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Reformstau und Stillstand in Deutschland - Wie geht es weiter auf dem Arbeitsmarkt?

Die Gründe für diese Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Erwerbstätigkeit sind eindeutig gesamtwirtschaftlicher Natur. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Phase der Stagnation nah bei einem Nullwachstum.

Michael Braun und Brigitte Scholtes | 13.03.2003
    Die Gründe für diese Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Erwerbstätigkeit sind eindeutig gesamtwirtschaftlicher Natur. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Phase der Stagnation nah bei einem Nullwachstum.

    Monat für Monat berichtet Florian Gerster über den Arbeitsmarkt, Monat für Monat muss der Vorstandsvorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit schlechtere Zahlen verbreiten. Vor zwei Jahren startete der Arbeitsmarkt mit 4,1 Millionen Arbeitslosen ins neue Jahr, voriges Jahr mit 4,3 Millionen, dieses Jahr mit 4,6 Millionen. Im letzten Monat waren es schon 4,7 Millionen, so viele wie seit fünf Jahren in einem Februar nicht. Besserung ist kaum absehbar. Und deshalb können nur ganz wenige auf die Frage, ob sie mit guten Nachrichten aus Arbeitsamt kommen, so wie diese Frau antworten:

    Ja, ich habe Arbeit, aber nicht über das Arbeitsamt. Ich habe es mir selber gesucht durch Blindbewerbungen und na ja, hat geklappt”- " Wie lange haben Sie gesucht? ”- "Seit Dezember. Also relativ kurz.” - "Wie haben Sie die Lage am Arbeitsmarkt empfunden ? Wo klemmt es?” - " Auf alle Fälle ist es sehr belastend. Es ist fast aussichtslos was zu kriegen. Absagen, Absagen, Absagen...” "Ich sehe die Lage auf dem Arbeitsmarkt als sehr, sehr schlecht an. Ich komme aus der IT- Branche und es gab zuvor einen Boom, wenn man damals 70 Prozent oder 60 Prozent der Anforderung eines Stellenangebots erfüllt hatte und das plausibel begründen konnte, dass man das Andere erlernen kann, dann hat das ohne Umständen gereicht. Und heute ist es so, dass man eine 100 Prozent - tige Erfüllung leisten muss. Wenn man die Angebote sieht, also die technische Spezifikation, die da auch angegeben werden müssen, beziehungsweise Qualifikation, dann sind diese Settings unerfüllbar häufig...

    Ja, ich denke, dass die Lage nicht besonders anders ist, wie sie vorher war. Und meine Meinung ist, dass die Regierung, die wir jetzt haben auf jeden Fall verantwortungsbewusster mit der ganzen Sache umgehet als die Regierung davor. Die Regierung kann nicht das wieder gut machen, was die Regierung vorher 15 Jahre verwirtschaftet hat.

    Wenn in Berlin niemand kapiert, dass Gerhard Schröder inkompetent ist... Die Arbeitslosigkeit steigt von 4,8 auf aller Wahrscheinlichkeit nach 4,9 bis 5 für Millionen Arbeitslose innerhalb von sechs Wochen.

    Na ja, für mich ist es relativ grausig, da ich vor 10 Jahren Informatik studiert hatte und zwei Kinder hier erzogen habe und zurück will, zurück muss in den Beruf. Gewollt hätte ich erst in ein paar Jahren , aber Müssen muss ich jetzt, da mein Mann gegangen ist, auch arbeitslos ist und ich irgendwie mit zwei Kindern nicht von nichts leben kann.” "Sind Sie optimistisch was zu finden? Macht man Ihnen Hoffnungen hier?” – "Nein, man macht mir keine Hoffnungen. Ganz im Gegenteil. Ich wollte eine Schulung haben, die ein bisschen weiterführt, auf E- Commerce , was ganz gewiss noch nicht richtig tot ist, aber das wird hier vom Arbeitsamt anders gesehen. Der ganze IT- Markt wird hier überhaupt nicht mehr gefördert. Der ist tot. Ich kann umschulen von Informatikerin auf Sekretärin und das wird auch gefördert und das darf ich dann tun...

