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Schulz: "Das ist ein hoher Preis"

Der Fraktionschef der Sozialisten im Europa-Parlament, Martin Schulz, hat den Kompromiss mit Polen kritisiert. Die Spaltung der EU sei zu einem relativ hohen Preis verhindert worden, sagte Schulz im Deutschlandfunk. Allerdings habe die polnische Führung gesehen, dass die anderen EU-Staaten nicht bereit seien, sich an der Nase herumführen zu lassen. Der SPD-Politiker betonte, die Einigung sei in der Summe ein großer Fortschritt. Viele Elemente des ursprünglichen Verfassungsentwurfs seien erhalten geblieben.

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: Am Telefon ist jetzt Martin Schulz. Er ist Vorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Herr Schulz, ich grüße Sie.

    Martin Schulz: Guten Morgen!

    Remme: Die Ergebnisse sind noch ganz frisch. Haben Sie sich in der Nacht auf dem Laufenden gehalten?

    Schulz: Ja, leider, ständig habe ich dieses Hin und Her miterlebt am Telefon und über die neue Kommunikationsform der SMS.

    Remme: Herr Schulz, dass die, die verhandelt haben, das Ganze am Ende, wenn man sich geeinigt hat, als Erfolg darstellen, das ist nicht überraschend. Fällt die Bilanz aus Ihrer Sicht genauso positiv aus?

    Schulz: Sie fällt gemischt aus. Ich fange mit dem Positiven gerne an. Ich glaube, dass das Gespann Merkel/Steinmeier exzellente Arbeit geleistet hat. Unter den noch waltenden Umständen war nicht mehr drin. Für mich ist positiv, dass es mehr Demokratie in Europa gibt. Das Europäische Parlament ist deutlich gestärkt durch diesen Vertrag. Die Volksinitiative, also die Bürgerinitiative, ist ermöglicht worden. Wir haben mehr direkte Demokratie, wir wählen den Kommissionspräsidenten zukünftig durch das Parlament, nicht im Hinterzimmer ausgekungelt, wer wird das, sondern da wird eine transparente Wahl erfolgen. Das sind gute Sachen.

    Was mir nicht gefällt, ist der Kompromiss mit Polen, das ist völlig klar. Ich muss jetzt erst mal damit leben, dass wir von jetzt ab gerechnet zehn Jahre lang Polen in einer relativ starken Blockadeposition haben, das ist ein hoher Preis. Und ich bin natürlich auch nicht damit zufrieden, dass die Briten sich durchgesetzt haben bei der europäischen Außenpolitik. Denn gerade dort hätten wir die Stärke Europas jetzt gebraucht. Und da ist den Briten wieder mal ihr Opt-out gelungen. Also es ist in der Summe ein Fifty-fifty-Ergebnis, aber das ist mehr, als man gestern noch erwarten konnte.

    Remme: Herr Schulz, die Brüder Kaczynski haben eine Art Rollenteilung vorgenommen, wir haben das gerade gehört. Am Ende telefonierten die anderen Regierungschefs, die nach Brüssel gekommen waren, mit Jaroslav in Warschau, während Lech vor Ort war. Hat sich die EU hier ein Stück weit vorführen lassen?

    Schulz: Das ist ganz, ganz schwierig jetzt aus der Distanz zu beurteilen. Stellen wir die Frage mal umgekehrt: Was wäre denn passiert, wenn Polen hart geblieben wäre? Insofern weiß ich nicht, ob das, was am Ende gelaufen ist, nicht vernünftig war, den Versuch zu unternehmen, die Spaltung der EU zu vermeiden, weil doch eine Menge schon erreicht war und man es dann am Ende an dieser einen Frage, diesem Abstimmungsmechanismus, diesen paar Stimmen mehr für Polen, nicht scheitern lassen wollte. Das kann man vertreten.

    Ich fand den Ansatz von Angela Merkel gestern Abend zu sagen, okay, wenn ihr nicht mitmacht, dann machen 26 andere alleine weiter, mindestens genauso reizvoll. Und insofern will ich da jetzt nicht urteilen, in welche Richtung man hätte gehen müssen. Lassen wir damit zufrieden sein, dass die Spaltung der EU verhindert worden ist.

    Remme: Aber die Frage ist ja auch deshalb wichtig, weil es ja möglicherweise nicht nur ein Rückblick sein kann, sondern die polnische Haltung möglicherweise auch ein Vorgeschmack auf noch Konflikte, die auszutragen sind.

    Schulz: Ich glaube, nach dem, was gestern gelaufen ist, ist das nicht mehr möglich. Man muss ja sehen, Polen hat - insofern hat Frau Merkel und Herr Steinmeier, haben beide, denn sie haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen, einen wichtigen Schritt unternommen -, Polen hat bis in den späten Abend hinein, bis halb zwölf, zwölf Uhr, halb eins diese starre Haltung eingenommen. Und irgendwann hat Frau Merkel am frühen Abend gesagt, also wenn wir 26:1 abstimmen, dann muss der eine gucken, wo er bleibt, dann gehen die 26 alleine vor. Für zukünftige Fälle wird sich das wiederholen, und dann wird es irgendwann so sein, dass die 26 auch alleine gehen.

