Dienstag, 14. Mai 2024

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Schuldgefühl und Schuldbewusstsein

Hat ein Mensch ein Verbrechen begangen und ist schuldig geworden, erwartet seine Umgebung von ihm eine Einsicht in sein Tun und Schuldgefühle, die ihn zur Reue führen. Doch was verstehen wir eigentlich darunter, wenn wir fordern, unser Gegenüber müsse sein Schuld "durcharbeiten" oder wenn wir von "Wiedergutmachung" sprechen? Eva Maria Götz hat mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen über diese Problematik gesprochen:

Von Eva-Maria Götz | 20.11.2008
    Nehmen wir Markus zum Beispiel: der heute 20-jährige Mann kommt als Jugendlicher in ein Heim für schwer Erziehbare. Seine Mutter hat sich umgebracht, der Vater gibt dem einzigen Sohn die Schuld daran: Allein dessen zu nichts nützendes Dasein, wo ihn doch nie jemand gewollt habe, dazu später sein Alkohol- und Drogenproblem, hätten die Mutter ins Grab gebracht. Markus, der von seinem Vater von klein auf schwer geprügelt und misshandelt worden war, als 12-jähriger musste er seinen Hund erschießen, wird kriminell. Es beginnt mit Autodiebstählen. Wegen gefährlicher Körperverletzung bei einer Prügelei wird er schließlich zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Ein Einsicht in diese Taten hat er nicht: er hätte ja nur Autos von "Reichen" geklaut und die hätten es nicht anders "verdient". Und auch sein Prügelopfer hätte ihn schließlich provoziert. Schuld? Schuld sind immer die anderen. Ein Gefühl für seine eigene Schuld entwickelt Markus nicht.

    "Schuldgefühle wurzeln nicht in bösen Taten, sondern in dem, wie wir unsere Taten beurteilen."

    Meint Professor Jürgen Körner, Psychologe am Institut für Erziehungswissenschaften der Freien Universität Berlin.

    "Wenn wir ein sehr strenges Gewissen haben, dann genügen schon allerkleinste Verfehlungen, und wir fühlen uns schon schuldig. Das heißt, es geht immer um Bewertungsprozesse. Man muss deshalb schon unterscheiden zwischen der Tat selbst und der Verarbeitung."

    Schuld ist kein absoluter Begriff, sondern hat eine Voraussetzung: der schuldig Gewordene muss die Möglichkeit gehabt haben, die Tat als schlecht zu definieren und sie deshalb zu unterlassen, meint auch der Psychoanalytiker Ludwig Haesler:

    "Schuld hat immer etwas mit Handeln zu tun, mit der Freiheit meines Handelns und Entscheidens. Das ist bei Heidegger die existenzielle Schuld: Ich entscheide mich für das, und nicht für das andere, und deswegen bin ich immer in der Schwierigkeit, und in dem inneren Vorwurf, ich hätte das, wogegen ich mich entschieden habe, vernachlässigt."

    Die Erkenntnis von Schuld ist dabei untrennbar verknüpft mit der Angst vor der Entdeckung und Vergeltung.

    "Dann haben Sie natürlich in der kriminellen Schuld die Gesetze. Das ist die Konsequenz meines Handelns. Und es geht immer um die Folgen meines Handelns. In der moralischen Schuld ist es etwas, was zu tun hat mit der Angst vor der vernichtenden Beschämung durch die Anderen zum Beispiel, weil ich moralisch gefehlt habe. Und in der politischen Schuld geht es um Haftung. Es geht um Haftung und das Tragen der Konsequenzen."

