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Schmaler Band mit ungeheurer Wucht

Sein opulentes, 1300 Seiten umfassendes "Buch der Erinnerung", 1986 in Ungarn und 1991 in Deutschland erschienen, war eine literarische Sensation. Péter Nádas' erstmals übersetztes Debüt "Die Bibel" mit weniger als 100 Seiten zeigt nun seine eminente literarische Fähigkeiten von einer faszinierend neuen Seite.

Von Jörg Plath |
    Mit ungeheurer Wucht kommt dieses schmale Buch daher. Gleich auf den ersten Seiten ereignet sich ein brutaler Mord, später wird, unabhängig davon, leichthin mit Verhaftung gedroht und ein Schauprozess inszeniert. Das Mordopfer ist ein Hund, den der Erzähler, ein Junge, mit der Hacke erschlägt, weil das liebe Tier sich im Spiel vergessen und mit den Zähnen seine Wade gezwickt hatte. Voller Angst und Rachegefühle schlägt der Junge zu. Erst Ekel über das blutüberströmte Fell lässt ihn innehalten. Als der Hund später tot gefunden wird, weint er mit "tragischer Miene", wehrt aber die Zärtlichkeiten der Mutter ab: Für Tröstung, befindet er kühl, sei keine Veranlassung.

    1962, mit 19 oder 20 Jahren, schrieb Péter Nádas die Erzählung "Die Bibel", und dass sein Debüt jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, freut den heute 67-Jährigen, der mit Imre Kertész, Péter Esterhazy und László Krasznahorkai zu den Schriftstellerstars Ungarns gehört.
    Aber es freut ihn nicht nur.

    "Ich habe mich sehr gefreut. Das ist eine andere Frage, dass es mir bis heute schwer tut mit der Grausamkeit, mit der Brutalität dieser Erzählung mich zu konfrontieren. Das ist schmerzhaft, und das ist Schmerz meines Lebens.""Die Bibel" erzählt von einem Heranwachsenden, der in einem Budapester Villenviertel aufwächst. Die Eltern sind oft abwesend, die Großeltern mit sich selbst beschäftigt, und so streunt Dojdilein allein durch den großen Garten des einst prächtigen, nun etwas heruntergekommenen Landhauses. Er spielt mit dem Hund und versucht nach dessen Tod, sich dem Nachbarmädchen zu nähern. Deren Name Eva erregt ihn, doch das Mädchen erweist sich als störrisch, sie droht ihm gar die Verhaftung durch ihren Vater an. Mehr Erfolg hat der Junge bei der neuen, vom Land kommenden Haushaltshilfe Szidike. Er sieht ihr heimlich beim Baden zu und quält die hilflose Gläubige, indem er eine Bibel malträtiert.

    Schließlich verdächtigt seine Großmutter, die einst selbst Dienstmädchen war und Szidikes Konkurrenz fürchtet, die junge Frau des Wäschediebstahls und wirft sie aus dem Haus. Szidike kehrt aufs Land zurück, in ein äußerst ärmliches Leben, wie der Junge und die Mutter bei einem von Schuldgefühlen diktierten Abschiedsbesuch bei ihrem Dienstmädchen bemerken.
    ""Diese Erzählung basiert auf einer Roman von Dezsö Kosztolányi, "Édes Anna", das ist "Anna, mein Liebster", das ist auch eine Geschichte eines Dienstmädchens unter ganz anderen Umständen, und das spielt in den 20er-Jahren ab, bei einer herrschaftlichen Familie, wie ein Dienstmädchen kaputt gemacht worden ist, geschwängert und erniedrigt und so fort, eine wunderbare, vielleicht die schönste Geschichte, die Kosztolanyi geschrieben hat, diese Konfrontation zwischen Herrscher und Beherrschten und Magd und Herr."

    Aus der Erniedrigung des Dienstmädchens in Dezsö Kosztolányis "Anna Édes" wird bei Nádas die Erniedrigung des Menschen im Sozialismus. Einmal nur fällt ein Name, der den Hundemord als Symbol erkennbar werden und die Drohung des Nachbarmädchens Evas mit einer Verhaftung wider alle Vernunft durchaus möglich erscheinen lässt – Rákosi. Mit dem Namen des stalinistischen KP-Generalsekretärs, der im Aufstand 1956 abgesetzt wurde, dessen Regime aber Anfang der 60er-Jahre, als "Die Bibel" erscheint, triumphiert hat, liest sich auch das Verhör der vermeintlichen Wäschediebin und ihre erzwungene Abreise als Schauprozess und Verbannung.

    Vom Schrecken dieser Jahre erzählt Nádas in äußerst gedrängter Form.