    Vom Arbeitsmarkt setzt sich die Krise fort: Weil alles an der Beschäftigung hängt, die aber lahmt, wachsen die Defizite in den Staatshaushalten und in den Sozialversicherungen gleichermaßen. Um die Ausgaben wenigstens einigermaßen zu decken, schwellen die Beiträge an. In der Rentenversicherung sind sie dieses Jahr auf 19,5 Prozent gestiegen, und seit heute wissen wir von der Bundesversicherungsanstalt für Angestallte, dass es bei anhaltend schlechter Konjunktur nächstes Jahr fast 20 Prozent werden können. Die gesetzliche Krankenversicherung hat 2002 mit einem Defizit von knapp drei Milliarden Euro abgeschlossen. Noch im Dezember hat die Bundesregierung mit "nur” 2,5 Milliarden gerechnet. Und Anfang dieser Woche mussten die Nachrichtenredaktionen Hiobsbotschaften auch von der Pflegeversicherung vermelden:

    Die gesetzliche Pflegeversicherung hat im vergangenen Jahr mit 400 Millionen Euro das größte Defizit seit ihrer Einführung vor acht Jahren verzeichnet. Wie das Bundesversicherungsamt in Berlin mitteilte, sanken die Einnahmen um 90 Millionen Euro bei gleichzeitig steigenden Ausgaben von 500 Millionen Euro.

    Und aus dem Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit hieß es heute, die Arbeitslosenversicherung stehe vor der Pleite. So schlimm muss es nicht kommen, aber die Lage ist ernst. Und das seit Jahren. Die Ursachen sind auch seit Jahren bekannt. Sie waren früher zu erkennen als 1998, früher also als zum Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung. Mindestens seit 1992 schon wächst die deutsche Wirtschaft, wenn sie wächst, langsamer als die europäische Volkswirtschaft insgesamt. Und das zeigt, dass sich im volkswirtschaftlichen Kostengefüge - vor allem in den Arbeitskosten – Verhaltensweisen, Denkstrukturen, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten verfestigt haben, die nicht mehr angebracht sind. Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, mahnt seit Jahren mehr Markt auf den Güter- und Arbeitsmärkten an. Und auf die Frage, ob er den Eindruck habe, gegen die Wand zu reden, sagte er vorige Woche, er sei Realist genug, nicht zu optimistisch zu sein, aber er müsse sagen, was gesagt werden müsse, und das immer wieder.

    I’m realist enough not to be too optimistic. But I have to say what has to be said time and time again.

    Warum er nicht gehört wird, warum die Analyse klar ist, die Veränderung aber nicht kommt, erklärt sich der Frankfurter Sozialwissenschaftler Professor Michael Erler so:

    Wir leben in einer Gesellschaft seit ungefähr der 80er Jahre, wo auf allen Ebene letztlich der Konflikt gescheut wird, in der versucht wird um jeden Preis, einen Konsens herbeizuzwingen.

    Deshalb schließen Arbeitgeber und Gewerkschaften Tarifverträge ab, die beide Seiten im Grunde als Zumutung empfinden. Den einen sind sie zu teuer, den anderen bringen sie zu wenig. Der Kompromiss findet statt auf Kosten derjenigen, die nicht in Verbänden organisiert sind, meint Erler:

    Einer der wesentlichen Gründe wird auch in der politischen Wissenschaft diskutiert unter dem Begriff Konsensdemokratie, d.h. dass doch eine ganze Reihe von Entscheidungen, die eigentlich Regierungshandeln zur Grundlage haben sollten, erst einmal ausgelagert werden in Gremien, welcher Art auch immer, wo man versucht, die entsprechende Verbände einzubinden. Das macht sicherlich Sinn, die Beteiligten an einen Tisch zu bringen, aber man muss sich immer vor Augen halten, dass Verbände Interesse haben. Teilweise sehr schwergewichtige Interesse, und andere Interessen fallen aus. Also wenn ich daran denke, wir haben im Moment 4,7 Millionen Arbeitslose, wo ist der Verband, der diese vertritt ? Der wird allenfalls mitgedacht, aber in den Verbänden, seien es jetzt die Arbeitgeber, der BDI, oder die Gewerkschaften, letztere vertreten die Arbeitsplatzbesitzer, aber nicht die Arbeitslosen.

    So geht das schon seit elf Jahren. Den Politikern ist das auch bewusst. So meint auch Bundesfinanzminister Hans Eichel:

    Wir wissen doch, welche Probleme wir haben, welche Probleme wir lösen müssen. Es ist das Thema - ganz allgemein gesagt - der Strukturreformen, die wir lösen müssen, um unsere Wachstumshemmnisse zu beseitigen.

