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Selbstbedienung der politischen Klasse

Die EU hat Griechenland nach seinen jahrelangen Tricksereien an die kurze Leine genommen. Das Land muss sparen - das sehen auch die Regierenden in Athen ein. Doch aus der griechischen Bevölkerung sind mittlerweile auch andere Töne zu hören. Die Schmerzgrenze sei erreicht, heißt es.

Von Ulrich Pick |
    Als Giorgos Papandreou am Abend des 4. Oktober vergangenen Jahres vor die internationalen Kameras trat, machte er einen sichtlich entspannten Eindruck. Seine Sozialdemokraten standen als Sieger der griechischen Parlamentswahl fest und der 57-Jährige – das wusste jeder im Land – sollte der neue Regierungschef werden. Im Wahlkampf hatte er Ministerpräsident Kostas Karamanlis immer wieder der politischen Vetternwirtschaft bezichtigt, welche nicht nur die Korruption gefördert, sondern auch dem Ansehen des Staates geschadet habe. Entsprechend appellierte er am Wahlabend an die nationale Einheit Griechenlands:

    "Heute starten wir alle zusammen einen neuen Kurs, damit wir das Griechenland bauen, von dem wir träumen. Es wird ein Griechenland sein, das Selbstvertrauen hat und fähig ist. Damit wir, alle Griechinnen und Griechen, in Eintracht und gemeinsam die nächsten Seiten der griechischen Geschichte schreiben."

    Die Hochstimmung des neuen griechischen Regierungschefs sollte nur kurze Zeit dauern. Denn schon wenige Wochen nach seinem großen Wahlsieg wurde Papandreou gewahr, welch Berge von Unrat sich im Augias-Stall Griechenland angehäuft hatten. Bereits Anfang Dezember nämlich musste er die Angaben des Jahres 2009 über die Neuverschuldung des Landes deutlich nach oben korrigieren. Hatte die alte Regierung drei Monate zuvor noch ein Defizit von sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes nach Brüssel gemeldet, sprach Papandreou nun von 12,7 Prozent. Das ist ein Wert, der fast zehn Punkte über dem sogenannten Stabilitätskriterium von drei Prozent liegt. Die Europäische Union war sichtlich geschockt, denn die Verhältnisse in Griechenland entpuppten sich binnen kurzer Zeit als wahrer Sumpf. Nicht nur, dass die alte Regierung in Athen, die seit Jahren milliardenschwere Subventionen aus Brüssel bezog, bewusst Statistiken gefälscht hatte. Weite Teile des öffentlichen Dienstes führten ein Eigenleben – weit ab jeglicher Kontrolle. So gab es in einigen großen Krankenhäusern des Landes nicht einmal eine geregelte Buchführung. Zudem befand sich der Staat im Grunde im Zustand der Zahlungsunfähigkeit. Denn laut Berechnungen aus Brüssel liegt die griechische Staatsverschuldung im laufenden Jahr mit 300 Milliarden Euro bei rund 125 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Hinzu kommt, so erklärt Kostas Tsouparopoulos, der leitende Wirtschaftsredakteur der angesehenen Tageszeitung "Elefterotypia", noch etwas:

    "Das größte Problem ist zur Zeit, dass der Staat nicht alle Mehrwertsteuern kassiert. Es wird geschätzt, dass die fehlende Summe rund sechs bis sieben Milliarden Euro beträgt. Würde der Staat diese Gelder kassieren, gäbe es keine Defizite."

    Angesichts der desolaten Finanzlage verordnete Ministerpräsident Papandreou den Griechen einen strikten Sparkurs. Es sieht Lohnkürzungen bis zu fünf Prozent sowie einen Einstellungsstopp bei Staatsbediensteten ebenso vor wie deutliche Steuererhöhungen bei Tabak, Spirituosen, Treibstoffen und Immobilien. Zudem muss jedes Ministerium künftig mindestens zehn Prozent seiner Ausgaben einsparen. Auf diesem Weg soll das Staatsdefizit bis zum Ende des Jahres um vier Punkte auf 8,7 Prozent gesenkt werden. Bis 2012 soll es dann – wie Brüssel fordert – unter drei Prozent liegen. Noch am Heiligen Abend ließ der Regierungschef das Parlament das Sparprogramm verabschieden und appellierte:

    "Ich weiß, dass wir es können. Wir werden es uns selbst beweisen. Wir werden es jedem Ausländer beweisen, der infrage stellt, dass wir keinen Willen, keine Fähigkeit und keine Entschlossenheit haben, dieses Land zu verändern. Ich fordere Sie auf, den Haushalt zu billigen und ab morgen für seine Umsetzung zu kämpfen."