    "In Romanen muss man immer sehr ausgeglichen bleiben, so ausgeglichen, wie der Mensch eigentlich nicht ist. In Erzählungen kann man etwas spitziger ausdrücken, etwas kräftiger, etwas hasserfüllter, etwas feiner. Aber ich kann in meinem Roman diese unglaublichen Feinheiten, was ich in 'Geschichte der Fotografie' gemacht, diese Übertreibungen nicht erlauben, obwohl sie mir sehr wichtig sind, weil diese Übertreibungen enthalten die Detailsreichtum des Schreibens und Denkens und Fühlens.""

    Jedes der kurzen Kapitel in "Die Bibel" handelt von einem Konflikt, was die Erzählung dramatisch wirken lässt. Die heftigen Affekte in ihr wie Angst, Wut, Rache kommen – auch in der passend kargen Übersetzung von Ruth Futaky – in aller Kürze zur Sprache, so, als ob diese Affekte das Licht scheuten.

    "Das Leben war dramatisch und hatte eine Art Dramatik, und diese Dramatik musste vermittelt werden, also musste eine Form finden. Alles ist sehr direkt, sofort am Anfang diese brutale Szene mit dem Hund, und das ist gerade symbolisch, das ist Anfang der 60er-Jahre, nach der Niederschlagung der Oktoberrevolution sitzen die Menschen noch im Gefängnis und werden noch immer hingerichtet, also das Leben war dramatisch, und ich habe sozusagen die begangenen und nicht begangenen Sünden meiner Eltern auf meine Schultern genommen in dieser Erzählung. Auf meine jugendliche Schultern genommen, und ich wollte etwas von aus dem Leben der neuen Klasse zeigen, und diese krasse Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Zustand des Landes und diese wurzellose neue Klasse, die eigentlich aus dem Nichts gekommen ist, in Lebensumstände, die auch denen ganz fremd waren.""

    Die Angehörigen der "wurzellosen neuen Klasse" sind die Kommunisten, die in die Villen des ermordeten, vertriebenen oder enteigneten Bürgertums auf dem Hügel über der Stadt eingezogen sind und mit den zu dieser Lebensform gehörenden Dienstmädchen ihre Schwierigkeiten haben. Nádas' Eltern gehörten zur neuen Klasse, und sie hatten so, wie es in der Erzählung geschildert wird, unter den faschistischen Pfeilkreuzlern Widerstand geleistet: Der Vater druckte eingemauert in einem Keller Flugblätter, die die Mutter abholte und verteilte. Als Tarnung diente ihr ein großes Kreuz. Aus ihm ist in der Erzählung des Sohnes Péter, der zu diesem Zeitpunkt bereits Vollwaise ist, eine Bibel geworden.

    1965 wird das Debüt in einer Zeitschrift gedruckt, zwei Jahre später als Buch zusammen mit einer anderen Erzählung, die Nádas nicht wiederaufgelegt sehen möchte. Es ist eine überaus kraftvolle Erzählung, und sie vermochte das Leben des Autors zu ändern. Denn "Die Bibel" wurde verboten.

    "Ein Filmregisseur wollte sofort einen Film daraus machen, und das war verboten, und ich bin auf eine schwarze Liste geraten, die mich bis zur Wende verfolgte.""

    Als Fotoreporter, dann als Journalist gerät Nádas immer wieder in Konflikt mit der Zensur. Nach der Niederschlagung des Prager Aufstands 1968 gibt er seinen Beruf auf, zieht aufs Land, schreibt Theaterstücke und Essays und arbeitet am Theater. 1969 erscheint noch eine Sammlung von Erzählungen, 1977, nach fünfjährigen Auseinandersetzungen mit der Zensur, der Band "Ende eines Familienromans." Dann arbeitete Nádas fast zwölf Jahre, bis 1985, am 1300-seitigen "Buch der Erinnerung". Drei Erzähler und drei Zeiten durchdringen sich immer wieder in diesem monumentalen Buch der erotischen, auch homorerotischen Abschweifungen, in dem fortwährend Grenzen überwunden werden, zuallererst die zwischen Roman und Essay.

    Das Gegenteil zu dieser Nähe der Figuren bis hin zu ihrer gegenseitigen Durchdringung, der Nádas auch in anderen seiner Werke auf eine den Leser beglückende Weise nachspürt, zeigt das Debüt "Die Bibel". Hier regiert eine gewaltsam durch Angst und Schuld und Rache hergestellte Nähe, die auf Zerstörung zielt. Es ist die der Diktatur.

    Péter Nádas, Die Bibel. Erzählung. Aus dem Ungarischen von Ruth Futaky.
    Berlin Verlag. Berlin 2009. 95 Seiten, 18 EUR