    Um ein Gefühl für die eigene Schuld zu entwickeln, muss der Schuldige also auch bereit sein, den nächsten Schritt zu gehen: Er muss die Konsequenzen, die sich aus seinem Handeln ergeben haben, akzeptieren. Ludwig Haesler:

    "Das Schuldgefühl ist die innere Repräsentanz dieser Konsequenzen. Wenn ich mich mal in die Position von Menschen versetze, die schuldig geworden sind im kriminellen Sinne, dann heißt das einfach, ich habe irgendwo eine Schwierigkeit anzuerkennen, dass ich die Konsequenzen tragen muss. Und die sind natürlich bei einem schweren Verbrechen unendlich viel schwerer zu ertragen, und deswegen gibt es Versuche, die Schwere dieser Konsequenzen dadurch aus der Welt zu schaffen, nicht das ich die Konsequenzen mit einem Anderen versuche zu ertragen, sondern dass ich mir eine Konstruktion baue, die mir erlaubt zu sagen: Ich war ja gar nicht schuld.

    Die Psychoanalyse hat sich von Anfang an vor allem um Schuldgefühle gekümmert. Die Patienten haben sehr häufig zu starke Schuldgefühle und kommen auch deswegen in die Praxis, weil sie darunter leiden, dass sie etwas getan haben, unter dem sie sich sehr schuldig fühlen. Und damit beschäftigt sich die Psychoanalyse sehr stark: Wie kommt es, dass ich ein überstrenges Gewissen habe? Und kann ich nicht ein wenig milder über mich selbst urteilen? Das kann man in der Psychoanalyse lernen. Die Psychoanalytiker beschäftigen sich aber sehr wenig mit realer Schuld. Sie können auch nicht sehr gut sagen, was das sein soll und was die Erlaubnisgrenzen überschreitet. Da halten sie sich ganz gerne raus. Weil sie sich sagen, das ist doch Sache des Einzelnen. Wir treten nicht auf als Vertreter der Normen einer Gesellschaft. Wir beschäftigen uns dann mit den Menschen, wenn sie an diesen Normen scheitern. Entweder, dass sie sich sehr schuldig fühlen für Nichtigkeiten oder dass sie sich sehr wenig schuldig fühlen für wirkliche Straftaten."

    Jürgen Körner interessiert sich vor allem für den letzteren Fall: wenn jemand wie zum Beispiel Markus kein Bewusstsein entwickelt für die Taten, die er begangen hat. Gemeinsam mit dem Hildesheimer Pädagogen Burkhardt Müller entwickelte er in den letzten Jahren die "Denkzeit"- Methode: ein Trainingsprogramm, das straffällig gewordenen Jugendlichen Handlungsalternativen aufzeigen und ihnen helfen soll, moralisch begründete Entscheidungen zu treffen.

    "Es ist eine sozial-kognitive Trainingsmethode, das heißt, der Jugendliche lernt bestimmte Kompetenzen. Er lernt die Fähigkeit, sich in andere Menschen hinein zu versetzen, deren Standpunkt zu berücksichtigen, er lernt die Fähigkeiten, die Folgen seiner Tat voraus zu bedenken, und sich dann zu entscheiden: vielleicht mal etwas anderes zu tun als das, was er immer gemacht hat. Deswegen übrigens auch "Denkzeit" : Er soll eine Sekunde überlegen, bevor er das tut, was er vielleicht immer tat. "

    Es sind Pädagogen, die nach der Denkzeit-Methode arbeiten, und hier sieht Jürgen Körner ein Manko: So wie sich die Psychoanalytiker nur wenig mit realer Schuld beschäftigen, sowenig interessieren sich Pädagogen für die psychische Verfassung der ihnen anvertrauten Jugendlichen. Doch nur, wenn sie ein Wissen um die Methoden der Psychoanalyse haben, können sie eine ganzheitliche, aber auch distanzierte Haltung dem Delinquenten gegenüber entwickeln.

    "Wir sind der Ansicht, dass ein Jugendlicher, der vielleicht schon sehr lange eine delinquente Kariere hinter sich hat, der schon als Kind möglicherweise von seinen Eltern sehr schlecht behandelt wurde, der in sehr schlechte Gesellschaft geraten ist und das über viele Jahre hinweg, dass der nicht einfach durch rationale Einsichten lernt, sich zu ändern. Sondern der muss die Erfahrung machen, dass es Erwachsene gibt, die ihm wohlwollen, die ihn ernst nehmen, die ihm auch so etwas wie Verantwortlichkeit zumuten, und die es auch aushalten, wenn er mit ihnen schlecht umgeht."