    Seit drei Jahren kennt auch der Aktienmarkt nur eine Richtung: nach unten. Die Krise ist also überall offenbar. So hat in der vergangenen Woche die Deutsche Bundesbank eine Denkschrift verfasst unter dem Titel "Wege aus der Krise”, in dem sie versucht, eben diese aufzuzeigen. Sie empfiehlt, das Modell der sozialen Marktwirtschaft zu reaktivieren, um "dem Wettbewerb im Sinn eines generellen Suchverfahrens für wirtschaftliche und gesellschaftliche Problemlösungen breiten Raum zu lassen.”

    Zu viel Markt aber, das zeigen die letzten Jahre an der Börse, richtet auch Schaden an. In der Boomphase wurde zu viel Geld in falsche, unsinnige, zu teure Investitionen gelenkt, die langfristig nicht überlebensfähig waren. In der Baisse fehlt dieses Kapital, das als Puffer hätte dienen können. Stattdessen geraten die Aktienmärkte in einen Teufelskreis, die Krise verstärkt sich selbst. Gewisse Regeln sind also in einem Markt wichtig, ja unabdingbar.

    Der deutsche Arbeitsmarkt aber leidet unter Überregulierung und starken Verkrustungen. Das erfahren Unternehmen in ihrer täglichen Arbeit. Die Enviro-Chemie, ein Unternehmen, das Anlagen zur Abwasseraufbereitung entwickelt, hat vor einigen Jahren seinen Hauptsitz aus der Schweiz in das südhessische Roßdorf verlegt, der größere Markt, auch in der EU, lockte, meint Gottlieb Hupfer, Geschäftsführer der Firma.

    Welche Erfahrungen haben sie hier in dem Standort mit der Bürokratie gemacht ? "Die Bürokratie in Deutschland ist gut. Sie ist perfekt und pünktlich. Und deshalb leidet man ein bisschen darunter. Es gibt eine Gemeindebürokratie. Es gibt eine Kreisbürokratie, eine Länderbürokratie, eine Bürokratie des Bundes. Und dann gibt es noch eine Verbändebürokratie. Und alles zusammengenommen ist schon ein bisschen lästig" "Das heißt, Sie fühlen sich zu stark kontrolliert ?" "Wir verlieren dabei sehr viel Zeit, das kostet Geld. Wir müssen alle möglichen Verantwortlichen bereitstellen. Überall braucht man einen Betreuer, einen Berichterstatter. In der Summe ist es zu viel und es kostet uns zu viel Kraft.” "Es kostet die Bürokratie Sie Kraft, aber in Deutschland sind die Kosten insgesamt zu hoch. Wie wirkt sich das bei Ihnen aus ? Auch auf die Einstellung neuer Arbeitskräfte ?” "Unser Geschäft beruht auf der Arbeit von Ingenieuren und Technikern, Naturwissenschaftlern. Diese Mitarbeitern brauchen ein vernünftiges, international wettbewerbsfähiges Einkommen. Wenn wir ihnen dieses bezahlen und darauf die gesamten Sozialabgaben drauf packen, dann wird unsere Ingenieurstunde sehr teuer und sie ist im internationalen Markt nicht überall zu verkaufen. Jetzt gerade zum Januar habe ich ausgerechnet, dass wir noch mal pro Ingenieur 500 Euro mehr Kosten haben pro Monat. Das ist verrückt. Das muss weg. Das muss radikal weg.” "Nun wird ja im Moment sehr stark diskutiert der Kündigungsschutz. Er wirkt sich auch offenbar auf die flexible Handhabung der Belegschaft aus ?” "Der Kündigungsschutz lässt eine flexible Handlung gar nicht zu. Das wäre viel besser so wie es in der Schweiz ist. Mit geringeren Kündigungszeiten zu arbeiten und damit den Arbeitsmarkt sehr viel flexibler zu halten. Bei uns gibt es im Grunde keinen Markt für Ingenieure ab 50. In der Schweiz gibt es einen Arbeitsmarkt für Ingenieure noch mit 60.

