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Saakaschwili ruft europäische Staaten zur Unterstützung auf

Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat Russland vorgeworfen, mit seinem Vorgehen im Kaukasus-Konflikt die gesamte Ordnung in Europa zu untergraben. Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuche eine große europäische Macht, Teile eines Nachbarlandes zu annektieren, sagte Saakaschwili im Deutschlandfunk. Saakaschwili sprach sich für die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe nach Georgien aus.

Christoph Heinemann im Gespräch mit Michail Saakaschwili | 29.08.2008
    Christoph Heinemann: Sollte sich die russische Regierung die Unterstützung für ihre Kaukasus-Politik der asiatischen Partner in der Shanghaier Kooperationsorganisation erhofft haben, so ging dieser Schuss nach hinten los. China und die Partner sagten "njet". Damit nicht genug, wird in der Europäischen Union kurz vor dem Sondergipfel am kommenden Montag laut über Sanktionen nachgedacht. Unterdessen geht zwischen Moskau und Tiflis nichts mehr. Die Diplomaten haben die Koffer gepackt. Der Konflikt sei bereits keine Beziehungskrise zwischen zwei Staaten mehr, meint der georgische Präsident Michail Saakaschwili, den wir vor dieser Sendung in Tiflis erreicht haben.
    Wie wird die georgische Regierung auf die Anerkennung der Provinzen Südossetien und Abchasien durch Russland reagieren?

    Michail Saakaschwili: Dies ist nicht länger eine Angelegenheit der georgischen Regierung. Was Russland getan hat, unterminiert die gesamte Ordnung in Europa, die nach dem Kalten Krieg und dem Zweiten Weltkrieg galt. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges versucht eine der großen europäischen Mächte, durch einseitige Gewaltanwendung Teile des Gebietes eines Nachbarlandes zu annektieren. Das bedeutet eine große Herausforderung für alle. Wir werden nun internationale Anstrengungen mit dem Ziel der Abschreckung unternehmen müssen. Denn wenn die damit durchkommen, werden sie nicht stehen bleiben, sondern sie werden das an anderen Orten in Europa fortsetzen.

    Heinemann: Schließen Sie militärische Reaktionen Georgiens aus?

    Saakaschwili: Georgien ist nicht in der Lage, einen Krieg gegen ein Volk von 146 Millionen Menschen zu führen, die über Atomwaffen verfügen. Die Armee, die in Georgien einmarschiert ist, bestand aus 80.000 Soldaten und 3000 Panzern. Georgien verfügt etwa über ein Zehntel an Menschen und Material. Wir haben dafür gesorgt, dass bisher jede Art von Aufstand gegen die Russen unterblieben ist. Die Russen wären gegenüber solchen Angriffen sehr verwundbar, und sie sind es nach wie vor. Sie sind über das ganze Land verteilt, sie laufen in kleinen Patrouillen, auch einzeln. Es gab bislang keinen einzigen Angriff auf russische Soldaten, obwohl sie von so gut wie allen hier gehasst werden, weil sie eine Invasions- und Besatzungsmacht sind. Wir wollen ihnen aber keinen Vorwand für Provokationen, Terror und Zerstörung liefern und dafür, die Spur der ethnischen Säuberungen zu verbreitern.

    Heinemann: Gleichwohl haben Sie die georgischen Diplomaten aus Moskau zurückgerufen.

    Saakaschwili: Was erwarten Sie denn von uns. Die kommen auf unser Gebiet, säubern ethnisch einen kleinen Teil mitten in Georgien und eröffnen in zwei anderen Landesteilen Botschaften. Erwarten Sie von uns, dass wir deren Vertretung hier in Tiflis geöffnet halten sollen? Was die machen ist jenseits aller internationalen Verhaltensregeln.

    Ich habe internationales Recht studiert. Ich hätte nie geglaubt, einmal Zeuge einer Lage zu werden, in der das internationale Recht so lächerlich gemacht wird. Wir haben darüber in alten Lehrbüchern gelesen, aber ich hätte niemals geglaubt, dass die Geschichte in so schrecklicher Art wiederkehrt.

    Heinemann: Herr Präsident Saakaschwili, mit Blick auf die Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen, wie kann auf Russland Druck ausgeübt werden?

    Saakaschwili: In diesem wichtigen Punkt verkennen manche ein bisschen die Lage. Ich glaube, Russland ist wesentlich abhängiger von Europa, als Europa von Russland. Russland ist noch immer eine sehr unterentwickelte Gesellschaft. Die Soldaten, die hier herkamen, waren hungrig und völlig mittellos. Sie waren überrascht: Auch wenn Georgien kein besonders reiches Land ist, so sieht es für die doch hier europäisch aus. In gewisser Hinsicht reagierten sie so, wie die sowjetische Armee, als sie im Zweiten Weltkrieg nach West-Europa und Deutschland kam. Diese Soldaten waren damals so beeindruckt, dass Stalin nach ihrer Rückkehr eine neue Welle der Unterdrückung auslösen musste, um sie wieder auf den Boden zurückzuholen.

    Das meiste - oder fast das gesamte - russische Geld befindet sich im Westen. Russland ist der Club der hundert Milliardäre. Die schicken ihre Kinder zum Studium ins Ausland. Ihre Frauen bekommen ihre Kinder im Ausland. Sie besuchen die Urlaubsgebiete, laufen im Winter in Deutschland Ski. Ich habe selbst viele gesehen, ich war vor zwei Jahren in Garmisch-Partenkirchen, die Stadt war voller reicher Russen. Sie reisen auch an die Cote d'Azur. Diese Leute hängen psychologisch stark vom Westen ab. Die denken, Europa wird jetzt ein bisschen Lärm machen, und nach einer Weile ist alles wieder vergessen. Das ist die tiefe Überzeugung von Putin und seiner Umgebung. Aber hier muss Europa zeigen, dass es sich nicht fürchtet, dass im Grunde ein europäisches Land angegriffen wurde und dass sich die schlechten Beispiele aus der Vergangenheit nicht wiederholen werden.

