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Schwan unterstützt "Europa-Manifest"

Ein Europa-Manifest bewegt Bürger und Politik. Gesine Schwan, eine der vielen Unterzeichner, unterstützt den Aufruf zu mehr Bürgerbeteiligung in Europa. Besonders von Deutschland erwartet sie mehr europäische Kooperation - besonders die kleineren Partner habe die Regierung vernachlässigt.

Das Gespräch führte Jasper Barenberg | 04.05.2012
    Jasper Barenberg: "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Diese legendären Worte von US-Präsident John F. Kennedy nehmen sich jetzt ein Politiker und ein Wissenschaftler zum Vorbild. Auf Europa umgemünzt wollen der Grünen-Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit und der Soziologe Ulrich Beck einer europäischen Bürgergesellschaft auf die Sprünge helfen, damit Europa nicht an der Bevormundung der Bürger durch die Politik scheitert. So steht es in dem "Manifest zur Neugründung der EU von unten", das in mehreren Zeitungen erschienen ist. Ein zentrales Anliegen dabei eine Art freiwilliges bezahltes europäisches Jahr für alle, die so etwas machen möchten. 90 berühmte Personen des öffentlichen Lebens unterstützen diese Idee, darunter unter anderem die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, der Philosoph Jürgen Habermas, Altkanzler Helmut Schmidt. Daniel Cohn-Bendit und der Soziologe Ulrich Beck über den Grundgedanken dieses Projekts.

    O-Ton Daniel Cohn-Bendit: "”Dieses Europamanifest soll für mich der Beginn sein einer Erzählung über Europa und was Praktisches. Alle, die es wollen, müssen die Möglichkeit haben, ein Jahr irgendwo in Europa zu arbeiten, damit im Grunde genommen so eine transeuropäische Öffentlichkeit und Identität zu schaffen.""

    O-Ton Ulrich Beck: "Für mich ist in der Tat diese Initiative ein Test, inwieweit unsere Regierung (aber auch die anderen Regierungen) versteht, dass die Rettung Europas nicht mit der Rettung des Euros identisch ist, sondern erst sozusagen die Einbeziehung des Bürgers als eine wesentliche Voraussetzung auch für die Rettung des Euros wahrnimmt."

    Barenberg: Vor dieser Sendung habe ich die Sozialdemokratin Gesine Schwan gefragt, was sie bewogen hat, dieses Manifest zu unterschreiben.

    Gesine Schwan: Mich bewegt die gegenwärtige Europapolitik insbesondere in Deutschland und durch die deutsche Bundesregierung sehr negativ. Ich finde, dass wir nicht deutlich genug verstehen, angesichts der faktischen Macht, die wir durchs Wirtschaftsgewicht haben, dass wir das wirklich europäisch kooperativ angehen müssen, das Problem und die Krise, und nicht so, dass wir eine bestimmte Sicht allen anderen aufs Auge drücken. Ich bin von Geburt an fast, möchte ich sagen, eine engagierte Europäerin und deswegen habe ich das gerne unterschrieben.

    Barenberg: Ist diese Dominanz, die Sie beklagen, die Dominanz der Bundesregierung, eigentlich gewollt, oder ist sie Deutschland quasi zugewachsen im Verlauf dieser Krise und ihrer Bekämpfung?

    Schwan: Also sie ist sicher nicht so gewollt, dass die Bundesregierung jetzt plötzlich sich überlegt hat, sie will alle anderen dominieren. Aber das Problem hat ja immer bestanden und Bundeskanzler Kohl, dem ich auch nicht in allem immer gefolgt bin, aber hat sehr genau begriffen, dass das Gewicht Deutschlands schon so groß ist, dass man sehr darauf achten muss, die kleineren Partner immer von vornherein kollegial zu behandeln und mit ihnen zu verhandeln, und das hat die Bundesregierung, weil sie auch zugleich sogar auch innerdeutsch ja die öffentliche Debatte und die Alternativen nicht gerade pflegt, in Europa völlig vernachlässigt.

    Barenberg: Sie hat also vor allem die kleineren EU-Partner links liegen lassen bei ihren Beratungen, was eine Lösung der Krise angeht?

    Schwan: Na ja, und sie hat überhaupt sich zu sehr einfach auf Regierungsarbeit verlassen. Sie hat ja den Europäischen Rat zur zentralen Schaltstelle gemacht und da dann eben die Großen und Mächtigen, während das Europaparlament, auch die zum Beispiel Entscheidungen über Sparpolitik, gar nicht beachtet worden sind. So konnte sie die ganze Zeit so tun, als wären die Europäer alle verantwortungslos. Sie hat auch die Europäische Kommission eher beiseitegelassen. Also sie hat sehr stark versucht, das ganz von der Exekutive her zu machen und von denen her, die das Sagen haben.

