Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Reise in das Land der Geister

Die Dogon leben in Westafrika im Osten von Mali. Sie sind Animisten und islamisiert. Der Ahnenkult und die Geisterwelt der Dogon sind geheimnisvoll und faszinierend. Auch Ethnologen interessieren sich für ihre Kultur.

Von Karin Fischer | 30.10.2011
    Eine Gruppe von Kindern begrüßt uns in Songho, in der Hoffnung, ein paar Bonbons zu ergattern. Den Beschneidungsplatz, den wir gerade besichtigt haben, durften sie nicht betreten. Es ist ein zentraler Platz der Dogon-Kultur etwas erhöht und direkt an der Felswand. Fantastische Zeichnungen von Tieren wie Krokodile, Masken mit menschlichem Antlitz oder abstrakte Figuren in rot, weiß und schwarz sind auf den Fels gemalt. Ein Geisterort. Was die Symbole bedeuten, darf man nicht sagen. Alle drei Jahre findet die schmerzhafte Beschneidung für die Zwölf- bis Vierzehnjährigen hier statt. Sie ist der Initiationsritus, erst danach dürfen die Jungen ihre eigenen Masken schnitzen, werden in die Geheimnisse der Dorfälteren eingeweiht, lernen, mit den Ahnen zu kommunizieren. Die Brutalität des Vorgangs ist hier kein Thema, die Jungen sollen Männer werden. Ali Karambé, der örtliche Führer, erklärt:

    "Es gibt weder eine Spritze noch Schmerztabletten. Nach zwei Wochen ist die Wunde verheilt, dann gibt es einen Wettbewerb, die Jungs müssen um die Wette laufen. Der Erste bekommt einen vollen Getreidespeicher. Der Zweite erhält drei Kühe. Und der Dritte eine schöne Frau aus dem Dorf."

    Getreidespeicher sind wertvoll, Hirse das wichtigste Nahrungsmittel im Dogon-Land. In den Lehmdörfern erkennt man sie oft an den Spitzhüten aus Hirsestroh. Außen an den Speichern hängen Fetische aus ausgestopften Tieren, die Wände sind mit Symbolen aus Lehm beschmückt, und die darf Dramane Traore, unser Führer auch erklären:

    "Die Dogon haben keine geschriebene Geschichte, aber malen, um die Geschichte weiter zu geben. Das ist das Krokodil, das den Ort gefunden hat; das hier der erste Dogon, der nicht gestorben ist, sondern sich in eine Schlange verwandelt hat. Und hier ist ein Kalebassen-Löffel. Wegen der Trockenzeit waren die Leute rationiert, jeder kriegt einen Löffel pro Tag, und wenn ein Fremder kommt, kriegt der doppelt so viel. Und hier ist Sonne, Mond und Sterne, die dienen der Zeitrechnung und lesen auch, wann man Sigi-Tanz oder Dama-Tanz macht."

    Es ist Tag der Unabhängigkeit in Mali, also Feiertag, in jedem Dorf wird getanz, so auch für uns auf dem Plateau oberhalb des Felsabsturzes. Eine Kurzversion des Dama-Tanzes steht auf dem Programm, den die Dogon 30 Monate nach dem Tod eines Angehörigen tanzen, damit seine Seele Frieden finden kann. Nur Männer tanzen, die Frauen müssen sich auch heute noch abseits halten. Furchterregende Masken sind zu sehen, einige auf Stelzen. Erkennbar sind Kuh und Antilope, die Männer in der ausladenden Kanaga-Maske machen damit kreisförmige Bewegungen, sodass sie fast den Boden berührt.

    "Das ist die Maske Kanaga, das ist Hauptphilosophie der Dogon. Weltdarstellung. Himmel ist oben, Erde unten, Menschen und Menschengeist in der Mitte. Die Antilope sagt, es war damals wildnisreich, heute gibt es keine Antilopen mehr. Für die Dogon ist die Antilope ein sehr schönes Tier, sie steht für Schönheit und Fitness. Die jungen Männer tragen sie beim Tanz, und versuchen immer, Himmel und Erde zusammen zu bringen mit ihrer Bewegung und zu zeigen ihre Fitness."

    Der Ahnenkult und die Geisterwelt der Dogon sind geheimnisvoll und faszinierend, aber als die Journalistengruppe, die auf Einladung der Bundeskunsthalle zu den Dogon gereist ist, einen Tag später auch noch bei einem Wahrsagerfeld haltmachen, überwiegt die Skepsis. Ist das echt oder Show? Ein uralter Mann "liest" sehr ernsthaft die Problematik, nach der er gefragt wurde, aus dem kleinen Karree. Stöckchen symbolisieren die Person, um die es geht. Wenn nachts ein Fuchs Spuren auf dem Feld hinterlassen hat, kann der Wahrsager daraus die Lösung erkennen. Gausso Dolo übersetzt das Gemurmel in Dogon-Sprache:

    "Hier geht es um einen Kranken, der um Rat fragte: Ist das eine Krankheit? Werde ich von einem Naturgeist geplagt, oder von den Ahnen? Dies hier stellt die Ahnen mütterlicherseits dar, das hier die auf der Vater-Seite. Der Wahrsager kam zum Schluss, es sei keine Krankheit, sondern die Ahnen väterlicherseits meldeten sich – er müsse ihnen etwas opfern."

