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Riskantes Säbelrasseln

100.000 Soldaten hat die türkische Armee an der Grenze zum Irak zusammengezogen. Jenseits der Grenze operieren die Rebellen der Arbeiterpartei Kurdistans. Von ihren Stellungen aus verübt die PKK blutige Anschläge, die die Türkei empfindlich treffen. Die internationale Staatengemeinschaft ist alarmiert.

Von Alois Berger, Jürgen Gottschlich, Gunnar Köhne, Klaus Remme. Redakteurin am Mikrofon: Ursula Welter |
    Wenn in Istanbul die Irak-Konferenz mit UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und US-Außenministerin Condoleezza Rice beginnt, wird der Kurden-Konflikt im türkisch-irakischen Grenzgebiet ein zentrales Thema sein. Allen Seiten ist bewusst, dass die Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und den PKK-Rebellen mehr ist, als ein Grenzkonflikt, der sich zuspitzt - wie zuletzt in den 90er Jahren : Für die Türkei steht der Einfluss in der Region auf dem Spiel. Ankara fürchtet die Teilung des Irak, die Autonomie des kurdischen Nordirak wir schon jetzt als Provokation empfunden. Nicht zuletzt deshalb ist das Verhältnis zu Washington gespannt.

    Aber auch innenpolitisch birgt der Kurdenkonflikt für die Türkei Sprengstoff: Die ethnischen Spannungen haben zugenommen, die Gewalt zwischen Kurden und Nicht-Kurden droht zu eskalieren.

    Gunnar Köhne und Jürgen Gottschlich über Motive der türkischen Politik:



    Tayyip Erdogan: " Der PKK Terror ist für alle Beteiligten in der Region ein Glaubwürdigkeitstest. Anhand der Testergebnisse werden wir später entscheiden, wie wir unsere Beziehungen zu einzelnen Ländern in Zukunft gestalten werden. "

    Freund oder Feind, für uns oder gegen uns. Hört man den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan derzeit reden, könnte man meinen, die gesamte Außenpolitik der türkischen Republik stünde auf dem Prüfstand. Ganz so dramatisch ist es nicht, aber tatsächlich versucht Ankara derzeit alles, um von den USA und der EU, sowie von ihren unmittelbaren Nachbarn Iran und Syrien, Unterstützung im Kampf gegen die Angriffe der kurdischen PKK aus dem benachbarten Nordirak zu bekommen. Gelingt ihr das nicht, wird sich die türkische Armee wohl nicht mehr lange aufhalten lassen und versuchen, die Stützpunkte der PKK im Nordirak in Eigenregie aufzuspüren um die Kader der Guerilla gefangen zu nehmen oder zu töten. Nach nunmehr 25 Jahren gewaltsamer Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und den Streitkräften des Landes, macht sich in der Türkei in diesen Wochen eine Art Endzeitstimmung breit. Angesichts etlicher Toter in den letzten Wochen ist allenthalben zu hören und zu lesen, jetzt reicht es, wir machen jetzt endgültig Schluss mit der PKK. Stimmen in einer Istanbuler Einkaufsstrasse:

    " Vor einer großen Militäroperation sollten alle politischen Mittel ausgeschöpft werden. Auch ein Wirtschaftsembargo gegen den Nord-Irak könnten Wirkung zeigen. Nur: wenn das das Blutvergießen nicht aufhört, wenn unsere Soldaten weiter sterben, dann dürfen wir dem nicht weiter zusehen. "

    Der Frust ist auch deshalb so groß, weil das Problem längst erledigt schien. Nachdem PKK Chef Abdullah Öcalan im Februar 1999 in Kenia vom türkischen Geheimdienst geschnappt worden war, schien der militärische Kampf für eine Abspaltung der überwiegend kurdisch bewohnten Südost-Türkei beendet. Nicht zuletzt um seinen Kopf zu retten forderte Öcalan noch während seines Prozesses im Sommer 1999 seine Anhänger auf, die Waffen schweigen zu lassen und sich erst einmal im benachbarten Nordirak in Sicherheit zu bringen. Die Situation entspannte sich, Kriegrecht und Ausnahmezustand im Südosten wurden aufgehoben und die kurdische Bevölkerung kam erstmals seit 20 Jahren wieder in den Genuss eines normalen Alltags. Als dann im November 2002 die religiös-konservative AKP von Tayyip Erdogan an die Macht kam und im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der EU den Kurden des Landes nach und nach auch einige kulturelle Rechte zugestand, schien alles auf bestem Wege zu sein für eine endgültigen Lösung der Kurdenfrage.

