Dienstag, 23. April 2024

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Sammelband "Krank geschrieben"
Die Rhetorik der Krankheit

Romane machen krank - und zwar vor allem weibliche Leser: So die verbreitete medizinische und pädagogische These im frühen 19. Jahrhundert. Davon handelt ein Beitrag im Sammelband "Krank geschrieben", in dem die Herausgeber Texte von Autoren zusammengefasst haben, die ihren Protagonisten in bestimmten historischen Kontexten Krankheit zuschreiben.

Von Heidemarie Schumacher | 09.03.2016
    Ein Stethoskop und eine Brille liegen auf einem Arztkittel.
    Literatur und Krankheit werden seit jeher aufeinander bezogen. Mit dem Aufkommen des Romans war die Literatur immer daran interessiert, von Krankheit zu erzählen. (dpa / picture-alliance / Arno Burgi)
    Im Titel "Krank geschrieben" scheint auf, was der Sammelband zu zeigen versucht: Es sind Autoren und Autorinnen in bestimmten historischen, damit auch medizinhistorischen Kontexten, die ihren Protagonisten Krankheit zuschreiben.
    Literatur schreibe mit am Verhältnis von Krankheit und Gesundheit, wobei sich, so der Schweizer Germanist Rudolf Käser im einleitenden Beitrag, die Untersuchung der zugeschriebenen Symptome nicht auf den Rahmen der Hochliteratur beschränken könne. Im kulturellen Kontext müssen notwendig auch Populärmedien oder die Metaphorik der Medizin einbezogen werden. Hervorgegangen aus dem interdisziplinären Züricher Arbeitskreis "Literature-Medicine-Gender" versammelt der Band 17 Beiträge, von denen einige hier vorgestellt werden sollen.
    In drei Aufsätzen werden Frauen als Objekte ihrer Umwelt respektive der Medizin, damit als Pathologisierte thematisiert. In Susanne Balmers Beitrag zu literarischen Weiblichkeitsentwürfen im 19. Jahrhundert wird anhand von Romanen von Therese Huber, Johanna Schopenhauer, Gabriele Reuter und Hedwig Dohm gezeigt, dass Krankheitsschübe der Protagonistinnen wie Bluthusten, Krämpfe, Hysterie und Melancholie von den frühen Autorinnen jeweils an verhinderte Entwicklungsmöglichkeiten der Heldinnen gebunden werden.
    Von der gesundheitsgefährdenden Wirkung von Romanen
    Im Subtext findet sich die Kritik am Sozialsystem und an der zeitgenössischen Medizin, die der Frau einen Sonderstatus in Bezug auf Krankheitsanfälligkeit zuschreibt und von einem eigenständigen gesellschaftlichen Leben ausschließt. Rahel Leibachers Beitrag zeigt, wie im frühen 19. Jahrhundert dem Lesen, speziell dem Lesen von Romanen, eine gesundheitsgefährdende Wirkung nachgesagt wurde, so z.B. durch den Göttinger Arzt Friedrich Benjamin Osiander über die Entwicklungskrankheiten in den "Bluethejahren des weiblichen Geschlechts":
    "Nichts wirkt in den Jahren der lebhaftesten Einbildungskraft auf Kopf und Herz eines jungen Frauenzimmers so nachtheilig, als die an sich verderbliche Romanlectuere (…) schluepfrige Romane erwecken bei ihnen die noch schlafenden Zeugungstriebe ..."
    Romane machen krank, so die verbreitete medizinische und pädagogische These, weil sie den Realitätsbezug schwächen, sexuelles Begehren wecken und darüber hinaus nicht selten zum Lesen als Sucht führen. Wieder sind es Mädchen und Frauen, die als anfällig für die Suchterkrankung klassifiziert werden, während den Männern aufgrund ihrer Verankerung in der Wirklichkeit und ihrer kräftigeren Konstitution das Lesen weniger oder gar keinen Schaden zufüge.
    Virginia Pintos Beitrag kann anhand der gewählten Erzählperspektiven bei Elfriede Jelinek oder Gabriele Reuter zeigen, dass die Erzählinstanz (so z.B. in Jelineks Roman "Die Klavierspielerin") die Heldin so "unausweichlich krank wie nur möglich darstellt". Beide Autorinnen machten ihre Heldinnen doppelt zum Opfer: Einmal zum Opfer ihres Umfelds, zum anderen zum Opfer der Erzählinstanz, die sie abschätzig und unbarmherzig pathologisiere. Es ist nicht der Text, sondern nur der Leser, der sich der Heldinnen erbarmen kann.
    Frauen als Pathologisierte
    Frauen als Subjekte im Medizinsystem rekonstruiert der Beitrag "Ärztinnen in der populären Literatur" von Gabriela Schenk anhand von Plotstereotypen in Romanen zwischen 1884 und 1957. Die Texte konnotieren die Aspirantinnen des Arztberufs mit gescheiterten Prüfungen, mit einer Reduktion auf den Pflegeaspekt oder mit der Arbeit als Assistentin von Vater oder Ehemann, womit das Scheitern ihres eigentlichen Berufswunschs den Frauen als Überlebensstrategie empfohlen wird, damit sie nicht als ausgegrenztes Mannweib enden.