    Zu viel Bürokratie, zu hohe Lohnnebenkosten – sie sind auch das Ergebnis der beiden Blöcke, die sich fast unversöhnlich gegenüberstehen. Was Hupfer vom Kündigungsschutz berichtet, ist ein Beispiel dafür, dass der Arbeitsmarkt nicht mehr als Markt funktioniert, weil der Staat zu stark eingreift, meint etwa Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit:

    Ein ideal funktionierender Arbeitsmarkt ist ein Markt, an dem der Preis für das gehandelte Gut (Arbeit) seine Funktion als Regulativ wahrnehmen kann. Wenn es Engpässe am Arbeitsmark gibt, muss es möglich sein, durch Zugeständnisse beim Lohn diese Engpässe zu beseitigen, in guten Zeiten können aber auch die Löhne steigen. So wäre eine Marktfunktion hergestellt. In der gegenwärtigen Situation ist es so, dass der Staat durch eine Vielzahl von institutionellen Regelungen diese Marktfunktion behindert. Der wichtigste Punkt ist das System der sozialen Sicherung im weitesten Sinne. Hier muss der Staat sich ein Stück weit zurückziehen.

    Als Folge dieser Strukturverhärtungen ist das Bruttosozialprodukt durchschnittlich nur noch um 1,5 Prozent gewachsen, vor einigen Jahren waren es noch vier Prozent. Weil die Unternehmen aber immer produktiver werden, brauchen sie Wachstum, damit sie die Belegschaft überhaupt halten können. Beispiel Maschinenbau: Weil die Branche im laufenden Jahr im besten Fall mit einer Stagnation rechnet, wird sie wohl bis Ende Dezember 25.000 Arbeitsplätze abbauen. Damit aber sinkt die Zahl derjenigen weiter, die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung entrichten können, und das für eine immer schneller steigende Zahl von Rentnern. Schuld waren aber bisher immer die anderen. Dass sich etwas tun muss, wird aber mittlerweile auch den Verbänden klar, Der Verband des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus fordert seit Jahren Reformen, dessen Präsident Dieter Klingelnberg appelliert deshalb an die Gewerkschaften:

    Wir können nicht mit der Denke des 19. Jahrhunderts, mit Klassenkampf, die Probleme des 21. Jahrhunderts bewältigen.

    Dieses Denken zeigt sich am gesamten System des Arbeitsmarktes, glaubt Heinz Fischer, ehemaliger Bereichsvorstand Personal der Deutschen Bank und Mitglied des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit:

    Alles ist nicht flexibel. Es ist nicht überlebensfähig. Wir müssen im Endeffekt in das "System Arbeit" Flexibilität hineinbringen. Jeder denkt, dass Arbeit nur dann richtig ist, wenn sie das Tarifgehalt bekommen und 35 Stunden arbeiten. Wer sagt denn, dass "Arbeit" nicht auch 20 Stunden sein kann, für eine Mutter mit zwei Kindern etwa, und dass das eigentlich auch eine Vollbeschäftigung ist. Denn die andere Beschäftigung, die Kinder groß zu ziehen, ist ja auch eine Beschäftigung. Das ist doch ganz klar ein starres System.

    Die Folge dieser starren Systeme sind bizarr: So nehmen Arbeitslose Jobs nicht an, weil die Arbeitslosenbezüge über dem Nettolohn liegen, den ihnen eine reguläre Arbeit einbringen würde. Das gilt vor allem in den unteren Lohngruppen. Manche bessern ihre Transferbezüge dann auch noch über Schwarzarbeit auf.

    Dort, in der Schattenwirtschaft, scheint der Arbeitsmarkt zu funktionieren. Die Bundesanstalt für Arbeit meldete vorige Woche, sie habe 2002 in 315.000 Fällen Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eingeleitet, 4.000 mehr als im Vorjahr. Die Schäden seien um 8,3 Prozent gestiegen.

    Arbeitswille scheint also vorhanden zu sein, Arbeitsmöglichkeiten auch. Nur der Anreiz, eine Stelle anzunehmen, sei zu gering, meint Hilmar Schneider vom Institut für die Zukunft der Arbeit, und schlägt radikale Mittel dagegen vor:

