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Religionskritik
Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit

Warum kämpfen die Menschen im Westen nicht für ihre Freiheit? Warum entwickeln sie keine Leidenschaft für Werte der Aufklärung? Dies fragt Carlo Strenger in seinem Essay "Zivilisierte Verachtung". Der Psychologie-Professor aus Tel Aviv warnt: Wenn die Fähigkeit verloren geht, die eigene Lebensform zu verteidigen, ist der Weg frei für Rückwärtsgewandte.

Carlo Strenger im Gespräch mit Andreas Main | 31.07.2015
    Blick vom Hudson auf die Freiheitsstatue.
    "Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit." (picture alliance / dpa / Daniel Gammert)
    Andreas Main: Ein "schöner Essay", schreibt die Süddeutsche Zeitung, ein "leidenschaftlicher Essay". Geschrieben hat ihn Carlo Strenger, geboren 1958 in der Schweiz und auch dort aufgewachsen. Carlo Strenger ist Psychologie-Professor an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für den britischen Guardian und Israels führende linksliberale Zeitung Haaretz. Carlo Strenger ist einer der prononciertesten regierungskritischen Stimmen in Israel. Das muss man wissen, wenn man seinen Essay liest, der im Frühjahr bei Suhrkamp erschienen ist. Der Titel: "Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit." Mit Carlo Strenger habe ich vor dieser Sendung gesprochen. Wir sind via Skype verbunden. Hallo, Herr Strenger.
    Carlo Strenger: Hallo, Herr Main.
    Main: Lassen Sie uns den Untertitel Ihres Buches ernst nehmen: Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. Damit Sie uns wirklich anleiten können, muss erst einmal klar sein, worum es geht. Welche Freiheit wollen Sie verteidigt wissen?
    Strenger: Ich will die Freiheit verteidigt wissen, die die westliche Welt in den letzten 400 Jahren auf ziemlich schmerzhafte Weise errungen hat. Die Freiheit, zu denken. Nach bestem Wissen und Gewissen zu kritisieren, wo man Kritik üben will. Und die Meinung in Ruhe und ohne Gefahr öffentlich zu äußern. In vielen Teilen der Welt ist es überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Ich denke, dass es gute Gründe gibt anzunehmen, dass die westliche Welt - speziell Europa - schon heute, doch sicher noch mehr in der Zukunft, in der nahen Zukunft, immer wieder in der Situation sein wird, in der diese Freiheit verteidigt werden muss.
    Main: Gegen wen gilt es diese Freiheiten zu verteidigen?
    Strenger: Das ist insofern kompliziert, als die scheinbare Hauptgefahr die äußeren Feinde seien. Angefangen damit, dass Salman Rushdie, der Romanautor, der zum Tode verurteilt wurde von den Ajatollahs im Iran. Die Angriffe, die nach der Publizierung der dänischen Mohammed-Cartoons gekommen sind. Und natürlich die Charlie-Hebdo-Angriffe vor etwa einem halben Jahr. Das sind anscheinend oder scheinbar die größten Gefahren heute auf unsere Meinungsfreiheit und auf die Freiheit zu kritisieren, sozusagen - die kommen von außen. Das sind die Muslime. Aber die wirkliche Gefahr, die ich sehe, ist, dass die ganz reale Bedrohung durch den radikalistischen Islam - keinesfalls durch alle Muslime, sondern durch den radikalistischen Islam - von der extremen Rechten in Europa ausgenutzt wird, um sozusagen zu sagen, wir, die extreme Rechte, sind da die einzigen, die unsere Freiheit noch ernst nehmen und verteidigen und dann unter dem Motto der Selbstverteidigung der westlichen Kultur genau die Freiheiten, von denen wir sprechen, kaputt machen werden. Das wissen wir aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ja nur zu gut.
    Main: Dass die extreme Rechte sich zur Verteidigerin der Freiheit aufspielt, ist natürlich umgekehrt auch ein Vorwurf an linke Kreise, denen Sie sich zugehörig fühlen.
    Strenger: Genau. Ich fühle mich absolut zu der Linken zugehörig. Ich würde da die Linke und die gemäßigten Kräfte in dasselbe Lager setzen, weil - worum es mir da insbesondere geht - ist, dass ich denke, dass wir - die gemäßigten politischen Kräfte - in gewisser Hinsicht versagt haben und somit eine Mitschuld daran tragen, dass wir in ganz Europa jetzt einen Rutsch nach rechts sehen und vor allem eine Verstärkung der extremen Rechten. Ein Prozess, den ich aus Israel leider nur allzu gut kenne. Meine Grundidee ist furchtbar einfach. Ich glaube, dass die gemäßigten politischen Kräfte inklusive der Linke durch die Ideologie der politischen Korrektheit vollkommen gelähmt worden sind. Diese besagt... erstens, dass keinesfalls irgendwelche anderen Kulturen - vor allem, wenn sie nicht-westlich sind, kritisiert werden dürfen. Man muss ihnen gegenüber immer empathisch sein. Zweitens, dass letztlich die gar nie eine Verantwortung dafür haben, was bei ihnen sich abspielt. Die Frage ist dann immer: Was haben wir, was hat der Westen falsch gemacht, dass es denen so schlecht geht? Die Kombination dieser beiden Thesen führt dazu, dass die eigene Kultur immer als schuldig betrachtet wird und als Resultat die eigene Kultur nicht verteidigt werden kann.
