaldirektor Herwig Schopper: CERN ist nicht nur ein Hort der Spitzenforschung, sondern auch der internationalen Verständigung.

    Die Zusammenarbeit zwischen CERN und einem ähnlichen Institut in der Sowjetunion, Dubna, war lange Zeit während des kalten Krieges die einzige Brücke, wo Deutsche aus der Bundesrepublik und der damaligen DDR zusammenarbeiten konnten. Bei einem LEP-Experiment war es zum ersten Mal, dass Wissenschaftler vom Kontinent China mit Wissenschaftlern aus Taiwan zusammengearbeitet haben. In den 80er Jahren, als die Abrüstungskonferenzen stattfanden, als sich Delegationen aus Amerika und der Sowjetunion trafen und sie in einen Engpass kamen, rief mich der Leiter der amerikanischen Delegation an und sagte: können Sie uns nicht einladen zu einem Mittagessen bei CERN, sodass wir auf neutralem Boden, der von beiden Seiten respektiert wird, uns treffen können, privat reden können? Das hat stattgefunden. Mir wurde später gesagt, es hat damals die festgefahrenen Verhandlungen entblockt.

    Weitere Informationen zu den CERN-Feierlichkeiten in Deutschland:

    Infos zu den CERN-Feierlichkeiten in Deutschland

    Schweizer Seite zu CERN-Feierlichkeiten