    Auch unser Führer Dra geht regelmäßig zum Wahrsager. Der Islam steht dazu nicht im Widerspruch. "Im Zweifel hilft der Fetisch schneller als Gott", sagen die Leute. Islam und Ahnenglauben gehen hier gut zusammen. Es gibt jedenfalls schwierigere Widersprüche. Der Tourismus in der Region soll gefördert werden, das Kunsthandwerk spielt dabei eine wichtige Rolle. Und das, nachdem westliche Ethnologen und Kunsthändler die Schätze der Dogon bereits in den 60er-Jahren fast vollständig geplündert haben. Dass die Dogon selbst zum frühen Ausverkauf ihrer Kultur beitrugen, hat Hélène Leloup, Kuratorin der Bonner Ausstellung, die vorher im Musée du Quai Branly in Paris zu sehen war, fast trotzig angemerkt:

    "Durch die Islamisierung haben sie sich nicht mehr für die Statuen interessiert, und auch nicht mehr für die Ahnen. Deshalb haben die Dogon die Objekte verkauft, für ein Fahrrad oder ein Radio, das Ganze moderne Zeug."

    Eine kulturelle Erklärung dafür hat Angelika Frey-Oldenburg von der "Mission Culturelle" in Bandiagara: Die Masken sind ohne ihren Träger für die Dogon nicht mehr von Bedeutung:

    "In dem Moment, wo sie von dem Träger getrennt ist, ist die Bedeutung für den Dogon weg. Da ist die Maske nicht die Maske, die lebt, denn die Maske ist ja eine Zwischenwelt zwischen den Lebenden und den Toten. Es sind Geister. Und in dem Moment, in dem getanzt wird, ist die Person unter der Maske auch nicht mehr die Person. Deswegen darf man auch nicht fragen, was tanz du denn für ne Maske. Weil er in dem Moment der Geist ist, das fragt man nicht. Beim klassischen Dogon-Tanz werden die Tänzer vom Maskenchef kurz vorher noch mal in der Sigi-Sprache, das ist eine Geheimsprache, initiiert. Dann fangen sie an, und dann sind sie die Maske. Aber sie werden nicht verraten, welche Maske sie tanzen."

    Unabhängig davon: Wie kann man, soll man diese uralte, vielfältig bedrohte Kultur heute bewahren? Schon die Islamisierung hat viele Dogon von ihrem ursprünglichen Glauben entfernt. Es gab und gibt Landflucht, aufgrund von Dürren oder der Modernisierung. Die negativen Seiten des Tourismus sind auch im Dogon-Land längst sichtbar, auch wenn ein "heiliger Ort" wie der Beschneidungsplatz nach der Saison durch Opfergaben rituell gereinigt werden kann. In Theateraufführungen, die in Westafrika häufig Bildungsarbeit sind, werden Missstände vorgeführt:

    "Die machen eine Ballade, die spielen der Bevölkerung zum Beispiel vor, wie ein Objekt gestohlen wird. Oder ich war jetzt dabei einmal, da gings um die Faulheit, darum, dass die Feldarbeit vernachlässigt wird, weil die Kinder den Touristen nach laufen. Da gings einfach darum, dass sie wieder mehr bei der Feldarbeit mithelfen."

    Die "Mission Culturelle" arbeitet überhaupt viel an der Aufklärung nach innen. Drei kleine Museen sind in den vergangenen Jahren entstanden, die alte Objekte zeigen, oder Kunsthandwerk wie die Entstehung der bedruckten Indigostoffe. Dabei geht es auch darum, die Bevölkerung für die eigene Kultur zu interessieren. Vor dem Museum von Soroly werden wir von jungen Tänzern in Turnschuhen und Fußballshirts begrüßt:

    Die Lanzen im Museum wirken nicht nur uralt, sondern stehen symbolisch auch für die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart. Der Leiter des Museums:

    "Manchmal hat ein Objekt unterschiedliche Funktionen. Diese Lanzen hier dienten zur Jagd, aber auch rituellen Zwecken, bei Festen oder den Begräbniszeremonien. Hier, die Lanze des Hogon, die wir in einem Dorf wiedergefunden haben, dient außerdem der Mediation zwischen zwei streitenden Familien oder Individuen. Wenn der Hogon mit der Lanze kommt, beruhigen sie sich sofort. Sie ist also auch ein Mittel der Mediation."