    Auch wenn sich zahlreiche Beobachter über die anscheinend so plötzliche Staatskrise in Griechenland wunderten - wirklich überraschend kam sie nicht. Denn es hatte zuvor bereits deutliche Anzeichen gegeben.
    Im Dezember 2008 nämlich war es mehr als eine Woche lang zu schweren Straßenschlachten in Athen und Thessaloniki gekommen. Auslöser war der Tod eines Jugendlichen durch den Schuss eines Polizisten. Je länger aber die gewaltsamen Proteste andauerten – und sie flammten im gesamten letzten Jahr immer wieder auf – desto klarer wurde, dass sie sich im Grunde gegen überkommene und verkrustete gesellschaftliche Verhältnisse wandten, wie diese Universitätsdozentin erklärte:

    "Sie haben in der Gewalt verharrt, sie haben verharrt im Kampf dagegen, dass ein Junge umgebracht wurde. Dahinter aber steht doch die Politik. Dieses Phänomen ist noch nicht komplett analysiert worden. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass Gewalt nicht irgendwoher kommt, sondern einen Hintergrund hat."

    In der Tat war vonseiten der Studenten, von denen sich viele den Protesten anschlossen, scharfe Kritik an der Politik zu vernehmen. Seit Jahrzehnten, so hieß es, hätten die beiden großen Parteien des Landes, die konservative Nea Dimokratia und die sozialdemokratische Pasok, ihre Macht stets zur Sicherung eigener Pfründe genutzt. Durch die Zuschüsse, die Griechenland über Jahre hinweg aus Brüssel bekam, sei zudem reichlich Geld vorhanden gewesen, um unzufriedene Stimmen gegebenenfalls zum Schweigen zu bringen. Doch die daraus erwachsene Klientelpolitik habe den Staat von innen ausgehöhlt und – so dieser Student - einen wirklichen Fortschritt behindert.

    "Irgendetwas ist hier faul. Mit der Polizei, der Regierung und der gesamten politischen Szene. Denen geht es lediglich ums Geld."

    In welcher Schieflage Griechenland sich befindet, veranschaulicht auch die hohe Arbeitslosigkeit, die gerade unter jungen Menschen herrscht. In der Altersgruppe bis zu 24 Jahren nämlich war im vergangenen Herbst jeder Vierte ohne Job. Selbst gut ausgebildete Hochschulabsolventen wie die Athenerin Anastasia, die sich als Kellnerin durchschlägt, suchen oft jahrelang nach einer Stelle:

    "Es gibt Leute, die einen guten Uni-Abschluss haben, und die bekommen dasselbe zu hören: Es gibt keine Stelle! Und weil die Unternehmen kein Geld haben, schaffen sie auch keinen neuen Arbeitsplätze. So ein Fall - wie Du siehst - bin ich auch. Deshalb arbeite ich hier."

    Was die zahlreichen arbeitssuchenden Akademiker betrifft, so spricht man in Griechenland mittlerweile von der 700-Euro-Generation. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, in welch eklatantem Widerspruch ihr ausgesprochen knappes Einkommen zur allgemeinen Mentalität der Steuerhinterziehung der Wohlhabenden steht. Denn den Fiskus zu betrügen, gilt an der Ägäis sozusagen als Lieblingssport der Besserverdienenden, wie Kostas Tsouparopoulos, der leitende Wirtschaftsredakteur der Tageszeitung "Elefterotypia" sagt:

    "Es gibt eine große Steuerhinterziehung und eine Schattenwirtschaft, die 30 bis 40 Prozent erreicht. Diejenigen, die Steuern hinterziehen sind: Konzerne, mittlere Unternehmen und Freiberufler. Und sie tun es, indem sie ihren wahren Umsatz nicht angeben oder weil sie ihre eigenen Angestellten nicht versichern. Oder weil sie keine Mehrwertsteuern einhalten und an den Staat abgeben."

    Schaut man in die Steuerstatistik, ergibt sich daher ein groteskes Bild. So lag 2008 das Jahreseinkommen von Ärzten, Rechtsanwälten und Architekten bei knapp über 10.000 Euro und das der Händler und Unternehmer bei rund 13.000 Euro, während gleichzeitig Arbeitnehmer und Rentenbezieher auf etwas mehr 16.000 Euro kamen. Fragt man diejenigen, die den Staat regelmäßig um seine Steuern betrügen, nach ihren Motiven erhält man eine Antwort, die ähnlich klingt wie die Politiker-Kritik der demonstrierenden Studenten. So sagt dieser Unternehmer, der jahrelang in Deutschland lebte:

    "Solange ich weiß, dass mehr als 60, 70 Prozent der Geldausgaben der Staatsfinanzen unkorrekt ausgegeben wird, ist es meine Pflicht, denen das Geld zu entziehen. Man verteidigt sich gegen die Gier und das Bescheißen und das verbrechehrliche Verhalten von der Machtposition der Regierungen. Bevor die von uns verlangen, Steuern zu bezahlen, müssen sie erst mal beweisen, dass sie das Geld richtig verwalten können und wollen."

