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Schnee, Schuld und Sühne

In der schneeverschneiten Landschaft von Quebec spielt "Die Vergebung" von Gaétan Soucy: ein rätselhafter Roman von Schuld und Sühne; eine Schauergeschichte, die denen Edgar Allan Poes an die Seite gestellt werden kann.

Von Peter Urban-Halle | 23.03.2009
    Verschneite Landschaften seien friedlich, sagt man, sie dämpfen die Geräusche und mildern die Schroffheiten der Natur. Aber der Schnee kann auch gefährlich werden, und er deckt etwas zu und scheint, ein Geheimnis zu verbergen, sogar bei Astrid Lindgrens "Kindern aus Bullerbü" ist das so. Wer dann auch noch im Schnee steckenbleibt, dem blüht gewöhnlich Unangenehmes.

    Wir befinden uns im Dezember 1946, Louis Bapaume, 44 Jahre, will zu der deutschstämmigen Familie von Croft, die im Dorf Saint-Aldor in Quebec lebt, aber das Auto sinkt ein und kommt nicht weiter, dafür beginnt eine sonderbare Geschichte. Louis will eine "alte Angelegenheit" regeln, wie er sagt. Er kommt aus Montreal, wo er Organist in der Basilika Notre-Dame ist. Er komponiert auch, und 20 Jahre zuvor hat er den Zwillingsschwestern Geneviève und Julia im Dorf Musikunterricht gegeben, doch dann wurde er praktisch davongejagt.

    Es muss damals etwas passiert sein, man weiß nicht recht, was. Es geht um Schuld und Sühne, aber wie sühnen, wenn man die Schuld selbst nicht kennt? Nachdem nun also, 20 Jahre später, die Anfahrt mit dem Auto scheitert, klappt es dann auf traditionelle Weise: Ein jüngerer Bruder der Schwestern, den er noch gar nicht kannte, holt ihn mit dem Hundeschlitten ab. Wo die Natur unwirtlich ist, hilft das Altbewährte weiter. Tradition, Altbewährtes - je tiefer man da hinabsteigt in Vergangenes, desto undurchschaubarer wird das Ganze, desto undurchschaubarer wird aber auch dieser Louis Bapaume selbst.

    Wie stets, wenn man sich an ihn wandte, wurde Bapaume von einem Zucken heimgesucht, das die Muskeln seiner Arme, seiner Beine, seines Rückens befiel, in unvorhersehbaren Wellen, wie Wetterleuchten an einem Sommerhimmel. In allem, was nicht das Wesentliche berührte, konnte man ihn nach Belieben aufs Glatteis führen. Er war nicht bestrebt, sich darin zu bessern, er maß dem keine Bedeutung bei. Denn er hielt sich für beschlagen genug in Bezug auf Gott, auf das Wirken der Zeit, auf den Tod.

    Dieser, heißt es einmal, "nach Einsamkeit gierende" Bapaume ist ein nervöser, schlecht schlafender, ritualabhängiger Künstler. Gaétan Soucy geht in seiner Personenschöpfung wirklich weit, aber an keiner Stelle erscheint uns seine idiosynkratische Figur übertrieben geschildert, im Gegenteil, das Nervöse steigert sich sogar noch, und das wirkt - auch aufgrund der stilistischen Sicherheit Soucys - vollkommen plausibel, notwendig beinahe, unsere Faszination und die Spannung allgemein steigern sich auch im Lauf der Lektüre. Allmählich vollendet sich diese Figur, indem sie dem Wahnsinn näher kommt, und fast am Schluss scheint sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit vollendet:

    Mit seinem massiven Gesicht, seinen feisten Fingern und Schultern, seinem gedrungenen Wildschweingang glich er einem Maurer, der mit einer schweren Ladung Ziegel auf dem Rücken des Wegs kommt. Doch in der geringsten seiner Gesten, und sei es die Hand, die über seine mauerhohe Stirn streicht, auch in seiner Art aufzuhorchen [ ... ] in alledem lag eine berückende Feinsinnigkeit, die geprägt war von Intelligenz und Schlichtheit, von Sanftheit und Kraft.

    Doch der letzte Satz des schmalen Romans - wir dachten schon, wir hätten ihn - lässt alles wieder zusammenfallen, und wir haben ihn überhaupt nicht: Mit dem letzten Satz, den wir hier nicht verraten, ist das Rätsel Louis Bapaume größer denn je; aber das Rätsel der Wirklichkeit - das ist nun das Meisterlichste an der Geschichte - nicht minder.

    Fast unnötig, dass am Schluss noch ein Prisma auftaucht mit dem eingravierten Satz: "Keine Katastrophe kann mich treffen, denn nichts ist wirklich." Geneviève - sie muss es sein, sie hat ja keinen Schönheitsfleck auf der Oberlippe - empfängt ihren ehemaligen Klavierlehrer sehr reserviert, während Julia sich noch gar nicht blicken lässt. Sie ist nämlich Hebamme geworden und hilft bei einer Geburt.

    Dann erfährt Bapaume, dass ein Mädchen vermisst wird, das später tödlich verunglückt gefunden wird. Eine Partitur, die er bei dem jungen Bruder findet, stellt sich als seine eigene Komposition heraus. Eine seltsame Frau begegnet ihm, die ihn erwartungsvoll anschaut, was ihn befremdet. Der Bahnhofsvorsteher, bei dem Bapaume übernachten muss, erzählt ihm von seiner Mutter, die Françoise hieß und eine Geigenspielerin aus Paris war, exakt dasselbe trifft auf Bapaumes Frau zu. Das verunglückte Mädchen heißt Carmen - genau wie das, das Julia auf die Welt hilft, und die Eltern der neugeborenen Carmen heißen Soucy wie der Autor.

    Dieser Gaétan Soucy beschwört die Magie der Namen auf nie erlebte Weise, unmöglich, das ganze Geflecht der Beziehungen hier darzulegen. Er hat mit diesem packenden Roman, der eine unheimliche Macht besitzt, eine Schauergeschichte geschrieben, die denen Edgar Allan Poes an die Seite gestellt werden kann.

    Gaétan Soucy: Die Vergebung
    Aus dem Französischen von Andreas Jandl und Frank Sievers
    Matthes & Seitz, Berlin 2008, 144 Seiten, 17,80 Euro