    Die Alternative sollte lauten: 40 Stunden gemeinnützige Tätigkeit für den Transferbezug oder 40 Stunden in einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit für ein Einkommen, was dann mehr oder weniger über dem Transferbezug liegt. Wenn es nur noch diese beiden Alternativen gibt, dann werden sehr viele Jobs attraktiv, die jetzt nicht attraktiv sind. Wir wissen aus sehr vielen Untersuchungen, dass das jetzige Transfersystem dafür sorgt, dass erst dann ein Job attraktiv ist, wenn das Nettoeinkommen etwa zweimal so hoch ist wie das, was dem Transferanspruch entspricht. Dann kann man sich also leicht vorstellen, dass das Spektrum von Jobs, die im Augenblick als unakzeptabel angesehen werden, relativ groß ist. Und alle diese Jobs werden systematisch von der Wirtschaft auch abgebaut, weil sich niemand findet, der bereit ist, diese Tätigkeiten zu übernehmen. Die Nachfrage nach diesen Jobs schlägt sich dann in Produktionsverlagerungen ins Ausland nieder oder in Automatisierungsprozessen. Man wird damit auch einen nennenswerten Beitrag zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit leisten können. Wir haben eben jetzt das Problem, dass ein großer Teil der Arbeitslosen sich durch Geringqualifizierung auszeichnet oder aber auch dadurch, dass es altersbedingte Probleme gibt. Das sind alles Menschen, die durch das Transfersystem mehr oder weniger daran gehindert werden, Jobs, die es für sie gäbe, anzunehmen, und man kann also, auch wenn das jetzt nur eine reine Daumenschätzung ist, davon ausgehen, dass es mindestens eine Million von Arbeitslosen sein würde, die man so wieder in Beschäftigung bringen würde.

    Vom bestehenden System profitieren vor allem die Verbände, also Arbeitgeber und Gewerkschaften. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist die Bundesanstalt für Arbeit, meint Arbeitsmarktforscher Hilmar Schneider:

    Die Arbeitslosenversicherung geht weit über das hinaus, was als Versicherungsziel anzusehen ist. Es hat sich so ergeben, dass die Tarifpartner zunehmend die Bundesanstalt für ihre jeweils eigenen Interessen einsetzen und das dann gegen die Interessen der Versicherten tun.

    Augenfällig ist das etwa am Bereich der Weiterbildung: Sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften betreiben Weiterbildungsorganisationen, die sich aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit unterhalten, die aber häufig am Markt vorbei weiterbilden. Die Altersteilzeit ist ein weiterer Bereich, der eigentlich Partikularinteressen dient, glaubt Hilmar Schneider:

    Die Altersteilzeit ist etwas, was von insbesondere großen Unternehmen gerne im Anspruch genommen wird als Instrument der betrieblichen Personalpolitik. Aber es ist überhaupt nicht einzusehen, warum das die Gemeinschaft der Versicherten zu finanzieren hat. Ähnliche Beispiele sind Auffanglösungen: Wenn Betriebe in Konkurs gehen, ist es sehr häufig die Bundesanstalt für Arbeit, die hier mit Ersatzlösungen einspringt. Beispielsweise durch Auffanggesellschaften.

    Sinnvoller wäre es seiner Meinung nach, wenn die Tarifpartner eine richtige Tarifpolitik betrieben und nicht die Bundesanstalt benutzten, um ihre Fehler auszubügeln. Das würde auch erhebliche finanzielle Entlastungen bringen, meint er:

    Sie soll sich auf die Arbeitslosenversicherung konzentrieren, das würde im übrigen auch den Effekt haben, das die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf das Maß zurückgeführt werden können, was für die Absicherung des Risikos unbedingt notwendig ist, aber nicht darüber hinaus.

    Seit einem Jahr aber wird versucht, die Bundesanstalt zu reformieren. Heinz Fischer ist seit dieser Zeit im Verwaltungsrat, er weiß, wie schwerfällig diese Institution reagiert:

    Es ist natürlich in dem Fall bei der Bundesanstalt für Arbeit eine Organisation, die gewachsen ist, die Beamtenstrukturen hat. Die Führung, mit der wir zusammenarbeiten, hat das schon begriffen. Aber es ist eine alte Dame, die jetzt versucht, wieder beweglich zu werden. Und bis es soweit wird, wird’s wohl noch ein bisschen dauern.

