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Schaubühne Berlin
Milo Raus verschluckte Lenin-Botschaft

Theaterregisseur Milo Rau widmet sich in seiner neuen Produktion der Figur Lenins. Das Ensemble-Stück begleitet die letzten Tage seines von Schlaganfällen gezeichneten Endes auf seinem Landsitz - mit einer starken Hauptdarstellerin als Lenin, aber einer schwachen Botschaft.

Von Eberhard Spreng | 20.10.2017
    Nina Kunzendorf, Veronika Bachfischer, Ursina Lardi, Felix Römer, Lukas Turtur
    Nina Kunzendorf, Veronika Bachfischer, Ursina Lardi, Felix Römer, Lukas Turtur in Milo Raus "Lenin" an der Berliner Schaubühne. (Foto: Schaubühne Berlin / Thomas Aurin)
    "Also, irgendwie beneide ich die Leute aus dem Westen, dass Lenin und Trotzki für die immer noch Ikonen sein können. Da denke ich dann immer: Ja schön, aber ich habe da ja 23 Jahre lang gelebt, im real existierenden Sozialismus."
    Ein Vorspruch noch vor dem Prolog: Kai Bartholomäus Schulze sitzt mit zwei Schauspielkollegen vor einem Schminktisch rechts der Bühne und wird für den Auftritt vorbereitet. Den Anzug von Lenins Leibarzt Fjodor Alexandrowitsch Guetier hat er schon angezogen, während er sich eine für diese, im Ensemble entwickelte Produktion zentrale Frage stellt: Aus welcher Erinnerungskultur heraus denken wir eigentlich an Lenin zurück und an die Oktoberrevolution? Die Antwort gibt insgeheim Felix Römer, als Trotzki, der nun wie ein Moderator all die Figuren vorstellt, die Milo Rau in Lenins Landhaus nahe Moskau versammelt hat, um die letzten Tage seines von Schlaganfällen gezeichneten Endes zu begleiten: Es sind seine Frau, seine Köchin, seine Sekretärin, ein Soldat aus der Leibwache, aber auch ein Volkskommissar für das Bildungswesen, einige andere und vor allem: Stalin.
    Nah an der Ästhetik einer Katie Mitchell
    Zwei Kameraleute mit Steadicams werden während der gesamten zweistündigen Aufführungen sehr elegant und sehr filmisch das Geschehen in Küche, Salon, Bad und Schlafzimmer des Landhauses übertragen. Wieder einmal ein Making-Of, und diesmal sehr nah an der Ästhetik einer Katie Mitchell.
    Die kleinen Spielräume ziehen immer wieder auf einer sanft kreisenden Drehbühne vor den Augen der Zuschauer vorüber und sie sind geradezu sorgfältig und opulent historisierend möbliert und erlauben mit ihren zahlreichen Hänge- und Stehlampen interessante Bildgestaltungen. Unentwegt von Arvo Pärts "Fratres" melancholisch unterlegt, ist von Hungersnot, von Folter, von einem Scheitern der Revolution die Rede und von der Vision eines künftigen, eines für den gelingenden Sozialismus geeigneteren Menschen.
    "Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial betrachten. Denn wir sind Fabrikate der alten Welt, die die neue nicht begreifen können. Die zukünftigen Generationen werden mit Amüsement, aber auch mit Verachtung auf uns zurückblicken."
    Bittersüßer Schmelz einer Untergangselegie
    So als wolle Milo Rau dem selbstgeschaffenen, bittersüßen Schmelz seiner Untergangselegie entkommen, lässt er eine Stunde lang Ursina Lardi als Ursina Lardi mit ihren langen blonden Haaren den Lenin verkörpern und somit einen mutwilligen Verfremdungseffekt exekutieren. Das funktioniert kaum, erst nach einer Stunde wird sie sorgfältig umgeschminkt, das Haar verborgen hinter einer Theaterglatze, das Gesicht ergraut. Ein letztes Mal bäumt sich hier der Revolutionär zu einer Landhausterrassenrede auf.
    "Wir sagen: Wer arbeitet, hat das Recht, die Güter des Lebens zu genießen. Den Müßiggängern und Parasiten, die dem werktätigen Volke das Blut aussaugen, müssen diese Güter entzogen werden. Sie sollen Hungers sterben."
    Die Rede unterbricht eine neue Attacke, Lenin sinkt zu Boden, erbricht sich und erlebt das Ende der Aufführung als Wrack, bibbernd, stammelnd, keuchend. Was die Lardi nun zeigt, sind große spielerische Momente und ergreifende Zeugnisse des Verfalls.
    Lenins Agonie steht für das Scheitern der Revolution 1917
    Natürlich ist im grundlegenden Setting dieser Produktion irgendwie eine Metapher angelegt: Lenins Agonie, der Verfall seines von mehreren Schlaganfällen zerstörten Gehirns steht für das welthistorische Scheitern der russischen Revolution von 1917. Zusätzlich deuten kleine Dialogsplitter in eine ähnliche Richtung: Wenn sie nicht von den Völkern der Welt, zuförderst dem deutschen fortgesetzt würde, wäre die Revolution der Sowjets einen Scheißdreck wert, sagt hier Lardis aufbrausender Lenin einem Stalin, der längst andere Pläne in Hinterkopf hat.
    Aber solche Momente, in denen Lenins Argumentation bis ins Heute hineinstrahlt, sind viel zu selten. Das Politische will sich nicht so recht aus dem Privaten lösen, der private Körper nicht zum Schauplatz der Weltgeschichte werden, das beiläufige Gespräch in Lenins Salons bekommt nicht den gefährlichen historischen Unterton einer fatalen historischen Verheißung. So ist die Bilanz eindeutig zweischneidig: schönes Schauspielertheater mit verschluckter Botschaft.