Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
"Dieses Gehirn vermag sein Erstaunen darüber kaum verbergen, dass man deutschen Lesern offenbar jeden Bären zwischen zwei Sachbuchdeckeln aufbinden kann, ohne befürchten zu müssen, geteert und gefedert zu werden oder einer der anderen Sanktionen ausgesetzt zu sein, die traditionell Nepper, Schlepper, Bauernfänger mit Wundertinkturen und Allheilmitteln auf Jahrmärkten drohen."
Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch
Diesmal mit Büchern über die Kunst, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, und das Ideal der Einfachheit, Schilderungen vom Schulbesuch in Pakistan und von Reisen um die Welt, historischen Nummernrevuen, Warnungen vor Stolperstricken des Denkens - sowie intellektuellen Offenbarungseiden von australischen Krankenschwestern und deutschen Schauspielerinnen.
In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen satte 4342 Gramm auf die Waage, zusammen glatte 4050 Seiten.
Platz 10 - Rüdiger Safranski: "Goethe: Kunstwerk des Leben", Hanser Verlag, 752 Seiten, Preis: 27,90 Euro
"Was ist das Vorbildhafte an Goethes Lebensführung? Was kann man, neudeutsch gesprochen, von seiner einzigartig geglückten "Work-Life-Balance" lernen? Rüdiger Safranksi beherrscht es in dieser echten Sternstunde der deutschen Biografik meisterhaft, Goethes Charakter, ja, sein Wesen hervortreten zu lassen. Dazu gehört zentral Goethes lebenslanger Versuch, den Tod auszutricksen: Wer nur bis zu seinem Ende rastlos tätig sei, so Goethe, dem sei die Natur verpflichtet, eine andere Form des Dasein anzuweisen. Probieren wir's aus."
Platz 9 - Bronnie Ware: "Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen", Deutsch von Wibke Kuhn, Ansata, 352 Seiten, Preis: 19,99 Euro
"Dieses Buch mit Geheimnissen für Glück und Wohlergehen, die eine australische Krankenschwester angeblich Sterbenskranken abgelauscht haben will, kommt in meinen Augen aktiver Sterbehilfe gefährlich nahe: Niemand, der einen solchen Stuss lesen muss, wird sich übertrieben ans Leben klammern."
Platz 8 - Ruth Maria Kubitschek: "Anmutig älter werden", Nymphenburger, 160 Seiten, Preis: 19,99 Euro
"Dass einen im Esoterikbereich auch mal der schiere Irrsinn anweht, kann schwerlich überraschen. Das einzige Mal, dass ich beim Lesen dieser Lebenshilfefibel einer inzwischen 82-jährigen Schauspielerin und Lichtprophetin keine entsetzte Grimasse schnitt, war beim Versuch, die von Frau Kubitschek empfohlene tägliche Gesichtsmassage durchzuführen."
Ich beginne mit dem Gesichtsmuskel vor den Ohren. Vor den Ohren ist rechts und links eine kleine Einbuchtung, darunter liegt ein wichtiger Muskel für das Gesicht. Mit dem Mittelfinger aktiviere ich mit einem leichten Druck diesen Punkt. Dann fasse ich mit den Händen hinter meine Ohren und erfühle mehrere kleine Einbuchtungen, in die ich meine Finger mit leichtem Druck lege und auch diese Muskeln aktiviere. Im Anschluss lege ich den rechten Arm angewinkelt, die Finger von oben kommend, an den Haaransatz oben, an die Mitte der Stirn, und die linke Hand kommt an das Kinn. Das Kinn ziehe ich nach unten, die Stirn ziehe ich mit der Hand entgegengesetzt nach oben. Nicht vergessen: zwanzig Mal.
Platz 7 - Meike Winnemuth: "Das große Los", Knaus, 336 Seiten, Preis: 19,99 Euro
"Jetzt will ich mal was von der Welt sehen, denkt die Journalistin Maike Winnemuth, nachdem sie mit einer halben Million Euro Gewinn eine Quizshow verlässt. Also auf nach Buenos Aires und Shanghai, Honolulu, Sydney, Mumbai und Havanna! Entstanden ist so eine Schilderung ihrer Grand Tour durch zwölf Städte binnen eines Jahres, ein unprätentiöser Expeditionsbericht ins eigene Ich – und eine schöne Feier der Vielfalt unserer Welt."
Platz 6 - Iris Radisch: "Camus – das Ideal der Einfachheit", Rowohlt, 352 Seiten, Preis: 19,95 Euro
"1951 hält Albert Camus, der in diesen Tagen 100. Geburtstag hatte, in seinem Tagebuch seine zehn Lieblingswörter fest:"
Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.