    Heinemann: Welche konkreten Schritte erwarten Sie von der Europäischen Union?

    Saakaschwili: Zweierlei: Wir benötigen eine starke Unterstützung beim Wiederaufbau meines Landes, und damit meine ich jetzt nicht die Verteilung humanitärer Hilfsgüter. Wir benötigen die Zusage, dass Europa und Amerika zu Georgien stehen und dass Investitionen nicht woanders getätigt werden, sondern dass hier mehr investiert wird. Wir benötigen einen neuen Marshall-Plan für Georgien, mit dem die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Dann wird diese von selbst laufen. Wir wollen nicht jahrelang versorgt werden.

    Das Zweite wäre eine internationale Friedenstruppe, aber nicht, um damit neue Grenzen festzulegen. Sie müssten zunächst vor weiteren russischen Aggressionen in anderen Teilen Georgiens abschrecken. Und dann müssten es die Peacekeeper ermöglichen, dass Hunderttausende Menschen, die aus Abchasien und Südossetien hinausgeworfen wurden, in Sicherheit wieder zurückkehren können. Russland beobachtet die europäischen Reaktionen sehr aufmerksam. Sie rechnen damit, dass Europa sich nach einer Weile beruhigen wird. Sie werden versuchen, das zu manipulieren, Europa zu spalten, damit das Thema bald keines mehr ist. Das sollte aber nicht passieren, es sollte sich vielmehr in die richtige Richtung entwickeln. Und das sollte man anpacken.

    Heinemann: Es wurde berichtet, die Menschen in Abchasien und Südossetien wollten nicht länger Georgier sein.

    Saakaschwili: Diese Behauptung ist einfach lächerlich. Wer sind die Menschen in Abchasien und Südossetien? 85 Prozent der abchasischen Bevölkerung mussten gehen. Dies ist ein entvölkertes Gebiet. Zwei Drittel von Südossetien wurde bis zur russischen Invasion von der georgischen Zentralregierung kontrolliert. Dort lebten Osseten, Georgier und andere ethnische Gruppen. Und die wurden hinausgeworfen und werden es auch jetzt noch, weil sie zu Georgien gehören möchten. Jeder, der diese Frage stellt, ist naiv und weiß nicht, wie dort die Lage ist. Nachdem Stalin alle Finnen aus Karelien und alle Deutschen aus Kaliningrad, aus Königsberg, ausgewiesen hatte, konnte er sagen, hier in Deutschland möchte niemand mehr leben. Natürlich nicht, weil alle weg waren, die Finnen ebenso. Dasselbe versuchen sie jetzt. Nur wir leben heute nicht im Jahr 1939 oder 1945, sondern 2008.

    Heinemann: Herr Präsident, was ist genau am 7. August geschehen? Die russische Seite wirft Georgien vor, Truppen nach Südossetien entsandt zu haben ...

    Saakaschwili: Erstens: Es gab immer georgische Truppen in Südossetien, wir kontrollierten immer zwei Drittel des Gebietes. Das ist also vollkommener Blödsinn. Außerdem: Es begann nicht am 7. August, sondern vor vielen Jahren. Das erste Dekret in Putins Amtszeit sah vor, dass russische Pässe an die Menschen in den russisch kontrollierten Gebieten Südossetiens und Abchasiens ausgegeben wurden. Im vergangenen Jahr haben die Russen die militärische Infrastruktur ausgebaut. Russische Generale saßen in Zchinwali und behaupteten, sie bildeten die Regierung. Am 7. August fuhren massenhaft russische Panzer durch den Roki-Tunnel. Nicht zum ersten Mal, das gab es schon Tage und Monate vorher. Die Georgier waren dort, um die Menschen, die unter georgischer Jurisdiktion lebten, zu schützen. Die Russen behaupten, die Georgier hätten 2000 Menschen getötet. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 47 Menschen. Wir sind für ein internationales Komitee, das untersucht, wie dieser Konflikt ausgebrochen ist. Ich habe seit der ersten Minute Zugang zum Konfliktgebiet für die Europäische Union und für Nicht-Regierungsorganisationen gefordert. Wir haben die Welt monatelang vor einem russischen Angriff gewarnt.

    Heinemann: Herr Präsident Saakaschwili, rechnen Sie damit, dass durch den Konflikt Georgiens Aufnahme in die NATO beschleunigt oder verzögert wird?

    Saakaschwili: Der NATO-Generalsekretär hat gesagt, es gebe gegenwärtig kein Business as usual. Auch Kanzlerin Merkel hat die Sache klar verstanden. Wir müssen dies nun beschleunigen, und ich erwarte, dass Deutschland das versteht.

    Heinemann: Letzte Frage: Wie stellen Sie sich die künftigen Beziehungen zwischen Georgien und Russland vor?

    Saakaschwili: Wir hassen niemanden, und gewiss nicht die Russen. Langfristig werden wir mit den Russen keine Probleme haben. Das gegenwärtige Problem besteht darin, dass wir es nicht einfach nur mit Russen zu tun haben, sondern mit ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern, die von der gesamten westlichen Welt Revanche verlangen für eine - wie sie glauben - jahrelange Erniedrigung. Diese Leute hassen Demokratie und Freiheit - alles was frei und demokratisch ist. Georgien wurde ausgewählt, weil es verwundbar ist und nicht unter dem Schirm der NATO steht.