    Der Umgang mit dem Begriff "Schuld" ist dabei von zentraler Bedeutung. Im Fall Markus bedeutet das: Der Pädagoge muss begreifen, dass Markus sich durchaus schuldig fühlt, allerdings nicht für seine Straftaten, sondern dafür, dass er überhaupt auf der Welt und schuld am Tod seiner Mutter ist.

    ""Ich bin ja selber schuld, ich gehöre ja gar nicht in die Welt", das ist ja ein Basisgrundgefühl, das dann so tief sitzt, dass man eigentlich denkt, ich bin ja selbst der Schlechte und trotzdem anderen was antut. Da gibt es sozusagen Verschiebungen, dass man Taten begeht, für die man sich nicht schuldig fühlt."

    Meint dazu Pädagoge Achim Schröder von der Hochschule Darmstadt.

    "... Und diese Kinder können das ja alles irgendwie nicht zuordnen. Die projizieren dann ihre Aggressionen auf andere Personen und wissen dann gar nicht, warum ihnen was passiert. Sie sind einfach wirr. Und das wird noch schlimmer, wenn sie in die Adoleszenz kommen, und da liegt ja viel von diesem Gewaltpotenzial, das sich dann entwickeln kann, wo wir sozusagen in der Nachsozialisation in der pädagogischen Arbeit dann ziemliche Schwierigkeiten haben."

    Diesen Verdrängungsprozess zu erkennen, fällt Pädagogen nicht leicht, meint Achim Schröder,

    "Pädagogen sind ja erstmal handlungsorientiert, zu wenig reflektionsorientiert, aber wir müssen sozusagen in diese Reflektion gehen, um das auseinander scheiden zu können, damit wir weiter handlungsfähig sind."

    Aber diese Reflexionsebene in der Pädagogik ist nötig, wenn es um die Erkennung von Schuld geht, auch wenn sich dabei die Rolle des Pädagogen vom Freund und Helfer zum distanzierten Beobachter wandeln kann, der in die mitunter wirre Welt des Jugendlichen eindringen und ihm stets die Konsequenzen seines Handelns vor Augen führen muss. Auch wenn das zu Konflikten führt. Dass Pädagogen oft wenig Neigung zeigen, sich mit der individuellen Schuldfrage auseinanderzusetzen, hat womöglich historische Ursachen, meint der Berliner Psychologe Jürgen Körner:

    "Zum Beispiel glaube ich, dass viele Pädagogen der älteren Generation heute sehr stark dazu neigen, bei ihren jugendlichen "Klienten", wie man heute so sagt, nachsichtig zu sein, vor allem Verständnis zu üben, sie aber nicht damit zu konfrontieren mit dem, was sie gemacht haben. Das ist vielleicht eine späte Folge jener 68er-Generation, die sich doch stark mit den Verfolgten und Eingesperrten, den auch Benachteiligten identifizierte.

    ... Die übliche Geschichte ist ja immer: Sohn oder Tochter im Alter von 20 kommt 1967/68 spät ach Hause, um 12 Uhr nachts, der Vater fragt: und wo warst du eigentlich? Und dann wird zurückgefragt: Und wo warst du eigentlich von 1939 bis 1945? Also da war jetzt endlich ein Ausweg gefunden, in dem man sich mit den einerseits entwerteten, immer noch attrappenhaft autoritären Vätern in der Sache auseinandersetzen konnte."

    Der Heidelberger Pädagoge Micha Brumlik hat sich intensiv mit der Psyche der 68er-Generation auseinandergesetzt. Die Schuldfrage schien da geklärt: durch die ungeheure Schuld, die die Elterngeneration im Nationalsozialismus auf sich geladen hatte, konnte man vieles abladen: gesellschaftliche, aber auch persönliche Fehlleistungen.

    "Wer dazu getrieben ist, sich mit anderen moralisch auseinanderzusetzen, ist natürlich nur schwer in der Lage, auch auf die eigenen mangelhaften moralischen Haltungen hinzuweisen, was sich wieder und wieder in der ganzen Gewaltdebatte und der Terrorismusdiskussion und im Terrorismus selbst gezeigt hat."

    In einer Zeit, in der die Schuldfrage im gesamtgesellschaftlichen Kontext diskutiert wurde, wollte jeder auf der richtigen Seite stehen: der Seite der Opfer. Was dann wiederum zu einer Pädagogik führte, in der kaum jemand mehr bereit war, auf erkannte Schuld auch Konsequenzen folgen zu lassen.

    "Angst vor Strafe ist ein extrem ungeeigneter Kontext, in dem man über Schuld nachdenken kann.
    Wenn ich mich nur irgendwie davor schützen muss, gestraft zu werden, kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, mich selbst auch nicht ehrlich anschauen, deshalb ist für mich dieses Konzept "Beichte" eine Form, die eine Alternative aufzeigt. "

    Meint Theologe Michael Bongardt von der FU Berlin.

    "Die Beichte steht unter der Hoffnung, dass mir am Ende Vergebung zugesagt wird. Aber - und das gehört dazu - das ist nicht einfach so ein dahin geworfenes Wort "das ist schon wieder gut, alles klar", sondern die Beichte beschreibt in ihren einzelnen Schritten einen Prozess in dem Menschen sich mit dem was sie getan haben, auseinandersetzen, Konsequenzen aus dem ziehen, was sie als falsch einsehen, und am Ende dazu bereit sind, die Folgen dessen, was sie getan haben, auch zu tragen, zu behandeln."

    Die katholische Kirche bietet, so Michael Bongardt, mit der Beichte eine Art Agenda für Schuldfälle an: in ritualisierter Form geht es Schritt für Schritt von der Gewissenserforschung mit dem Ziel, die Schuld zu benennen, über das Erwecken von Reuegefühlen durch Mitleid mit dem Opfer, hin zum Entschluss, eine solche Tat nicht zu wiederholen. Unabdingbar dabei ist das Aussprechen der Tat im öffentlichen Zwiegespräch mit einem Priester und die Bereitschaft, Buße zu tun, das heißt: die Folgen der Schuld zu tragen und den Versuch zu unternehmen, Schaden zu mindern und wenn möglich, wieder gut zu machen. Für gläubige Christen steht am Ende dieses Weges ein Versprechen: die Befreiung von der Schuld. Ein wenig von dieser klaren Haltung wünscht sich der Psychologe Jürgen Körner von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin auch im säkularen Umgang mit schuldig Gewordenen im Strafvollzug.

    "Schärfere Strafen nützen gar nichts nach unserer Ansicht. Aber man müsste früher und eindeutiger reagieren."

    Im Fall des straffälligen, aber nicht einsichtigen Markus würde das heißen: Man muss ihn zunächst dazu bewegen, seine Umwelt anders zu betrachten. Nicht mehr als eine feindliche Welt voller "böser" Menschen, die es verdient haben, bestohlen oder verprügelt zu werden, sondern als eine Welt, in der er selber eine Handlungsalternative hat. Psychoanalytische Fragestellungen können dem Pädagogen helfen zu verstehen, in welcher Gefühlsverwirrung sich der Jugendliche befindet. Der zweite Schritt ist dann das klare Aufzeigen und Durchhalten der Konsequenzen, die die Tat mit sich bringt. Und das möglichst bereits zu beginn der kriminellen Karriere, nicht erst, wenn es zu spät ist. Jürgen Körner:

    "Das heißt, man müsste auch bei relativ geringen Vergehen den Jugendlichen zu verstehen geben, dass es so nicht geht. Und das fehlt zurzeit. Allein das Wort vom Bagatelldelikt halte ich für eine Katastrophe. Als würde man den Jugendlichen sagen wollen: Es war zwar ein Diebstahl, aber eigentlich eine Bagatelle, kein Vergehen. Ganz verkehrt. Man muss ihm sagen, auch ein geringfügiger Diebstahl darf nicht sein, das muss er einsehen."