    Dieser deftig daherkommende Verbalangriff, der die Steuerschwindeleien zahlloser reicher Griechen zu verteidigen beabsichtigt, hat in seiner Argumentation durchaus eine gewisse Richtigkeit. Denn dass die Politikergilde in Athen in der Vergangenheit vielfach nicht in der Lage war, den Staat passabel zu verwalten, zeigte sich in der Vergangenheit immer wieder. Bestes Beispiel waren die schweren Waldbrände im Sommer 2007, bei denen 70 Personen ihr Leben verloren. Damals wurde in der Öffentlichkeit nicht nur gewahr, in welch desolatem Zustand sich der griechische Brandschutz befindet, auch bei den Reparaturarbeiten wurde schwer geschlampt - und das möglicherweise sogar bewusst, wie das Dorf Artemida auf der Halbinsel Peleponnes zeigt, das mit 27 Toten die meisten Opfer zu beklagen hatte.
    Es ist unüberhörbar – auch zweieinhalb Jahre nach der Katastrophe haben die Handwerker den Ort noch immer fest im Griff. Trotz der Geschäftigkeit aber und der vielfach glänzenden Häuserfassaden ist die Stimmung unter den Einwohnern des Dorfes getrübt. Denn obgleich der Staat eine großzügige finanzielle Hilfe versprochen hatte, geht vieles nur schleppend voran. Da es in Artemida wie in vielen anderen Dörfern Griechenlands kein öffentliches Kataster gibt, konnten viele Einwohner nicht nachweisen, dass das abgebrannte Haus auch wirklich ihr Eigentum war. Mit der Folge, dass sie das von Staat versprochene Geld nicht bekommen konnten und heute noch in Containern leben. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit - die griechische Vetternwirtschaft:

    "Sie haben Häuser wieder aufgebaut, die bereits seit 60 Jahren Ruinen waren. Sie sind nicht vom Feuer zerstört worden, sie waren seit Jahrzehnten Ruinen. Und sie haben die Häuser der lokalen Funktionäre und ihren Leute wieder aufgebaut und zwar tadellos. Und Häuser, die bewohnt waren - wie die von Yannis und mir - die werden schludrig repariert. Und bei einem Erdbeben stürzen sie dann wieder ein."

    Es scheint also, dass die großzügige Hilfe, die nach Griechenland floss, noch immer nicht alle Opfer der Katastrophe erreicht hat. Ja, möglicherweise gab es sogar bewusste Manipulationen. Denn eine Dame, die in der Verwaltung der für Artemida zuständigen Kreisstadt Zacharo arbeitet, berichtet:

    "Nach den Bränden kam eine enorme Welle an Hilfsbereitschaft: Geld, Kleider, Kühlschränke, Möbel, Decken, was immer sie wollten - eine immens Fülle. All diese Sachen kamen unter die Aufsicht des Bürgermeisters, um sie zu verteilen. Aber die Sachen wurden an Freunde und nahestehende Wähler gegeben. Und viele Leute sagen, dass sogar Sachen verkauft worden sind. So etwas beschämt mich."

    Der griechische Staat scheint also – und da sind die Hilfsgelder für die Brandopfer nur ein Beispiel - über Jahre hinweg von der politischen Klasse als Selbstbedienungsladen missbraucht worden zu sein. Angesichts dieser Zustände ist die Frage jetzt angebracht, ob die Maßnahmen, die die jetzige griechische Regierung zur Bewältigung der Krise auf den Weg gebracht hat, auch wirklich ausreichen. Sicher ist jedenfalls, dass vor Giorgos Papandreou und seiner Mannschaft ein Langstrecken-Hürdenlauf liegt, oder wie der Ministerpräsident in Anspielung auf die griechische Mythologie sagt – eine Odyssee:

    "Ich kann nicht sagen, welche Zyklopen wir auf dem Weg nach Ithaka treffen werden. Ich fordere aber alle zur systematischen Arbeit auf, und zwar ohne bürokratische Zeitverschwendung."

