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Russland
Uraufführungen des Komponisten Mossolow sorgen für Aufregung

Das riesige Werk des russischen Komponisten Alexander Mossolow ist bis heute weitgehend unerforscht, viele Werke unveröffentlicht. Der russische Klassiksender Radio Orpheus hat in Moskau ein Konzert mit sieben Uraufführungen veranstaltet. Doch mussten im Vorfeld einige Hindernisse überwunden werden.

Von Anastassia Boutsko |
    Aufgeschalgendes Notenheft von der Seite fotografiert.
    Schätzungsweise sind 80 Prozent Mossolows Werke unveröffentlicht (Symbolbild). (imago/McPHOTO )
    Musik: "Die Eisengießerei"
    Alexander Mossolows "Die Eisengießerei" eines der bekanntesten Werke der russischen Musik-Avantgarde der 1920er-Jahre. Auf den Schwarz-Weiß-Fotos jener Zeit sehen wir Mossolow als einen traumhaft schönen jungen Mann adeliger Herkunft, Sohn einer Opernsängerin und eines Anwalts. Ein Bohemien, Liebling der Moskauer Gesellschaft, von frühem Erfolg, auch in Europa, verwöhnt. Eine Zeitlang gab er sich dem zerstörerischen Rausch seiner Epoche hin.
    Musik: "Die Eisengießerei"
    Dann kommen die 30er-Jahre, das süße Leben ist vorbei. 1937 wird Mossolow verhaftet, die Anklage lautet auf staatsfeindliche Aktivitäten, er bekommt acht Jahre Lagerhaft. Dank der intensiven Bemühungen seiner Lehrer Nikolaj Mjaskowski und Reinhold Glière kommt er nach einem Jahr wieder frei, ist aber nach der GULAG-Erfahrung ein gebrochener Mann, seiner Musiksprache beraubt, von der Gewalt betäubt. Seine Musik klingt nun so:
    Musik: "Wochenende im Park"
    Mossolow komponierte sein Leben lang
    1973 stirbt Mossolow in Moskau mit 73 Jahren. Er komponierte sein Leben lang. Bis heute blieb sein Riesenwerk weitgehend unerforscht. Einen wichtigen Schritt zu seiner Wiederentdeckung machte nun Radio Orpheus. Orpheus ist der Erbe von Gosteleradio – des einst allmächtigen sowjetischen Radiosenders. Zur Erbmasse zählen neben der Hörfunkredaktion zwei Orchester, zwei Chöre und ein ungeheures Archiv, wo man vor drei Jahren etliche Mossolow-Partituren entdeckte.
    Beim Konzert im Moskauer Konservatorium fanden sieben Uraufführungen an einem Abend statt – viele Jahrzehnte nach dem Tod des Komponisten. Neben einigen wohlklingenden, aber eher harmlosen späteren Werken oder einer reizenden Tanzsuite aus dem Jahr 1930 – wurde wohl ein Schlüsselwerk aus Mossolows Oeuvre gespielt, eine Symphonische Dichtung aus dem Jahre 1931, komponiert für großes Orchester und zwei Chorgruppen.
    Musik: "Antireligiöse Symphonie"
    Der erste Teil der Symphonie ist ein Gottesdienst, der Anfang beschreibt die Zusammenkunft der Gläubigen. Meisterhaft verwebt Mossolow Zitate aus orthodoxen Gesängen mit einer an Mussorgski erinnernden, dichten Orchestertextur. Immer wieder ist aber auch jene chromatische Bewegung aus der "Eisengießerei" zu hören – seine musikalische Formel der neuen Zeit.
    Ungefähr in der Mitte des etwa halbstündigen Werks wird der Gottesdienst unterbrochen. Die Neuen kommen – symbolisiert durch einen zweiten Chor. "Sauf, zerstöre!". Im zweiten Teil des Werkes collagiert Mossolow Revolutionslieder, in einer doppelten Fuge erklingt schon mal eine Marseillaise. Zum Schluss besingen beide Chöre den Anfang einer neuen, "gottfreien" Welt. Souverän dirigierte Sergej Kondraschew das Orchester von Radio Orpheus und den hauseigenen Chor.
    Hindernisse nichtmusikalischen Charakters
    Damit das Konzert aber überhaupt stattfinden konnte, mussten erst einige Hindernisse nichtmusikalischen Charakters überwunden werden. "Antireligiöse Symphonie" steht auf der jungfräulichen Partitur – allerdings nicht in der Handschrift des Komponisten. Womöglich war der Titel ein Versuch, das Werk in der Sowjetunion salonfähig zu machen. Im heutigen Russland bewirkte es allerdings das Gegenteil: Das Konzert war für Februar geplant und musste kurzfristig abgesagt werden. Es gab, so hieß es, Einwände aus gewissen Kreisen gegen die Aufführung eines Werkes, in dem das Wort "antireligiös" im Titel vorkommt. Oksana Serjeschenko, die Projektleiterin, zu den Gründen:
    "Ich will nun nicht sagen, dass es Zensur war, aber, sagen wir mal, das hat mit der Situation zu tun, die wir zurzeit in unserem kulturellen Raum haben. Ich will hier nicht viel über politische und religiöse Momente reden. Aber ich glaube, wir haben mit der Verschiebung des Konzerts eine richtige Entscheidung getroffen: Wir haben es nicht erlaubt, Mossolow als Komponisten ein zweites Mal zu töten!"
    Musik: "Antireligiöse Symphonie"
    Das Konzert in Moskau war ein provisorischer Sieg über die ideologischen Gegner, die es verhindern wollten, und ein Medienerfolg. Nun aber richten sich alle Blicke mit noch mehr Interesse aufs Hörfunkarchiv, dessen Geschichte ebenfalls ein Drama ist.
    "Dieses Archiv hat unzählige Katastrophen überlebt"
    In den "wilden 90ern" wurde das Radio aus dem Traditionshaus im Zentrum Moskaus "wegkapitalisiert". Zum Packen hatte man wenige Tage, ja Stunden. Manuskripte und Bänder, Orchestermaterial und rare Notenausgaben landeten in Säcken und Kartons. Diese werden heute in einem leerstehenden Schulgebäude am Stadtrand gelagert. Irina Gerassimova, die Orpheus-Intendantin, berichtet:
    "Dieses Archiv hat unzählige Katastrophen überlebt. Als ich vor 12 Jahren den Posten übernahm, klingelte gleich an meinem ersten Arbeitstag das Telefon: Rohrbruch im Archiv, alles überflutet. Seitdem versuchen wir, unser Archiv zu retten, zu ordnen, zu erforschen – und nach und nach die Werke zu spielen. Zum Umfang und Zusammensetzung ist nur soviel zu sagen: das ist das weltgrößte Archiv der Komponisten der Sowjetzeit."
    Dutzende von Komponistennamen, Hunderte von Werken, Tausende Kubikmeter altes Papier. Was wünscht Irina Gerassimova sich selbst und ihren Mitarbeitern?
    "Ganz viel Kraft, denn wir erforschen unsere Archive sozusagen ehrenamtlich, neben unserem eigentlichen Job. Und: ein bisschen Geld wäre auch nicht schlecht!"