    Das änderte sich mit dem Einmarsch der USA im Irak. Während die US-Truppen in Bagdad und den meisten anderen Teilen des Landes in ihr Desaster liefen, wurden sie von den Kurden im Nordirak tatsächlich als Befreier begrüßt. Die Kurden des Irak freuten sich uneingeschränkt über den Sturz ihres Peinigers Saddam Hussein und hofften unter amerikanischem Schutz ihr autonomes Gebiet zu einem quasi unabhängigen Staat ausbauen zu können. Auf diesem Weg sind sie seither ein gutes Stück vorangekommen und deshalb wehren sie sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nun auch gegen einen Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak.

    Der kurdischstämmige Politologe Ümit Firat meint, die nord-irakischen Kurden hegten zu Recht den Verdacht, dass die türkische Drohkulisse nicht allein den PKK-Kämpfern gelte:

    " Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Türkei ein generelles Problem hat mit der weitgehenden Autonomie der Kurden im Nord-Irak. Das betrifft vor allem die Armeeführung. Und dann gibt es noch jene starken Kräfte im Land, die mit den derzeitigen Kriegsszenarien den Demokratisierungsprozess und erste Ansätze einer freundlicheren Minderheitenpolitik der Türkei auf ihrem Weg in die EU torpedieren wollen. "

    Wenn erst einmal die Kurden im Nordirak ihren Staat haben, so die Angst in Ankara, werden sich auch die Kurden in der Türkei nicht mehr mit Sprachkursen und ein paar Folkloresendungen im Staatsfernsehen zufrieden geben, sondern es ihren Brüdern und Schwestern im Irak gleich tun wollen. Und genau diese Angst hat die PKK in den letzten drei Jahren virtuos bestätigt. Im Sommer 2005 kündigte sie ihren Waffenstillstand auf und begann, ihre bewaffnete Kampagne innerhalb der Türkei wieder aufzunehmen. Offiziell mit der Begründung, die türkische Regierung hätte immer noch keine politische Lösung der Kurdenfrage angeboten, tatsächlich weil sie hoffte, im Windschatten der Neugliederung des Irak ihrem Ziel eines eigenständigen oder zu mindestens weitgehend autonomen Gebietes auch für die Kurden in der Türkei, doch noch näher zu kommen.


    Die USA haben in dieser Woche versucht, gute Miene zu machen. Sie haben diplomatische Unterstützung der Türkei in der Kurdenfrage zugesagt. Gesten, die nicht zuletzt die aufgeheizte Stimmung in Ankara abkühlen sollen: In den ersten Oktoberwochen war das Verhältnis zum NATO-Partner Türkei durch die Armenien-Resolution des US-Repräsentantenhauses empfindlich gestört worden. Washingtons Zurückhaltung gegenüber einem türkischen Militärschlag gegen die PKK im Nordirak hatte ihr Übriges getan. Wenn die Irak-Anrainer also morgen in Istanbul an einem Tisch sitzen, wir von Washington diplomatische Höchstleistung gefordert sein. Klaus Remme über die Position der USA:

    Nach vielen Jahren schlechter Nachrichten vom Kriegsschauplatz könnte US-Außenministerin Rice in Istanbul erstmals auf Erfolge im Irak verweisen. Die Zahl der Anschläge ist gesunken, noch wichtiger, die Zahl der Opfer, darunter auch die der eigenen Soldaten. Doch just in diesem Moment droht ein neuer Krieg im Norden und die Eskalation der Beziehungen zu Ankara. Der Beschluss des Auswärtigen Ausschusses im US-Kongress, die Massaker an den Armeniern als Völkermord zu verurteilen ist da nur das Tüpfelchen auf einem i. Mark Parris war von 1997 zum Jahr 2000 US-Botschafter in Ankara:

    " Sie sehen ein Muster, wie die USA türkische Interessen ignorieren, darunter auch das Problem im Nordirak, durch das türkische Zivilisten und Soldaten ums Leben kommen, "

    so Parris. Gemeint ist die PKK und in der Tat fordern die Türken seit Jahren Washington auf, gegen die Rebellen im Nordirak vorzugehen. Lange Zeit versuchte George Bush das Problem durch verstärkte Diplomatie zu lösen. Sonderbotschafter wurden eingesetzt und traten wieder zurück. Auch jetzt sieht sich die US-Regierung nicht in der ersten Reihe. Die irakische Regierung muss handeln, sagt US-Außenamtssprecher McCormack:

    " Wir ermutigen Bagdad zur engen Zusammenarbeit mit Ankara. "

    Um die Haltung der Amerikaner zu verstehen, hilft vielleicht der Blick zurück. Im Kalten Krieg konnte sich Washington auf die Türkei als Bollwerk gegen den Kommunismus verlassen. Und auch nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb es bei den guten Beziehungen. Gemeinsam versuchte man stärkeren Einfluss auf die in den 90er Jahren unübersichtlichen aber rohstoffreichen Regionen im Kaukasus und Zentralasien zu nehmen. Dies in Konkurrenz zu Russland und dem Iran. Washington brauchte die Türkei außerdem zunehmend als Modellstaat, als Beweis für eine gelungene Verbindung von Islam und Demokratie. Doch nach dem 11. September begann die Regierung Bush ihren Kampf gegen den Terror, der von vielen als Kreuzzug gegen den Islam empfunden wurde, auch in der Türkei. Am 1. März 2003 kam es zum Bruch. Das türkische Parlament verwehrte amerikanischen Truppen von türkischem Boden aus in den Irak einzumarschieren. Der Einsatz der 4. US-Infanteriedivision verzögerte sich um Wochen. In Washington wurde das Votum von vielen als Verrat empfunden, dessen Folgen nachwirken. So stark die gemeinsamen Interessen in den letzten Jahrzehnten waren, so unterschiedlich sind sie jetzt mit Blick auf den Irak und im Kern geht es um die Kurdenfrage. Schon im Vorfeld des Konflikts war klar: Aus Furcht vor kurdischem Separatismus ging es Ankara vor allem um die territoriale Integrität des Irak. Selbst das Regime von Saddam Hussein war akzeptabler als ein Zerfall des Staatsgebildes. Washington wiederum wollte den Sturz von Saddam Hussein, komme was wolle. Kurdische Autonomie war zwar kein ausdrückliches Kriegsziel, galt aber aus Sicht der USA auch nicht als Katastrophe. Noch immer kursieren Pläne wie die von Senator Joe Biden, für eine föderale Zukunft des Irak mit einem eigenständigen kurdischen Norden. Für Ankara ein Alptraum. Nach dem Zerwürfnis mit der Türkei schaffte Washington zuverlässige Beziehungen zu den Kurden im Nordirak, die Region entwickelte sich neben dem Chaos im Süden des Landes zum relativen Stabilitätsfaktor. Ein türkischer Vormarsch würde diese Entwicklung gefährden. Peter Galbraith vom Institute for Arms Control and Non-Proliferation:

    " Der Schaden für die bilateralen Beziehungen wäre beträchtlich. Irak ist das Schlüsselprojekt von George Bush, 165-tausend Soldaten sind im Land, der Norden ist der einzige Erfolg. Keiner will, dass die Türkei hier Unruhe ‚reinbringt. "

    Die USA ist wie ein Mann mit zwei Frauen, so wird ein kurdischer Politiker unlängst in der New York Times zitiert, sie liegen sich ständig in den Haaren, doch er will keine von beiden aufgeben. Dazu kommt, dass es für Washington wichtige Unterschiede zwischen Kurden und Kurden gibt. Mit der Regionalregierung unter Masud Barzani in Arbil arbeiten die Amerikaner eng zusammen. Die PKK wiederum ist in den Augen Washingtons eine terroristische Vereinigung, Anschläge auf den türkischen Alliierten werden entsprechend verurteilt. Doch nicht nur die Türkei hat ihr Kurdenproblem. Was die PKK für Ankara, ist die PJAK für Teheran. Kurdische PJAK-Rebellen kämpfen an der irakisch-iranischen Grenze. Teheran wirft Washington vor, die PJAK aktiv zu unterstützen, was die amerikanische Regierung energisch bestreitet. Immerhin jedoch war PJAK-Anführer Haji-Amadi im vergangenen Sommer in Washington, freilich, wie betont wurde, ohne offizielle Kontakte. Aktive Unterstützung oder nicht, übertriebenes Mitleid mit Teheran wird Washington aber wohl kaum jemand unterstellen. Hier wird der mehrfache Spagat der Amerikaner deutlich. Neben der Türkei und dem Irak sind die Faktoren Iran und mittelbar auch Syrien, dem vierten Staat mit einer kurdischen Minderheit, sowie der Nahe Osten zu berücksichtigen. Aus türkischer Sicht ist das Lavieren Washingtons allzu deutlich geworden. Vielleicht setzt die US-Regierung in der Tag auf Zeit. Die PKK-Stellungen sind versteckt in den Bergen. In wenigen Wochen ist dort Winter. Eine groß angelegte Offensive schwer vorstellbar. Wenn Ministerpräsident Erdogan in der kommenden Woche in die amerikanische Hauptstadt kommt, dann wird er George Bush in jedem Fall ein konkretes Bekenntnis zur türkisch-amerikanischen Partnerschaft abringen wollen. Kein leeres Versprechen. Erdogan ist in schwieriger Lage und vielleicht gerade deshalb gefährlich. Durch das zerrüttete Verhältnis zur ehemaligen Schutzmacht USA und dem vielleicht endlosen Weg in Richtung EU ist Ankara zur Zeit ohne festen westlichen Bezugspunkt. Das macht die türkische Regierung empfänglich für Angebote aus Teheran, aus Damaskus und für anti-amerikanischen Druck von der Strasse.


    Während Washington eine aktive Rolle im türkisch-irakischen Grenzkonflikt zukommt, scheinen die Europäer am Rande zu stehen. Tatsächlich aber sind sie betroffen und beteiligt: Die Auseinandersetzungen zwischen kurdischstämmigen und nationalistisch gesinnten Türken finden, wie schon in den neunziger Jahren, nicht mehr nur in türkischen Städten statt. Berlin, Köln, Hamburg, aber auch Brüssel waren in den vergangenen Tagen Schauplätze von Demonstrationen und Schlägereien. In der kommenden Woche wird die Europäische Kommission ihren "Fortschrittsbericht Türkei" vorlegen und eine Strategie in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei formulieren. Alois Berger beschreibt die Haltung der Europäischen Union:

    Die EU-Kommission in Brüssel beobachtet die Vorgänge an der türkisch-irakischen Grenze mit gespannter Unruhe. Denn einerseits hat die Europäische Union durchaus Verständnis dafür, dass die türkische Regierung nach einer Antwort auf die Anschläge der PKK sucht. Andererseits kann sie nicht akzeptieren, dass ein Land, das EU-Mitglied werden will, mit militärischer Gewalt in ein Nachbarland vorrückt. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn warnte die Türkei letzte Woche in einer Rede vor dem EU-Parlament, verpackte die Warnung aber in Watte:

    " Die Türkei sieht sich anhaltenden Attacken der PKK ausgesetzt, einer Organisation, die von der EU als terroristisch eingestuft wird. Die EU verurteilt diese terroristischen Anschläge und hat Verständnis, dass die Türkei sich schützen will. Doch die EU und die Türkei haben die Pflicht, die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Einheit des Irak zu respektieren. "

    Die etwas umständlichen Formulierungen lassen auf eine gewisse Ratlosigkeit schließen. Denn der Erweiterungskommissar gehört zu den Befürwortern intensiverer Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Rehn geht davon aus, dass die Europäische Union mehr Einfluss auf die Türkei und ihre Politik hat, wenn die Verhandlungen mit Ankara wieder in Gang kommen, wenn die Türkei wieder eine ernsthafte Chance auf einen EU-Beitritt sieht. Denn derzeit stocken die Aufnahmegespräche. Die EU hat die Verhandlungen wegen des Zypern-Konflikts praktisch auf Null zurückgefahren. Man redet miteinander, aber man verhandelt nicht ernsthaft.

    Antonio Missaroli vom European Policy Center, einem Thinktank in Brüssel, sieht noch einen anderen Grund, warum die EU-Kommission vor deutlichen Worten zurückschreckt. Hinter den Kulissen, meint Missaroli, spricht Brüssel längst Klartext:

    " Die Europäische Union sagt der Türkei, wenn sie den Beitrittsprozess am Leben halten will, dann muss sie sich an Regeln halten. Und ein Einmarsch in den Irak gehört sicher nicht zu diesen Regeln, und würde deshalb Konsequenzen nach sich ziehen. Aber es gibt im Augenblick noch keine Notwendigkeit, das allzu laut und deutlich zu sagen. Denn das könnte in der Türkei eine nationalistische Reaktion auslösen, auch gegenüber der Europäischen Union. Aus Sicht der türkischen Bevölkerung würde die EU, wenn sie die Türkei an militärischen Aktionen gegen die PKK hindert, die Terroristen indirekt unterstützen. "

    In weiten Teilen der Türkei wird der Europäische Union ohnehin vorgeworfen, sie kümmere sich zu sehr um die Kurden und nehme selbst Terroristen in Schutz. Der türkische Ministerpräsident forderte die EU in dieser Woche auf, endlich energisch gegen die PKK vorzugehen. Europa habe bisher viel zu wenig gegen die PKK unternommen.

    Die EU-Kommission fühlt sich eingeklemmt. Einerseits ist die Bedrohung der Türkei durch PKK-Anschläge nicht von der Hand zu weisen. Andererseits glaubt kaum jemand in Brüssel, dass der Kampf militärisch zu gewinnen sei. Eine bessere Behandlung der Kurden verspreche mehr Erfolg, so der Tenor. Die Einhaltung der der kurdischen Minderheitenrechte ist ohnehin eine der wichtigsten Bedingungen für einen EU-Beitritt. Die meisten Europaabgeordneten messen an den Fortschritten bei den Menschenrechten die Beitrittsreife der Türkei.

    Dieses Thema wird auch in der kommenden Woche eine Rolle spielen, wenn die EU-Kommission den jährlichen Bericht über die Reformfortschritte in der Türkei vorlegen wird. Bei der Parlamentsdebatte im Vorfeld dieses Berichts wurde deutlich, wie weit die Meinungen über die Türkei nach wie vor auseinander gehen. Ein Teil der Europaabgeordneten sieht in der aktuellen Krise ganz klar auch eine Möglichkeit, die Beitrittszusage an die Türkei vielleicht doch noch rückgängig zu machen. Ein Land, das die Grenzen nicht respektiere, so die deutsche Christdemokratin Renate Sommer, disqualifiziere sich selbst für eine EU-Mitgliedschaft.

    Doch die Mehrheit der EU-Abgeordneten hält die europäische Perspektive für einen wichtigen Motor der türkischen Reformen. Erst die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft und das damit verbundene Drängen der EU habe Ankara veranlasst, die Unterdrückung der Kurden zu lockern. Der liberale EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff hofft, dass die Türkei diesen Weg jetzt nicht wegen der PKK-Anschläge verlässt:

    " Wir fordern die türkische Regierung auf, umsichtig zu reagieren auf diese Situation. Wir haben keine Anzeichen, dass das nicht der Fall wäre. Wichtig ist, dass Maßnahmen, die getroffen werden, um die Bedrohung des türkischen Territoriums zu verringern, folgende Bedingungen erfüllen: Sie müssen geeignet, verhältnismäßig und zeitlich und räumlich begrenzt sein. Es gibt in der Europäischen Union Verständnis für die schwierige Lage. Wichtig aus türkischer Sicht ist, dass dieses Verständnis erhalten bleibt. Eine friedliche Lösung ist selbstverständlich unser oberstes Ziel. "

    In Brüssel sieht man den Schlüssel für die Lösung der aktuellen Krise bei der irakischen Regierung. Sie könnte zusammen mit der Türkei gegen die PKK vorgehen, die den irakischen Norden als Rückzugsraum für ihre Anschläge nutzt. Doch der Einfluss der Europäischen Union in der Region ist begrenzt. Das einzige Machtmittel, das die EU in diesem Konflikt wirklich hat, sind eben die Beitrittsgespräche mit der Türkei. Doch die sind der türkischen Regierung derzeit nicht so wichtig. Sie hat andere Prioritäten. Ankara reicht es vorerst, dass der Beitrittsprozess läuft und das Ziel EU-Mitgliedschaft erhalten bleibt. Wenn es wegen der zögerlichen Reformen länger dauert, dann, so scheint man das in Ankara zu sehen, ist das auch nicht schlimm.

    Nicht die EU-Kommission, die Mitgliedsländer entscheiden darüber, ob die Verhandlungen eingefroren werden oder nicht. Vor allem die nordischen Länder Schweden, Dänemark und Finnland sehen jede Militäraktion sehr kritisch. Wahrscheinlich werden auch Österreich und Frankreich eine solche Aktion verurteilen, allerdings aus anderen Gründen. Beide Länder würden den türkischen EU-Beitritt gerne noch verhindern. Doch die Entscheidung, die Aufnahmeverhandlungen zu stoppen, muss einstimmig fallen.