    Und ich glaube, das genau ist der große Erfolg, dass gezeigt worden ist, wir sind zur Not bereit, euch alleine stehen zu lassen. Genau in dem Moment hat dieser Herr Jaroslav Kaczynski, über den man sich sicherlich noch mal unterhalten muss, ist er eingeknickt. Und das ist, glaube ich, schon ein Erfolg, weil die Folterwerkzeuge sind gezeigt worden.

    Remme: Herr Schulz, was meinen Sie mit, dass man sich noch mal über Jaroslav Kaczynski unterhalten muss?

    Schulz: Ja, Sie haben es in Ihrer Frage eben angedeutet. Das könnte nicht nur eine Vergangenheitsbewältigung sein, die wir jetzt gerade machen, sondern auch ein Ausblick auf zukünftige Verhaltensweisen. Nur dann wird man von vornherein klarmachen müssen, dass man zu so etwas nicht mehr bereit ist. Wir haben bald, im kommenden Jahr, die Überprüfung der Finanzperspektive, also der sogenannten mittelfristigen Finanzplanung, der Europäischen Union. Da braucht man wieder Einstimmigkeit, und da wollen wir dann mal hoch interessiert sehen, ob sich Herr Jaroslav Kaczynski in so einer Form dann es noch leisten kann, sich aufzuführen. Ich glaube, der hat auch gelernt.

    Remme: Aber Sie sagen selbst, man hat den Polen jetzt bis zum Jahr 2017 auch ein starkes Instrument in die Hand gelegt.

    Schulz: Ja, bei der Finanzperspektive wäre es eh bei der Einstimmigkeit geblieben, also die ist nicht runtergefallen, diese Regel, die da jetzt eingeführt worden ist. Insofern, es bleiben ja einige Bereiche in der Einstimmigkeit, eben auch die Frage der Finanzierung der Europäischen Union. Da muss jedes Land am Ende seine Zustimmung geben. Aber ich glaube, dass Herr Kaczynski, beide Herren Kaczynskis gelernt haben, dass es doch eine Bereitschaft gibt, sich nicht an der Nase herumführen zu lassen. Gut, man ist den Polen jetzt am Ende noch mal entgegengekommen, der polnischen Regierung muss man immer sagen, weil den Polen, das ist falsch, in Polen ist die Mehrheit der Leute gegen die Kaczynski-Brüder. Also man ist diesen Herren noch mal entgegengekommen, aber ich glaube nicht, dass sich das so auf Dauer wiederholen wird.

    Remme: Wenn wir mal aufs große Ganze schauen, Herr Schulz, mit der Verfassung wollte man die Bürger ursprünglich mit der Idee Europa versöhnen. Wie groß ist der Schaden, wenn dieses Projekt jetzt aufgegeben wird?

    Schulz: In der Anmoderation, Herr Kapern, der berichtet hat aus Brüssel, hat gesagt, die Substanz der Verfassung ist weitgehend erhalten worden. Ich habe die Texte jetzt noch nicht gelesen, die verabschiedet worden sind, aber nach meinen Informationen trifft diese Bewertung zu. Das sind ganz, ganz viele Elemente, die in der Verfassung waren, übernommen worden und erhalten. Nicht 1:1 und nicht zu 100 Prozent, aber zu ganz, ganz großen Teilen. Und deshalb ist es eigentlich in der Summe ein Fortschritt für Europa, was da gestern gelaufen ist. Ich will eins hinzufügen: Die Bundesregierung hat eine tolle Ratspräsidentschaft gemacht, das darf man auch mal sagen. Seit Jahren hat es nicht mehr so eine effiziente Führung der Europäischen Union gegeben wie in den letzten sechs Monaten.

    Remme: Und kommt man mit den Ergebnissen, so wie wir sie jetzt kennen, auf Dauer weiter, oder bleibt die Aussicht auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?

    Schulz: Ich glaube, zunächst mal wird man mit dem Ergebnis weiterkommen. Das Auseinanderfallen der Europäischen Union ist abgewendet worden. Machen wir uns nichts vor: 27 Staaten, die sich einigen müssen, das ist ganz, ganz schwierig. Aber dass sie sich jetzt am Ende geeinigt haben auf einen gemeinsamen Präsidenten, auf einen direkt gewählten Kommissionspräsidenten. Das ist für mich ganz, ganz wichtig, dass das Parlament den Kommissionspräsidenten wählt. Da wird zum ersten Mal ein faktischer Regierungschef in Europa durch das Parlament gewählt, da kann man auch eine Konkurrenz machen, ob dass einer von rechts oder einer von links sein soll.

    Die Anzahl von Mehrheitsentscheidungen, also den Feldern, in denen die Mehrheit entscheidet, das ist deutlich ausgedehnt worden. Dass die EU auch jetzt zukünftig für die Klima- und Energiepolitik zuständig sein soll, denn der Dreck in der Luft macht an keiner Grenze Halt, das ist erreicht worden. Also, sie haben eine Menge doch erreicht, das ist in der Summe, glaube ich, ein großer Fortschritt.

    Remme: Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Nach acht hören wir aus Polen und aus Großbritannien. Wir sprechen mit dem ehemaligen polnischen Botschafter in Deutschland Jerzy Kranz ( Audio ) und mit Dennis MacShane ( Audio ), dem ehemaligen Europaminister in Großbritannien. Herr Schulz, ich bedanke mich fürs Gespräch!