    Kein Respekt für Unmoral und Irrationalität
    Main: Diese Position, die Sie da gerade vertreten, der wird dann aber auch gerne mal entgegen gehalten, man müsse anderen Religionen und Kulturen tolerant und respektvoll begegnen. Wie reagieren Sie auf den Vorwurf, Sie seien intolerant?
    Strenger: Da möchte ich auf die Idee zurückkommen, was das Toleranzprinzip der Aufklärung überhaupt mal gewesen ist. Es war, dass jeder Mensch, das Recht hat zu glauben, was er oder sie will. Es heißt auch, dass wir alle frei sind, wenn wir dieses Recht respektieren, andere Menschen und ihre Glaubensformen aber auch kritisieren zu können. Toleranz heißt für mich nicht, dass ich Respekt habe, für das, was ich für unmoralisch oder irrational oder speziell unmoralisch und irrational halte. Da hat keine Religion und keine Kultur das Monopol auf Unmoral und Irrationalität. Ich sehe nicht den geringsten, nicht den aller geringsten Grund, solchen Positionen irgendwelchen Respekt entgegen zu bringen. Es geht ja nicht um eine spezifische Religion oder ein spezifische Rasse. Ich habe ganz ähnliche Kritik zu üben, an gewissen Glaubensformen und gewissen Praktiken im ultraorthodoxen Judentum. Was ganz wichtig ist, es geht darum, dann zu verurteilen - oder, wie ich es nenne, zivilisiert zu verachten, wenn man wirklich zuerst einmal nachgeforscht hat, was wissen wir über die Tatsachen und hätten diese Menschen, die diese irrationale und unmoralische Haltung haben, hätten sie die Möglichkeit gehabt, auch diese Tatsachen genauso gut zu klären wie wir. Wenn das der Fall ist und es nicht getan ist, dann sehe ich nicht den geringsten Grund zum Respekt.
    Main: Sie schreiben in Ihrem Essay „Zivilisierte Verachtung" - auf die haben Sie jetzt auch eben gerade angespielt: "Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit zur Verachtung, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Dies ist das Prinzip der Menschlichkeit." Wo ist die Grenze zur Menschenverachtung?
    Kränkungen ertragen - eine Kulturtechnik
    Strenger: Die zivilisierte Verachtung richtet sich auf Glaubensformen oder Glaubensinhalte oder kulturelle Praktiken. Sie richtet sich nicht auf die Menschen oder auf ihre Grundrechte. Die Grenze ist insofern vollkommen klar. Im Moment, wo zur Gewalt aufgerufen wird oder die Menschenrechte anderer Gruppen verletzt werden, dann handelt es sich nicht mehr um zivilisierte Verachtung. Ich denke, dass wirklich die Fähigkeit, zivilisiert zu verachten, eine sehr komplexe Fähigkeit ist, die trainiert werden muss. Das ist nicht etwas, womit wir geboren sind. Es ist etwas, was wir durch unser Erziehungssystem und in unserer eigenen Lebenspraxis ständig trainieren müssen, wenn wir dazu fähig sein wollen.
    Main: "Kränkungen ertragen", das sei eine "Kulturtechnik", schreiben Sie ebenfalls in Ihrer Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. In Gebrauchsanleitungen gibt es am Ende immer eine Fehleranalyse - "Tipps zur Fehlerbeseitigung", heißt das dann oft. Abschließend also: Welche zentralen Fehler, sollten wir beseitigen mit Blick auf das Funktionieren der Freiheit?
    Strenger: Ich glaube, wir müssen vor allem, uns darüber im Klaren sein, dass Freiheit nicht eine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass in einer freiheitlichen Kultur zu leben kein Kinderspiel ist, sondern eine sehr, sehr komplexe Angelegenheit. Sie haben das Thema der Kränkung und die Fähigkeit, Kränkung zu ertragen angesprochen. Es macht ja keinem von uns Spaß, wenn die eigene Kultur, die eigene Ethnie, das eigene Aussehen - wenn sich andere darüber lustig machen oder es kritisieren und so weiter. Kränkungen ertragen zu können, ohne zur Gewalt zu greifen, ist eine dieser grundlegenden Zivilisationserrungenschaften, die wir eigentlich täglich trainieren müssen. Das müssen wir übrigens von anderen Kulturen halt eben auch fordern. Es hat keinen Wert - und ich glaube, es ist falsch, politisch, moralisch und pragmatisch, andere Kulturen sozusagen zu infantilisieren und ihnen zu sagen: Ach Gott, die sind ja wie kleine Kinder, die können ja keine Kränkungen ertragen; da müssen wir ihnen helfen, aber wir dürfen keine Forderungen an sie stellen. Wir müssen andere Kulturen und Menschen, die anderen Kulturen angehören, genauso sehr Verantwortung für ihre Denkweise, Handlungsweise und ihre spezifischen Handlungen geben, wie wir das für uns selber tun.
    Main: "Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit." So heißt der Essay von Carlo Strenger. 104 Seiten kosten 10 Euro. Carlo Strenger, mit dem wir in Tel Aviv per Skype verbunden waren. Danke Ihnen ganz herzlich für diese Einschätzung.
    Strenger: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.