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Rückblicke in die ferne Heimat

In Amit Chaudhuris Erzählungsband geht es um die Non Resident Indians, Inder, die nicht mehr in Indien leben. Die Figuren des Autors kämpfen mit ihren eigenen Erinnerungen. Der nostalgische Rückblick wird ihnen zur zweiten Natur.

Von Shirin Sojitrawalla | 23.08.2005
    Indische Autoren, vor allem natürlich jene, die in Europa, den Vereinigten Staaten oder Kanada leben oder gelebt haben, thematisieren mit Hingabe ein Thema: Das Leben zwischen zwei Welten. Hier das freiheitliche westliche Lotterleben, dort das reglementierte tropische Familiensystem. Die Ordnung tritt gegen das Chaos an, die freie Liebe gegen die arrangierte Ehe, Nieselregen konkurriert mit dem Monsun und klirrende Winter in der Provinz mit der Schwüle indischer Metropolen.

    Das alles hat ganz ohne Zweifel seinen Reiz und auch seine Berechtigung sowie obendrein auch schon manch guten Roman und manch gelungene Erzählung ergeben. Doch wenn sich alles bloß auf dieses nicht endlos ergiebige Sujet konzentriert, kommt beim Lesen dann doch auch Langeweile auf. Zu vorhersehbar die Inhalte, zu oft beschriebene Gefühle der Zerrissenheit und zu viele Sätze, die man meint, schon woanders gelesen zu haben. So viel vorab.

    Amit Chaudhuri wurde in Kalkutta geboren, wuchs in Bombay auf, studierte aber in London und Oxford. Schon mit seinen drei Kurzromanen, die auf deutsch unter dem Titel "Die Melodie der Freiheit" erschienen, ließ er einen seiner Helden gedanklich zwischen den Kontinenten hin- und herpendeln. Und auch sein Roman "Ein Sommer in Kalkutta" erzählt von einem, der nach Amerika auszog und nun in Indien bloß noch die Ferien verbringt. Und natürlich gibt es auch in seinem jetzt erschienenen Erzählungsband mit dem schönen Titel "Betörungen und fromme Lügen" Geschichten, die von den so genannten Non Resident Indians erzählen.

    Diese nicht mehr in Indien lebenden Inder erkennen die Einheimischen auf den ersten Blick: nicht nur mit ihrer Kleidung unterscheiden sie sich von den Daheimgebliebenen, sondern es umgibt sie zudem eine gewisse westliche Nervosität wie eine Überempfindlichkeit gegenüber Dreck, Gestank und Lärm. Die Figuren von Amit Chaudhuri aber kämpfen nicht um ihren Status als Inder, sondern vielmehr mit ihren eigenen Erinnerungen. Der nostalgische Rückblick wird ihnen zur zweiten Natur. Das Indien ihrer Kindheit besitzt zumindest paradieshafte Züge, was erfreulicherweise für Kindheitsorte in der ganzen Welt gilt. Aus der Distanz betrachtet sehen Chaudhuris Figuren ihre Heimat nicht klarer, sondern verschwommener. So geht es auch dem Ich-Erzähler in der Geschichte "Porträt eines Künstlers", der erst aus der Ferne erkennt, dass Kalkutta doch auch liebenswerte Kleinstadt ist.

    Mit dieser wie mit vielen anderen Geschichten erklärt der Autor auch seine Liebe zu seiner Heimat, was natürlich ausgesprochen nett ist, ihn aber literarisch nicht unbedingt weiter bringt. Viel besser ist er nämlich ohnehin, wenn er im eigenen Land bleibt, sich auf indische Wirklichkeiten beschränkt und sie mit dem Blick des Dazugehörigen ausleuchtet. Das macht er etwa in der Geschichte "Echtzeit", die von einer Trauerfeier in Kalkutta erzählt. Chaudhuri begleitet ein Ehepaar zu der Feier. Mit knappen Worten rekonstruiert er nicht nur die Konversation der Trauergäste, sondern auch die damit einhergehenden gesellschaftlichen Konventionen.

    Meisterhaft knapp versteht er es dabei, vieles im Vagen zu belassen. Indien dient ihm nicht als Thema, sondern als merkwürdige Kulisse zu einem Schauspiel, das über das Land hinausweist und gleichzeitig typisch für es ist. Dass es sich bei der Toten um eine Selbstmörderin handelt, erfährt der Leser so nebenbei. Leichthändig und unaufgeregt berichtet Chaudhuri über die Pflichtveranstaltung. Dabei scheint er sich in seinen Erzählungen immer wieder einen Spaß zu machen, indem er seinen Figuren dieselben Namen gibt. Man kann sich dann als Leser fragen, ob Ehemann Gautam aus "Echtzeit" derselbe Gautam ist, den man schon als Schüler in der Geschichte "Vier Tage vor der Oberstufenparty am Samstagabend" kennen gelernt hat. Ein hübsches Spiel, ob beabsichtigt oder nicht.

    Aber auch wenn er in "Echtzeit" nur wenige Seiten benötigt, um die unheimliche Stimmung und den ganzen Morast gesellschaftlicher Anständigkeit gelungen umzugraben, hat man doch das Gefühl, dass Chaudhuri sich für Langstrecken besser eignet. Seine Form des Kurzromans, die ja auch nichts anderes ist als eine lange Erzählung, liegt ihm einfach. Er benötigt Zeit, um zu erzählen, auch weil er meistens auf keinen Plot vertraut, sondern den Inhalt seiner Geschichten aus Stimmungen, Details und Atmosphären saugt. In seinem Roman "Sommer in Kalkutta" passiert recht eigentlich nicht viel, aber über die Länge von 220 Seiten gelingt ihm doch das eindringliche Porträt eines Mannes, dessen Leben ganz sachte aus den Fugen geraten ist. Der mit am besten Text im neuen Band umfasst immerhin mehr als 30 Seiten.

    "E-Moll" ist die Erzählung überschrieben, die eine fast lyrische Annäherung an Bombay ist. Ein Gesang über eine unfassbare Stadt, die er versucht, in einer Art poetisch verdichteten Gedankenstrom zu erfassen. Heraus kommt eine sehr persönliche Liebeserklärung wie ein privates Lamento über eine Stadt, die als westlichste Stadt Indiens selbst zwischen den Welten existiert. Hier scheint der Autor ganz bei sich, was mehr meint, als dass er bloß vom eigenen Leben erzählt. Zudem traut er sich etwas, indem er nicht auf seine übliche Erzählweise vertraut, sondern einmal etwas Neues ausprobiert. Und das sollte er ruhig häufiger tun.

    Amit Chaudhuri: Betörungen und fromme Lügen.
    Blessing Verlag