    Eine neue Sicht auf Jakob Michael Reinhold Lenz' Komödie "Der Hofmeister" ist dem Beitrag von Rudolf Käser zu entnehmen. Die Selbstkastration des Hofmeisters wird nicht länger - wie noch von Walter Jens - als Selbstbestrafung aus Schuldgefühl gegenüber dem verlassenen, inzwischen zur Mutter gewordenen Gustchen, sondern als Vorbereitung auf die Kastratenehe gelesen.
    "Im folgenden soll die These vertreten werden, dass Läuffer seine Zeugungsunfähigkeit erkennt, diese (…) stillschweigend als Folge der Onanie auffasst und aufgrund einer medizinischen Selbstdiagnose als therapeutische und präventive Maßnahme an sich vollzieht. Die Erhärtung dieser These setzte eine Lektüre voraus, die Lenz' literarischen Text mit Texten des damaligen medizinischen Onaniediskurs in Verbindung bringt."
    Käser verweist auf textuelle Bezüge im Drama, die den Hofmeister als Vater von Gustchens Kind ausschließen sowie auf die seltsame Konstruktion einer neuen Liebesbeziehung nacht der Selbstkastration. Mit diesem Akt bereitet Läuffer die Kastratenehe mit Lise vor. Die Kastratenehe war, wie Käser zeigt, im historischen Kontext der Zeit als kirchenjuristisches Thema virulent und kann in engem Zusammenhang mit dem Lenzschen Schaffen gesehen werden.
    Eine Analyse der literarischen Behandlung von Typhoid Mary legt Dave Schläpfer vor. Typhoid Mary war eine historische Gestalt: die Irin Mary Mallon, die 1883 als Vierzehnjährige in die USA immigrierte, und als - selbst gesunde - Überträgerin von Typhus zahlreiche Menschen ansteckte, indem sie den Beruf der Köchin ausübte. Sie wurde – im Gegensatz zu anderen Überträgern - auf einer Insel im East River zwangsisoliert, konnte untertauchen und verbreitete die Krankheit weiterhin als Köchin, um erneut kaserniert zu werden.
    Die Rhetorik der Seuche
    Der Schweizer Autor Jürg Federspiel hat in seiner Erzählung "Die Ballade von typhoid Mary" den Fall der "Seuchenträgerin" aus der Sicht eines sterbenden Arztes bearbeitet und Schläpfer zeigt die Brisanz auf, die der literarischen Sexualisierung der Heldin mit den mit AIDS verbundenen Ansteckungsängsten zukam. Das Buch erscheint im Jahr 1982, als sich der AIDS-Diskurs gerade entfaltet.
    Die Rhetorik der Seuche im Hinblick auf AIDS wird eindrucksvoll im Beitrag von Marco Pulver dargestellt. Pressebeispiele zeigen die mit Seuche einhergehende diffuse Bedrohungssemantik, wenn die Bild-Zeitung 1986 titelt "Vorsicht, Geldscheine mit AIDS verseucht" oder Der Spiegel 1983 unter ein Foto aus einem Schwulenclub die Bildunterschrift: "West-Berliner Homo-Szene: Durchseuchungsgrad erhöht" setzt.
    Schwule Männer wurden, so Pulver, schon lange vor dem Beginn des Redens über eine neue Seuche als eigenartige und gefährliche Spezies mystifiziert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass mit der Schaffung einer Rhetorik der Homosexualität seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Bedingungen für den Anschluss an einen Seuchendiskurs gegeben waren ...
    "….insofern diese Rhetorik der Homosexualität insbesondere Aspekte von Krankheit, Kriminalität, Monstrosität und Brutalität, ja sogar kulturellen Verfalls enthält und vor allem eben auch das Motiv der Tarnung, das Verstecken der wahren Natur, mit beinhaltet. Damit wurde angeschlossen an historische Legenden, die sich um die Figur des Seuchenträgers ranken, die nun wiederum für die Diskursivierung epidemischer Krankheit eine gewichtige Rolle spielt."
    Mit "Krank geschrieben" haben die Herausgeber einen Band vorgelegt, der nicht nur für Literaturwissenschaftler von Interesse ist. Seine Beiträge können den Blick schärfen für die kulturell determinierten Oppositionen von krank oder verseucht versus gesund sowie weiblich versus männlich in Literatur, Medizin und Psychiatrie.

    Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.): "Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin."
    Transcript Verlag Bielefeld, 425 Seiten, 32,99 Euro.