    Das Museum in Enndé funktioniert nebenher als Leihhaus: Jeder, der ein Objekt dort zur Aufbewahrung und Inventarisierung abgibt, erhält etwas Geld als Pfand dafür. Ein Kühlschrank im Museum ist für die Einheimischen aber die eigentliche Attraktion, dort bekommt man gekühlten Bissap-Saft.
    Was die Restaurierung und den Erhalt der alten, zum Teil verlassenen Dörfer angeht, ist man auf französische Lehmbauspezialisten angewiesen, die zusammen mit dem Dorfältesten das Aussehen der Wohnbauten rekonstruieren.

    "Bei uns arbeiten keine Architekten. Und die malinesischen Architekten interessieren sich nicht so sehr für Lehmbau und das kulturelle Erbe. Sie machen lieber die Großbaustellen in der Stadt. Nehmen Sie beispielsweise dieses Haus. Das Holz war morsch, es war nicht mehr zu restaurieren. Wie kann man es, ohne dass es einstürzt, konsolidieren? Das war die Frage."

    Banani ist eines der schönsten und meist besuchten Dörfer der Gegend. Im alten Banani wurde das Haus Binou, das Fetischhaus restauriert, und eine Familienginna. Dabei geht es um viel mehr als eine Restauration. Angelika Frey-Oldenburg:

    "Das Ziel hier ist, es nicht zu einem Freilichtmuseum werden zu lassen, sondern dass die Familien, die noch hier leben, wenigstens die Annehmlichkeiten haben, dass sie dort weiter leben können. Das ist keine Garantie, dass sie nicht doch irgendwann runter ziehen, aber man hat eben ihre Familienginna renoviert, was für sie sehr wertvoll ist, man hat einen Weg gebaut, den auch Eselskarren nutzen können, dass sie selber das Wasser nicht hoch tragen müssen, und man hat hier auch einen Teich restauriert, der zumindest einen Großteil des Jahres Wasser hat. Das ist jetzt noch ein Experiment, der wurde erst angelegt, ob der die kräftige Regenzeit ausgehalten hat und wie sich das entwickelt."

    Die Unterstützung durch die "Mission Culturelle" ist keine Einbahnstraße. Entwicklungszusammenarbeit setzt nach negativen Erfahrungen in der Entwicklungshilfe der 80er-Jahre, auf Partizipation. Auch das Projekt "IPRO", das Kleinststaudämme auf dem Plateau und in der Ebene baut. Elisabeth Forg erklärt:

    "Der partizipative Ansatz beginnt bei der Formulierung des Bedarfs durch die Bevölkerung, dass sie einen Staudamm brauchen würden, um ihre Anbauflächen zu bewässern, um dann einen höheren Ertrag zu erzielen; er setzt sich fort in der physischen und finanziellen Beteiligung an der Realisierung des Kleinstaudamms, und dann im Unterhalt: wenn der Staudamm fertig gebaut ist, wird er an die Dorfbevölkerung übergeben und die wird während und danach auch noch begleitet, damit die Leute auch technisch die Möglichkeit haben, kleine Reparaturen selbst auszuführen."

    Mit den Staudämmen ist Gemüseanbau in bis zu drei Zyklen pro Jahr möglich. Es geht um kleine Flächen, oft nicht mehr als zwei oder drei Hektar. Die aber lebenswichtig sind:

    "Als Abschlusssatz: Die Ernährungssicherung ist die Basis für die Kultur, und auch für den Tourismus. Ohne Ernährungssicherung müssen wir keine Kultur bewahren, wenn die Leute nicht davon leben können oder dort leben können, wo sie leben."

    Die Menschen sollen bleiben, die Touristen sollen kommen. Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle der Dogon. Deren Lebensweise uns so fremd vorkommt wie ihr Demokratieverständnis vorbildhaft. Die Toguna, das Palaverhaus, ist das Zentrum des Dorfes, ein Platz für die Ältesten und den Rat der Weisen. Hier wird um Rat gefragt, hier werden Konflikte besprochen. Die Toguna ist ein nach allen Seiten offener, sehr niedriger überdachter Platz auf Säulen, mit acht Schichten Hirse obendrauf, mit nachgerade pädagogischer Funktion. Gausso Dolo:

    "Im Fall eines Konflikts oder einer Auseinandersetzung bei einer Versammlung, wenn jemand sich aufregt und aufspringen will – dann haut er sich den Kopf an. Also: Man darf sich im Palaver-Haus nicht aufregen, deshalb ist die Toguna so niedrig."

    Konfliktbewältigung also ist es, was die Europäer von den Dogon lernen können. Die berühmteste alte Weisheit aber haben sie den Ethnologen Paul Parin und Fritz Morgenthaler in die Feder diktiert:

    "Die Weißen denken zuviel. Und dann machen sie viele Sachen. Und je mehr sie machen, umso mehr denken sie. Und dann verdienen sie viel Geld, und wenn sie viel Geld haben, machen sie sich Sorgen, dass das Geld verloren gehen könnte und sie kein Geld mehr haben. Dann denken sie noch mehr und machen noch mehr Geld und haben nie genug. Dann sind sie nicht mehr ruhig. So kommt es, dass sie nicht glücklich sind."