    Barenberg: Und insofern – und da knüpfen wir dann an an den Grundgedanken dieses Manifestes – hat die Bundesregierung, haben auch die anderen europäischen Regierungen in ihrer Handhabung der Krise vor allem der letzten Jahre bei den Bürgern Vertrauen verspielt?

    Schwan: Ja, sehr deutlich, weil auch Bürger schon längere Zeit natürlich den Eindruck hatten, dass sie auf die Gestaltung Europas nicht viel Einfluss haben konnten. Und die Finanzkrise hat dann, finde ich, sehr deutlich gezeigt, dass die rein nationalstaatliche Konstruktion ohne wirklich aktive transnationale Initiativen und Bewegungen es nicht schaffen wird, weil alle diese Nationalstaaten unter einer massiven Pressure ihrer jeweiligen Lobbygruppen sind, die eben nicht das Interesse haben, transnational gemeinsam zu arbeiten.

    Dahinter steckt auch dieses ganze Konzept des Standortwettbewerbs zwischen den Staaten, das ich für fatal halte, und das Ganze ist auch die staatliche Ausrichtung, die da sich noch mal bekundet, während ich glaube, dass wir aus der Gesellschaft heraus transnational aktiv werden müssen. Dies ist ein besonderer Vorschlag hier in dem Manifest. Aber es gibt auch andere, zum Beispiel hat die Finanzkommission des Europaparlaments ja 2010 im Sommer ausdrücklich gefordert, dass die organisierte Zivilgesellschaft sich stärker einbringen muss in die öffentliche Diskussion zur Finanzmarktreform, um auch ein Gegengewicht gegen sehr finanziell potente private Interessen auf diesem Gebiet zu bilden, und das ist in meiner Sicht der Weg.

    Wir müssen transnationale Initiativen bekräftigen, denn es ist ja nicht so, dass hier griechische gegen spanische und deutsche Interessen stehen, sondern dass innerhalb der Länder sehr unterschiedliche Interessen in den Gesellschaften herrschen, sehr unterschiedliche Gewinner und sehr unterschiedliche Verlierer, und es sozusagen grenzüberschreitend ähnliche Gruppen sind, die Verlierer sind, und ähnliche Gruppen sind, die Gewinner sind.

    Barenberg: Jetzt sagt beispielsweise der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit, ohne eine europäische Öffentlichkeit, ohne eine europäische Identität kann es keinen Ausweg aus dieser Krise geben. Teilen Sie diese Analyse?

    Schwan: Ja! Ich war zwar nie so ganz, ganz entschieden, wie das zum Beispiel der wunderbare Jurist Dieter Grimm immer betont hat, dass es eigentlich gar kein Europa geben kann, weil es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Aber eine europäische Öffentlichkeit ist entscheidend, und dafür ist ja jetzt auch die große Chance, denn wir haben wirklich quer über die verschiedenen Staaten hinweg ganz ähnliche Probleme, auch Deutschland wird die bald bekommen, und es wird dann auch darum gehen, über die nationalen Grenzen hinweg sehr unterschiedliche Antworten zu geben.

    Wir können das zum Teil schon im Europaparlament beobachten, dass es da nicht nach nationalen, sondern eben nach grundsätzlichen Alternativen geht, und das wird sich hier auch zeigen. Ich glaube, dass etwa die Frage, wie wir Wachstum, von dem jetzt jeder spricht, stärken, damit überhaupt die Schulden bezahlt werden können, die Frage, wie wir das also tun, sehr umstritten sein wird. Und wenn ich höre, dass die gegenwärtige Bundesregierung für Wachstum ist, was kein weiteres Geld braucht, sondern über Reformen – also das ist im Grunde das Lied der Angebotsseite, dass das alles verbessert werden muss, Lohnkosten senken und so weiter und dann wird es besser -, wenn man das sieht, dann ist das eben eine andere Philosophie als eine, die sagt, über Eurobonds, die projektbezogen, infrastrukturbezogen, bildungsbezogen sind, wollen wir Wachstum, und zwar in den verschiedenen Ländern generieren, aber dann natürlich durchaus auch noch länderspezifische Reformen, die anstehen, weiß ich, Steuerbehörden in Griechenland und so weiter, angehen.

    Barenberg: Frau Schwan, was kann denn in diesem Sinne dieses vorgeschlagene freiwillige europäische Jahr leisten?

    Schwan: Ich glaube, das ist eine längerfristige Sache, um die Menschen in Europa noch mehr zusammenzubringen und einfach die verschiedenen Perspektiven auch emotional mehr zu lernen, in denen Menschen denken. Ich selbst bin zum Beispiel in einem französischen Gymnasium groß geworden und habe, glaube ich, dadurch einen ganz anderen Zugang dazu, wie Franzosen ticken, gleichsam, als wenn ich nie was mit Frankreich zu tun gehabt hätte. Und wenn ich ein europäisches Jahr bei der Feuerwehr mache in Palermo, dann lerne ich da einerseits viele Analogien kennen mit meinem eigenen Feuerwehrbetrieb, aber zugleich lerne ich eben auch die Unterschiede kennen. Und diese Mischung von Identifikation mit anderen und Anerkennung der Unterschiede, die dann überbrückt werden müssen, die halte ich für praktisch, auch emotional für sehr wichtig.

    Barenberg: " ... und wir haben davon nicht genug!" Ist das die These, denn immerhin gibt es ja einen regen Austausch, sagen wir mal, von Studierenden quer durch Europa, es gibt das Erasmus-Programm, es gibt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer inzwischen in Europa. Haben wir nicht gelebte europäische Realität, gelebten europäischen Alltag schon längst?

    Schwan: Da ich lange Zeit die Europauniversität Viadrina geleitet habe, wo wir ja Auslandsaufenthalte obligatorisch gemacht haben in den Kurrikula, weiß ich auch, dass die Erasmus-Programme in der Regel etwa zwischen sechs und zehn Prozent der Studierenden, die ihrerseits schon eine Elite sind, betreffen und dass diese Programme auch nicht wirklich ein Eintauchen in die dortige Gesellschaft am Ende bewirken, sondern ein Studieren und ein Wohnen in Wohnheimen, wo Chinesen und Japaner in Spanien sind, aber wo sie nicht in den spanischen Alltag eintauchen, wenn sie in Malaga studieren. Gerade auch gemeinsame Berufserfahrungen sind ja so wichtig, obwohl man nicht nur im eigenen Beruf arbeiten muss. Aber den Alltag kennenzulernen, mit anderen sich auch sprachlich dann besser zu verständigen, das ist sehr wichtig. Das was wir bisher haben, ist wunderbar, aber reicht noch bei Weitem nicht.

    Barenberg: Und wie soll das dem Taxifahrer, sage ich mal, gelingen, der ja angesprochen ist in diesem Manifest, oder dem Richter, oder dem Künstler, der vielleicht nicht Spanisch spricht, obwohl er gerne nach Spanien möchte? Wie soll das passieren?

    Schwan: Natürlich kann man jetzt das ohne jede Sprachkenntnis nicht machen. Aber nicht zuletzt wissen wir, dass Taxifahrer gerade in Deutschland mehr und mehr Nicht-Deutsche sind und in anderen Ländern auch. Also die sind eigentlich schon besonders ausgetauscht und haben sich hier auch schon in unterschiedlichen Ländern akklimatisiert. Aber sicher: Sprachen lernen ist dabei eine bedeutsame Sache. Das Englische wird in vielen Fällen zunächst mal die notwendige Brücke sein. Trotzdem ist es wichtig, dass man das vor Ort macht und dass man da dann auch Zusatzorganisationen macht, also das nicht einfach nur so irgendwie als Gedanken hinwirft. Da muss man schon auch ein bisschen Hilfestellung dann weiter leisten.

    Barenberg: Was wird am Ende den Ausschlag geben, eine europäische Bürgergesellschaft, oder eine gute europäische Politik der Regierungen?

    Schwan: Ich sehe das gar nicht alternativ, sondern ich glaube, dass eine gute europäische Politik der Regierung wirklich nur möglich ist durch eine aktive Bürgergesellschaft, aber jetzt nicht nur mit dem Praxisjahr und dem europäischen sozialen Jahr, sondern vor allen Dingen auch dadurch, dass die Gesellschaften, sprich also die Zivilgesellschaften, sprich auch Wirtschaft, aber eben die, die nicht von vornherein partikular interessiert sind, sich zusammen überlegen und grenzüberschreitend, wie sie die Finanzmärkte regeln, wie sie die Sozialleistungen, wie sie gewisse Mindestlöhne festmachen und so weiter. Das muss nachher auch von der Politik fixiert werden. Aber die Politik ist ziemlich hilflos, wenn es in den Gesellschaften nicht einen längerfristigen Grundkonsens gibt.

    Barenberg: Die Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance im Deutschlandfunk-Gespräch. Vielen Dank, Gesine Schwan.

    Schwan: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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