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Carlo Strenger
Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung

"Zivilisierte Verachtung" von Carlo Strenger ist eine kleine Kampfschrift. In dem Essay des Psychologen und Philosophen geht es um die Verteidigung des Westens und seiner freiheitlichen Werte - mit einer Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung.

Von Tamara Tischendorf | 27.04.2015
    "Zivilisierte Verachtung" - das klingt erst einmal interessant. Denn der Titel zwingt Widersprüchliches zusammen. Wer jemanden oder etwas verachtet, der lehnt ab, setzt herab, ignoriert und grenzt aus. Das widerspricht zunächst einmal dem Ideal eines wertschätzenden Umgangs, das Vielen als Grundlage für eine friedvolle und eben zivilisierte Gesellschaft gilt. Der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger sieht sein Konzept der "zivilisierten Verachtung" denn auch als eine Waffe - aber eine, die er für einen guten Zweck nutzen will. In seinem Essay geht es ihm um nichts weniger, als den Westen und seine freiheitlichen Werte zu verteidigen:
    "Die meisten Europäer, so meine These, sind nicht mehr in der Lage, für ihre Kultur substanziellere Argumente vorzubringen als die Effizienz ihrer Volkswirtschaften und den politischen und sozialen Frieden, der im Westen und in der Mitte des Kontinents praktisch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufrechterhalten werden konnte. (...) Will der Westen seine Werte und seine Lebensweise nicht nur militärisch, sondern auch argumentativ verteidigen, besteht die einzige Möglichkeit in der Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung."
    Den Kräften der politischen Linken und der Mitte bescheinigt Carlo Strenger, bei der Verteidigung der westlichen Grundwerte in den vergangenen Jahrzehnten einen denkbar schlechten Job gemacht zu haben. Wo blieben der "aufrechte Gang", das "Beharren auf individueller Autonomie", der "Geist der Kritik" als es zum Beispiel darum ging, sich für die Position des mit dem Tod bedrohten Schriftstellers Salman Rushdie stark zu machen?
    Einen Gutteil der zehn kurzen Kapitel seines Essays verwendet Carlos Strenger darauf, ideengeschichtlich herzuleiten, warum die offene Gesellschaft so kraftlos wirkt. Als Hauptproblem macht er dabei die "political correctness" aus. Er sieht sie nicht als emanzipatorische Bewegung ganz im Sinne der Aufklärung - also als Versuch, die lange Zeit ungehörten Stimmen von Frauen, Schwarzen oder Homosexuellen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Mode der politischen Korrektheit habe - in ihrer vermeintlich grenzenlosen Toleranz - vielmehr ein fundamentales Prinzip der Aufklärung über Bord geworfen:
    "Nämlich, dass nichts und niemand über Kritik erhaben sein darf. Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen."
    Als wäre das nicht genug, drohten der schwachbrüstigen offenen Gesellschaft noch von anderer Seite Gefahren: durch autoritäre Regime, islamistische oder rechtsextreme Gruppierungen. Dagegen müsse man sich wappnen, meint Strenger, und empfiehlt, Widersachern mit "zivilisierter Verachtung" zu begegnen:
    "Ich definiere zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten."
    "Zivilisiert ist diese Verachtung unter zwei Bedingungen"
    Bloße Verachtung kann allerdings leicht in Hass und Gewalt umschlagen - dessen ist sich Carlo Strenger bewusst. Der gebürtige Schweizer lebt im tief gespaltenen Israel. Deshalb hegt er dieses seltsame Gefühl noch ein Stück weiter ein:
    "Zivilisiert ist diese Verachtung unter zwei Bedingungen: Sie muss erstens auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissensstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren; dies ist das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung. Zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen die Menschen, die sie vertreten."
    Leichter gesagt als getan - das gesteht auch Carlos Strenger zu. Politische oder religiöse Eiferer gehen sich gerne an die Gurgel. Und religiöse Maximen geraten oft in Konflikt mit den Grundwerten der Aufklärung. Gerade hier will der Autor eine praxistaugliche Anleitung bieten. Um festzumachen, wann im Konfliktfall welche Argumente Gültigkeit beanspruchen dürfen, schlägt er ein Gedankenexperiment vor - den "Ärztetest":
    "Stellen Sie sich vor, ein geliebtes Familienmitglied ist schwer krank - was erwarten Sie von dem behandelnden Arzt? Was würden Sie sagen, wenn sie oder er die Entscheidung für eine bestimmte Darmkrebstherapie mit seinem Glauben begründet und einschlägige klinische Studien ignoriert? Würden Sie das akzeptieren?"
    Zusammenleben der Kulturen
    Eine rhetorische Frage, die Strenger zufolge selbst religiöse Fundamentalisten mit Nein beantworten würden. Und nun will Strenger die Traditionalisten bei den Grundsätzen packen, die sie auch sonst in ihrem Alltag anwenden: Schwierige politische, rechtliche oder das Zusammenleben der Kulturen betreffende Fragen sollten entschieden werden wie am OP-Tisch.
    Nämlich: Nach bestem verfügbaren Wissen. Wie in der Medizin, so in der Moral. Ein Beispiel: Die Grundsätze des orthodoxen Judentums verbieten, dass Frauen vor Gericht aussagen. Der Grund: Der Talmud bescheinigt ihnen Leichtgläubigkeit. Weil sich in Wahrheit aber empirisch nicht belegen lässt, dass Frauen leichtgläubiger sind als Männer, wäre dieses Verbot - nach Strenger - hinfällig. So simpel der "Ärztetest" klingt - in der Praxis dürfte er Probleme aufwerfen. Denn: Wer entscheidet, was jeweils als aktueller Stand der Wissenschaft zu gelten hat? Auch die Wissenschaft ist schließlich oft uneins. Viel hängt davon ab, dass diejenigen, die mit "zivilisierter Verachtung" gestraft werden, solche Kränkungen auch ertragen:
    "Wir alle müssen lernen, mit Zorn, Neid und Ressentiment zu leben, ohne unsere Urteilskraft auszuschalten. Das erfordert die Selbstdisziplin, vor dem seelischen Schmerz angesichts der Überlegenheit des anderen nicht zurückzuschrecken, sondern uns darin zu üben, diesen Schmerz auszuhalten."
    Carlo Strengers leicht zugängliche Kampfschrift für die liberalen Werte des Westens ist eine schöne Anregung zur rechten Zeit für ein breites Publikum. Sie bleibt aber unvollendet. Es genügt nicht, eine Karikatur der politischen Korrektheit wenig zivilisiert zu verachten. Zudem erscheint die Hoffnung, ein Gefühl könnte immer zielgenau Positionen - nicht ganze Personen - treffen, gewagt. Leider lässt der Autor weitgehend im Dunkeln, welche Werte der Aufklärung sich der Westen im Einzelnen bewusst machen sollte. Ein qualifiziertes Lob der Freiheit könnte mehr Strahlkraft entwickeln.