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Schweden
Umstrittene Altersbestimmung bei minderjährigen Flüchtlingen

Schwedens Regierung hat am Freitag beschlossen, ab Herbst systematische medizinische Untersuchungen einzuführen, mit denen das Alter unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge überprüft werden soll. Doch lässt sich das Alter eines Menschen überhaupt sicher nachweisen? Über die Aussagekraft der Methoden schwelt schon seit Jahren ein erbitterter Streit unter den Forschern.

Von Christine Westerhaus | 23.05.2016
    Man sieht junge Leute in roter Sportkleidung, die Boxübungen machen.
    Es besteht Uneinigkeit, wie das Alter von jugendlichen Flüchtlingen bestimmt werden soll (picture-alliance / dpa / Soeren Stache)
    Die Weisheitszähne verdanken ihren Namen der Tatsache, dass sie als letzte gebildet werden. In der Regel sind sie erst dann komplett entwickelt wenn ein Mensch volljährig ist. Das gleiche gilt für die Knochen der Hand – ihre sogenannten Wachstumsfugen schließen sich erst, wenn ein Jugendlicher etwa 18 Jahre alt ist. Diese Entwicklung haben verschiedene Ärzte an Heranwachsenden dokumentiert und in Tabellen festgehalten.
    Wenn Mediziner das Alter unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ermitteln wollen, halten sie sich an dieses Regelwerk: Sie vergleichen den Reifegrad der Weisheitszähne und der Handknochen mit den Werten aus den Tabellen. Damit lässt sich das Alter jugendlicher Flüchtlinge verlässlich einschätzen, sagt der Rechtsmediziner Andreas Schmeling von der Universität Münster. Er ist Sekretär der deutschen Arbeitsgemeinschaft forensische Altersdiagnostik.
    "Die Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik empfiehlt die Kombination einer körperlichen Untersuchung, die Röntgenuntersuchung der Hand und eine zahnärztliche Untersuchung mit Röntgen-Untersuchung des Gebisses. In der Zusammenschau dieser Befunde kann man dann ein wahrscheinlichstes Alter festlegen und ein Mindestalter angeben. Und das Mindestalter ist sozusagen das geringstmögliche Alter, das erreicht werden kann. Das führt dazu, dass man die zu untersuchende Person niemals zu alt schätzt, sondern praktisch immer zu jung schätzt."
    "Eigentlich muss man sich nur an ein Regelwerk halten"
    Auch Håkan Mörnstad hält diese Methode für verlässlich. Er ist emeritierter Zahnarzt, hat viele Jahre in der Rechtsmedizin gearbeitet und erstellt in Schweden seit ein paar Jahren auf Honorarbasis zahnmedizinische Gutachten für Flüchtlinge.
    "Eigentlich ist es nicht schwer, das Alter eines Jugendlichen zu schätzen. Es gibt Hunderte Untersuchungen dazu und eigentlich muss man sich nur an ein Regelwerk halten. Das Problem ist also politisch. Es gibt Beteiligte die meinen, das Risiko für Fehleinschätzungen sei zu hoch und dass man daher eher den kognitiven Entwicklungszustand der Jugendlichen mit psychologischen Tests untersuchen solle. Doch solche Methoden haben sich in einer Untersuchung als höchst unwissenschaftlich erwiesen."
    In Schweden gibt es jedoch eine hitzige Debatte über diese medizinischen Altersschätzungen. Die Fehlerquote dieser Untersuchungen sei viel zu groß, kritisiert der Sprecher des schwedischen Kinderärzteverbands, Anders Hjern, Mediziner am Karolinska-Institut in Stockholm.
    "Die Befürworter dieser medizinischen Methoden verschweigen gerne, dass sich die Wachstumszonen der Handknochen schließen, wenn ein Mensch um die 18 Jahre ist. Das bedeutet, dass die Sicherheitsmarginale extrem klein ist und dass ein Jugendlicher ebenso noch unter 18 Jahren sein kann, wenn sich die Handknochen bereits vollständig ausgebildet haben."
    Warnung vor der Fehlerquote bei der Begutachtung
    Auch eine Röntgenanalyse der Weisheitszähne hält Anders Hjern für wenig aussagekräftig. Denn diese entwickelten sich nicht bei allen Jugendlichen gleich schnell und es fehlten Vergleichsuntersuchungen für unterschiedliche Ethnien.
    "Die Zahnentwicklung variiert zwischen unterschiedlichen Volksgruppen. Bei Afrikanern beispielsweise reifen die Weisheitszähne viel schneller. Zudem ist die Fehlerquote bei der Begutachtung sehr hoch: Wenn man zwei verschiedenen Gutachtern die gleichen Röntgenbilder eines Jugendlichen vorlegt, stimmt das Ergebnis nur zu 60 Prozent überein. Objektiv gesehen muss man also feststellen, dass es keine ausreichend brauchbaren Methoden gibt, das Alter eines Jugendlichen verlässlich zu schätzen."
    Kritiker bemängeln zudem, dass Röntgenstrahlen bei diesen Untersuchungen eingesetzt werden - obwohl das aus medizinischer Sicht nicht notwendig sei. Auch deshalb wird in Schweden geprüft, ob eventuell eine Magnetresonanztomografie des Knies und der Sprunggelenke zur Altersbestimmung genutzt werden kann. Ein solches Verfahren würde ohne schädliche Strahlung auskommen und hätte einen größeren Sicherheitsspielraum. Denn die Wachstumsfuge im Knie verschließt sich bei männlichen Jugendlichen erst, wenn sie etwa 24 Jahre alt sind.