    Während also die Regierung Papandreou alles in ihrer Macht stehende zu tun scheint, um die Krise zu bewältigen, wird in Brüssel darüber diskutiert, wie man mit Griechenland umgehen soll. Während die einen argumentieren, Athen müsse sich selber helfen, da man sich die Lage auch selber eingebrockt habe, verweisen die anderen darauf, dass die Europäische Union gar nicht umhin komme, mit anzupacken. Schließlich sitze man doch in einem Boot. Egal, wie diese interne Auseinandersetzung enden wird, vom ihrem Fahrplan für die Krisenbewältigung an der Ägäis wird die Europäische Union – so sagt Wirtschaftsredakteur Kostas Tsouparopoulos – nicht abgehen:

    "Die EU hat uns ein enges Korsett verpasst. Sie zwingt uns, innerhalb von drei Jahren unser Defizit zu drücken unter drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Es ist ein sehr ambitiöses Programm. Ich fürchte aber, dass es schwierig eingehalten werden kann. Denn seine Umsetzung bringt Arbeitslosigkeit und Depression in der Wirtschaft zu einem Moment, in dem die Ökonomie Wachstum braucht."

    Für die Europäische Union scheinen solche Bedenken allerdings von nachgeordnetem Rang zu sein. Denn sie will nicht nur unter allen Umständen erreichen, dass Griechenland das von ihr vorgegebene Ziel erreicht, die Finanzminister haben sogar den Druck auf Athen noch weiter erhöht. So verkündete der Eurogruppen-Vorsitzende, Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker:

    "Wir haben Folgendes entschieden: Griechenland muss am 16. März zusätzliche Sparmaßnahmen ankündigen um sicherzustellen, dass das für 2010 angestrebte Sparziel auch erreicht wird."

    Auch wenn es aus europäischer Sicht geboten zu sein scheint, schnelle und vor allem harte Maßnahmen zu ergreifen, um das griechische Finanz- und Wirtschaftsdesaster zu beheben, es bleibt dennoch die Frage nach der Angemessenheit dieser Mittel. Möglicherweise nämlich könnte sich der erhöhte Druck der EU als unrealistisch, sprich: kontraproduktiv erweisen. Denn die Regierung in Athen muss letztlich - trotz aller Notwendigkeit eines rigiden Sparprogramms - ihren Kurs auch in der eigenen Bevölkerung durchsetzen können, sagt Kostas Tsouparopoulos, der leitende Wirtschaftsredakteur der Tageszeitung "Elefterotypia":

    "Papandreou hat zurzeit die Zustimmung des Volkes, das Defizit auf den Wert zu drücken, den die EU akzeptiert. Aber besser wäre es, in vier Jahren und nicht in drei Jahren, wie uns die EU gezwungen hat. Alle Experten - Griechen und Ausländer - sind der Ansicht, dass Griechenland sein Defizit maximal 1,5 bis zwei Prozent pro Jahr reduzieren kann. Was darüber hinausgeht, ist weder finanziell machbar, noch sozial akzeptabel."

    In der Tat zeichnet sich schon jetzt ab, dass der neue Athener Wirtschafts- und Finanzkurs unter der Regie Brüssels ein heikler Balanceakt sein wird. Natürlich ist es geboten, Griechenland nach seinen jahrelangen Tricksereien an die kurze Leine zu legen und sein künftiges Gebaren genau zu kontrollieren. Zudem bestreitet so gut wie niemand an der Ägäis, dass es höchste Zeit ist zu sparen. Doch mittlerweile sind aus der griechischen Bevölkerung auch andere Töne zu hören. Die Schmerzgrenze sei erreicht, heißt es. Laut einer repräsentativen Umfrage der großen konservativen Tageszeitung "Kathimirini" sind zudem 80 Prozent der befragten Hellenen der Ansicht, dass ihrem Land in den kommenden Monaten "intensive Streiks" und "soziale Unruhen" bevorstehen. Lediglich 40 Prozent der Griechen trauen demnach der Regierung von Ministerpräsident Giorgos Papandreou zu, die derzeitige Krise zu meistern. Ob der griechische Regierungschef die Rosskur für sein Land wirklich durchziehen und vor allem durchstehen kann, muss zur Stunde offenbleiben. Es wird jedenfalls für alle Beteiligten eine heikle Angelegenheit werden. Denn nachdem dem in der vergangenen Woche die Zollbeamten sowie die Taxifahrer bereits aus Protest gegen die Sparmaßnahmen ihre Arbeit niedergelegt haben, haben die Gewerkschaften für morgen zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen.