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Roman
Boris Hillen: "Agfa Leverkusen"

Hippies, unendliche Freiheit und gleich mehrere abenteuerliche Motorradtrips quer über die Kontinente: In seinem neuen Roman "Agfa Leverkusen" erzählt Boris Hillen von der Sehnsucht nach einem neuen Leben und spielt geschickt mit den Klischeebildern von Selbstverwirklichung und spiritueller Erleuchtung.

Von Christoph Schröder | 11.11.2015
    Schiffe fahren auf dem Rhein am Chemie- und Pharmakonzern Bayer in Leverkusen vorbei.
    Sehnsuchtsort Leverkusen: In Boris Hillens Roman machen sich die beiden Inder Kishone Kumar und Amitabh auf den Weg nach Leverkusen, um dort zu studieren. (picture alliance / dpa / Martin Athenstädt)
    Warum verschlägt es einen jungen indischen Fotografen aus der nordindischen Kleinstadt Pushkar in das vom Deutschen Herbst aufgepeitschte Berlin des Jahres 1977? Was veranlasst eine selbstbewusste und kluge Frau rund 30 Jahre später, den entgegen gesetzten Weg von Deutschland in Richtung Indien anzutreten, um ausgerechnet in einem Bollywood-Film mitzuspielen? Was hat es mit Serge auf sich, einem ehemaligen Fremdenlegionär, der sich beim Russischen Roulette selbst erschießt und fortan als Gespenst auf einem Motorrad durch die Welt geistert? Und wie kommt eine Ikone der amerikanischen Hippiebewegung plötzlich dazu, als Kriegsreporterin Karriere machen zu wollen?
    All diese Erzähl- und Handlungsfäden verknüpft Boris Hillen in seinem turbulenten Debütroman "Agfa Leverkusen", einem Buch, wie man es selten von einem deutschsprachigen Autor zu lesen bekommt: Rasant, reflektiert und dabei geradezu hemmungslos unterhaltsam schickt Hillen, im Hauptberuf Lehrer an einem Frankfurter Gymnasium, sein Personal auf die Reise durch die Welt und durch die Zeiten.
    "Der Impuls war im Grunde ein Arbeitskollege meines Vaters. Mein Vater hat als Werbegrafiker in einer Maschinenfabrik in Neuwied gearbeitet, und der hatte einen indischen Kollegen. Dieser Kollege kam tatsächlich in den 70er-Jahren auf dem Landweg nach Deutschland, um hier die Farbfotografie zu erlernen. Das war der Ausgangspunkt, und das fand ich schon immer sehr interessant."
    Kishone Kumar heißt Hillens Protagonist. Kishone verdient im nordindischen Pushkar sein Geld als Fotograf, hauptsächlich bei Hochzeits- und anderen Familienfeiern. Doch Kishone hat höhere Ambitionen, zumal eine neue Erfindung sein bislang durchaus einträgliches Geschäft bedroht: Plötzlich verlangen seine Kunden von ihm, der bislang ausschließlich in schwarz-weiß fotografiert hatte, farbige Aufnahmen. Ein Stilbruch für Kishone und in Indien noch dazu eine logistische Herausforderung. Also beschließen Kishone und sein bester Freund Amitabh, nach Deutschland aufzubrechen, nach Leverkusen, um genau zu sein. Kishone will bei den dort ansässigen Agfa-Werken die Technik der Farbfotografie erlernen, während der gelernte Mechaniker Amitabh davon träumt, in Deutschland ein Medizin-Studium aufzunehmen.
    Die beiden fassen einen folgenschweren Entschluss: Weil sie sich einen Flug nach Europa nicht leisten können, wollen sie die Strecke stattdessen auf dem Landweg zurücklegen, auf Motorrädern, quer durch Afghanistan und andere unzugängliche Territorien. Das ist der Ausgangspunkt für einen Roman, der Abenteuergeschichte und Roadmovie zugleich ist, der aber nebenbei auch sehr viel über gegenseitige kulturelle Zuschreibungen, über Klischees und exotische Kopfgeburten erzählt - und davon, wie derartige Vorstellungen an den Klippen der Wirklichkeit zerschellen können. Für seinen Roman ist Boris Hillen, Jahrgang 1968, mit dem Motorrad nach Indien gefahren, hat die Atmosphäre und die Eindrücke der Reise auf sich wirken lassen. Das ist dem Buch anzumerken, dass voll ist von Sinneswahrnehmungen und kuriosen Begebenheiten.
    Teppich aus markanten und spektakulären Szenen
    Ganz bewusst spielt Hillen mit den Stereotypen, um sie einerseits als prächtigen Dekor zu verwenden und andererseits ad Absurdum zu führen - eine Mischung aus Bollywood und Desillusionierungsprozess.
    Das gilt auch, Stichwort: Liebesgeschichte, für eine der zentralen Frauenfiguren: Joan, die Kishone bereits in Indien kennenlernt und später in Istanbul wieder treffen wird, ist ein klassisches Produkt der Generation Woodstock. Sie propagiert die freie körperliche Liebe und die Emanzipation und versucht sich als freie Reporterin für das "Time Magazine" - mit eher bescheidenem Erfolg.
    "Es ist tatsächlich so, dass Joan sich aus verschiedenen Figuren zusammensetzt und letztendlich auch aus verschiedenen Klischees. Es ist, wie ich mir eine attraktive Klischee-Hippiefrau vorstelle, die an bestimmten Stellen diese Klischees ja auch wieder bricht und die in gewisser Weise an ihrem Anspruch scheitert. Sie wäre gerne investigative Journalistin und ist aber stattdessen an der Cocktail-Front unterwegs."
    "Agfa Leverkusen" bewegt sich im ständigen Wechsel auf drei unterschiedlichen Zeitebenen. Die Frau, die rund 30 Jahre nach Kishones und Amitabhs Trip gen Westen mit ihrem Begleiter Tom in Richtung Indien aufbricht, ist Joans Tochter Saxona, genannt Sax. Sax lebt in Frankfurt am Main, wo auch ihre Mutter Joan mittlerweile gestorben ist.
    Eine Postkarte, möglicherweise unterschrieben von ihrem Vater, ist der Anlass für den Aufbruch. Dieser Vater könnte Kishone sein; jedenfalls ist er es, der Saxona von seiner abenteuerlichen Reise ins Jahr 1977 erzählt.
    Auf diese Weise kreuzen, überlagern und verbinden sich die Erzählfäden zu einem überaus vergnüglichen Teppich, gewoben aus markanten und spektakulären Szenen. Als konkreter Ort bleibt Leverkusen ein Sehnsuchtspunkt, zunächst jedenfalls. Stattdessen landen Kishone und Amitabh mitten im politisierten Berlin, mitten im Deutschen Herbst.
    "Der Deutsche Herbst gehört zumindest zu meinen frühesten politischen Erinnerungen. Ich weiß zum Beispiel noch genau, wie ich bei meinen Großeltern war und wir zusammen Abends Nachrichten im Fernsehen geguckt haben und wie der Pilot der Lufthansa-Maschine da aus dem Fenster geworfen wurde."
    Das Nichtankommen ist eines der Leitmotive des Romans. Ganz gleich, wer wann wo aufbricht - stets landet er oder sie erst einmal nicht dort, wo es eigentlich hingehen sollte.
    "Wann erreicht man im Leben schon einmal das Ziel, das man sich vorgestellt hat? Man kommt doch immer irgendwo anders an, und so geht es den Figuren im Roman auch: Die meisten kommen ja an und sind gar nicht so unglücklich damit. Auch von außen gesehen ist das nicht furchtbar, was den meisten widerfährt, aber sie kommen eben irgendwo an. Insofern ist der Titel "Agfa Leverkusen" eine Metapher für ein Ziel, das man nicht erreicht, dafür aber ein anderes."
    Keine Langeweile auf 450 Seiten
    Boris Hillens Roman bewegt sich deutlich spürbar in der Tradition englischsprachiger Autoren wie John Irving oder T.C. Boyle, nimmt aber auch Bezug auf die stilbildenden Roadmovies der Hippie-Zeit, sei es Jack Kerouacs Kultroman "On the Road", sei es Dennis Hoppers Film "Easy Rider".
    Die gerade hierzulande streng gehütete Grenze zwischen U- und E-Literatur passiert man während der Lektüre sozusagen im Minutentakt und so mühelos, dass man sie irgendwann komplett vergisst. Und auch für den Autor selbst spielt die dezidierte Unterscheidung zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltungsanspruch keine Rolle. Immerhin lässt er auch seine Hauptfigur Kishone am Ende des Romans sagen, dass er den Sinn von Grenzen niemals verstanden habe.
    "Ein Buch muss Spaß machen beim Lesen, sonst hat es sein Ziel verfehlt, aber es muss auch etwas dahinter stecken. Vorbild in gewisser Weise sind für mich Dürrenmatts Kriminalromane. Da hast du einen dünnen Roman, und in ein oder zwei Stunden hast du den gelesen und hast einen spannenden Krimi gelesen. Aber nach und nach kann man den häuten wie eine Zwiebel, und dann kommt noch eine Ebene und noch eine Ebene, und so funktioniert die Literatur, die ich mag."
    Boris Hillen hat in Indien mit dem Fotografieren angefangen, mit einer alten Canon-Spiegelreflexkamera, die sein Vater ihm geschenkt hat. Für Kishone, den Schwarz-weiß-Fotografen, der die Farbbilder hasst, weil sie den Motiven das Geheimnis nehmen, endet die Reise in einem Weinort namens Leutesdorf, hoch über dem Rhein. Dort hat er einen letzten Freundschaftsdienst zu erledigen; dort wird ohne sein Zutun seine Existenz eine neue Wendung nehmen. Seinen verschlungenen Lebenspfaden ist man bis dorthin über knapp 450 Seiten gefolgt. Langweilig ist es dabei zu keiner Sekunde geworden.
    Boris Hillen: Agfa Leverkusen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 448 Seiten, 19,99 Euro.