    Wie zäh das Aufbrechen bestehender Strukturen ist, hat Fischer auch in der Hartz-Kommission erfahren. Die Ideen der Kommission, wie etwa die Einführung der Ich-AG, hält er immer noch für richtig. Deren Verwässerung in der Praxis schmerzt ihn zwar, aber dass es so weit gekommen ist, sei zum Teil auch eigene Schuld, merkt er selbstkritisch an:

    Ich muss aber dazu sagen, dass wir vielleicht nicht detailgetreu genug waren. Was ich damit sagen will, dass wir doch einige weiße Flecken in unserem Bericht offen gelassen haben. Und da sind natürlich Interessenverbände, seien es die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber, hineingestoßen und haben versucht, ihre Meinung dabei kundzutun. Ich hoffe, dass wir noch die Notbremse ziehen können und - wie ich denke - die sehr guten Ideen, die diese Kommission erarbeitet hat, dass die umgesetzt werden.

    Verwässert wurde auch die Idee der Personalserviceagenturen, meint Hilmar Schneider:

    Wenn ich nur mal herausgreife die Idee der Personalserviceagenturen, also die Idee, dass man Zeitarbeit als Instrument der Arbeitsmarktpolitik einsetzt, das war ursprünglich mit hohen Ansprüchen verbunden. Hartz hat sich vorgestellt, dass man damit 500.000 Arbeitslose wieder integrieren kann. Faktisch muss man davon ausgehen, so wie das jetzt alles umgesetzt wird, ist der Effekt weit, weit geringer. Die Bundesanstalt selbst rechnet mit nicht einmal 50.000 pro Jahr, die wieder integriert werden können, und das hängt unter anderem damit zusammen, dass man diese Personalserviceagenturen letztlich auch auf Druck der Gewerkschaften in einen Modus hineingezwungen hat, der dafür sorgt, dass diese Personalserviceagenturen für Unternehmen keine lukrative Alternative mehr darstellen. Dadurch, dass man die Zeitarbeitnehmer genauso bezahlen muss wie die Arbeitnehmer in dem entleihenden Betrieb. Und damit wird Zeitarbeit als Instrument des unverbindlichen Kennenlernens und der Rekrutierung uninteressant." Die Zeit der Kompromisse ist nun aber vorbei, wirkliche Reformen kann in unserem korporatistischen Verbändestaat deshalb nur die Politik durchsetzen, glaubt Arbeitsmarktforscher Schneider:

    Die Politik ist die Instanz, die die Initiative in die Hand nehmen muss. Wenn die Politik bestimmte Besitzstände in Frage stellt, bin ich ganz sicher, werden wir erleben, dass sich die Interessengruppen wieder an den Verhandlungstisch setzen, denn das ist für sie die einzige Möglichkeit, aus ihrer Sicht den Schaden zu begrenzen. Wenn aber die Politik nicht bereit ist, in den Konflikt einzusteigen, dann wird sich wie bisher nicht viel bewegen. Denn die Interessensgruppen werden alles unterlassen, was gegen ihre eigenen Interessen verstößt, wenn sie nicht durch äußeren Druck dazu gezwungen werden.

    Die Politiker sollten jetzt ihre persönliche Karriere dem Gemeinwohl unterordnen, meint auch Fischer:

    Ich denke es gibt genügend Politiker in jeder Partei, die das Wissen und die Kraft haben. Was mir fehlt, ist, dass diese Politiker gemeinsam aufstehen und einfach einmal vergessen, dass sie rot- grün oder gelb oder schwarz sind, sondern dass sie Vertreter dieses Volkes sind und dass sie für die gewählt sind, und nicht für die Parteistatuten. Und dass sie gemeinsam versuchen, dieses Problem zu lösen. Das ist nicht ein Problem einer Partei, das ist ein Problem der deutschen Gesellschaft.

    Diese deutsche Gesellschaft muss sich über ihren Strukturwandel klar werden. So wie im 19. Jahrhundert die Agrar- zur Industriegesellschaft wurde – mit den entsprechenden Verwerfungen – so vollzieht sich derzeit der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Dieser Wandel muss bewältigt werden, und das um so dringender, als wir große demografische Veränderungen bewältigen müssen. Denn vom Jahr 2008 an wird es mehr Rentner als Arbeitnehmer geben. Es muss also dringend gehandelt werden. Die Bevölkerung in diesem Lande wartet darauf, meint der Sozialwissenschaftler Professor Michael Erler:

    Ich denke, sie ist mental weiter als diese Regierung. Ich denke, wenn der Schröder wirklich mit einer Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede anträte, das würde in der Bevölkerung eher akzeptiert, das behaupte ich schlicht, als im Parlament.