"Jedes dieser Wörter liefert Iris Radisch eine Kapitelüberschrift ihrer eigenwilligen und lesenswerten Biografie eines Schriftstellers, der die Einfachheit verehrte, ohne darüber einfältig zu werden."
Platz 5 - Rolf Dobelli: "Die Kunst das klaren Denkens", Hanser, 256 Seiten, Preis: 14,90 Euro
"Warum überall dort, wo der Einzelne den Nutzen und die Allgemeinheit die Kosten hat, die "Tragik der Allmende" lauert, wieso exponentielles Wachstum immer wieder unser Denken übersteigt und weshalb "Framing" beim Krimischreiben hilft: Dobellis Büchlein über die Fallstricke in unserem Denken ist augenöffnend und unterhaltend."
Platz 4 - Malala Yousafzai und Christina Lamb: "Ich bin Malala", Deutsch von Elisabeth Liebl und Sabine und Margarete Längsfeld, Droemer, 389 Seiten, Preis: 19,99 Euro
"Am 9. Oktober 2012 feuert in der pakistanischen Stadt Mingora im Swat-Tal ein Taliban drei Kugeln auf die damals 15-jährige Malala Yousafzai ab, weil die junge Frau ihr Recht auf Bildung und Schulbesuch einfordert und wahrnimmt. In diesem nicht immer vor Kitsch und groben Vereinfachungen gefeiten Buch, das sie zusammen mit einer britischen Auslandskorrespondentin geschrieben hat, schildert die Tochter einer Analphabetin und eines Lehrers eindringlich, was Menschen aus Dummheit, Zynismus und religiöser Verblendung einander auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts antun. Politisch wichtig, literarisch unerheblich."
Platz 3 - Florian Illies: "1913", S. Fischer, 320 Seiten, Preis: 19,99 Euro
"1913 schreibt Robert Musil in Wien am "Mann ohne Eigenschaften", in Paris wetteifern Picasso und Bracque miteinander, Franz Kafka erhält in Prag einen Brief vom Verleger Kurt Wolff, in dem sich dieser nach einer Novelle mit dem Titel "Die Wanze" erkundigt, von der ihm Werfel so nett erzählt habe. Und in New York erscheint die erste Ausgabe der Zeitschrift "Vanity Fair". Illies schildert in seinem historischen Kaleidoskop 1913 als Anfang, nicht als Ende. Das größte Verdienst seines kurzweiligen Buchs ist es, das Jahr 1913 aus seiner Schattenexistenz als bloßer Vorhof zum großen Verderben des Ersten Weltkriegs zu erlösen."
Platz 2 - Guido M. Kretschmer: "Anziehungskraft", Edel Books, 237 Seiten, 17,95 Euro
"Ratgeber, wie Frauen sich anziehen sollen, strukturiert in eine kleine Typologie von Körpertypen vom "sympathischen Brett" über "Die kleine Elfe" bis zum "Kugelfisch", das Ganze verpackt in Anekdoten aus dem Leben eines Modemachers. Leider nähert sich Kretschmer seinem Thema unterreflektiert und in forciert tuntigem Anwanzton:"
Wir Frauen müssen doch zusammenhalten – egal, wie kurz oder lang unsere Beine sind.
"Guido Kretschmer hat ein Lieblingswort: textil."
Der große Abend sollte, auch textil gesehen, ein gelungener werden."
"Schreibt Kretschmer etwa. Oder:"
Heute ist textil gesehen jeden Tag Sonntag.
"Literarisch gesehen ist dieses Buch Karfreitag."
Platz 1 - Christopher Clark: "Die Schlafwandler", Deutsch von Norbert Juraschitz, DVA, 896 Seiten, Preis: 39,99 Euro
"Wer hat eigentlich Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Mit dieser simplen Frage bringt man jeden Zeitgeschichtler auch heute noch ins Schwitzen. Christopher Clarks fulminante Darstellung der Julikrise 1914 nimmt den Ereignissen nichts von ihrer Komplexität, zeigt gleichermaßen Motive wie Handlungsspielräume der Akteure und argumentiert gegen die weithin akzeptierte These Fritz Fischers aus den 60er-Jahren von der Hauptschuld des Deutschen Reichs am Kriegsausbruch. Clarks Buch ist die optimale Einführung fürs Centenarium des Kriegsausbruchs – und eine Erinnerung an die Gefährdetheit jedes Friedens."