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Siegeszug der Organoide
Mini-Gehirne aus dem Bioreaktor

Vor zwei Jahren überraschten Wiener Stammzellenforscher die Fachwelt: Sie züchteten in einem einfachen Bioreaktor ein erbsengroßes menschliches Gehirn heran. Inzwischen wurden diese Arbeiten von anderen Wissenschaftlern wiederholt. Die Gehirne könnten manche Tierversuche ersetzen und klinische Studien an Menschen sicherer machen.

Von Michael Lange | 24.06.2015
    Undatierte mikroskopische Querschnittsaufnahme eines ganzen zerebralen Organoids.
    Undatierte mikroskopische Querschnittsaufnahme eines ganzen zerebralen Organoids. (Picture Alliance / dpa / Madeline A. Lancaster/nature)
    Kleine, gehirnartige Strukturen – nicht größer als eine Erbse - können in einem Glasgefäß heranwachsen. Das Rezept ist einfach: Aus Körperzellen entstehen durch Reprogrammierung Stammzellen, und die entwickeln sich weiter zu Nervenzellen und anderen Gehirnzellen. Gemeinsam bilden sie ein sogenanntes Organoid.
    "Diese Organoide sind weiße Zellklumpen, sehr trüb im Innern, und haben in ihrer besten Form Ausstülpungen, die aussehen, wie ein sich entwickelndes menschliches Auge."
    Vor zwei Jahren haben Jürgen Knoblich und seine Arbeitsgruppe am Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien erstmals solche Organoide hergestellt. Die Millionen Nervenzellen darin stehen miteinander in Kontakt und bilden ein Netzwerk. Einen besonderen Trick benötigen die Wiener Forscher dazu nicht.
    "Wir lassen die Zellen schlicht und einfach in Ruhe. Wir geben ihnen eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlen. Aber dann organisieren sie sich selbst."
    Untersuchungen zur Mikrozephalie
    Mit den Organoiden lassen sich embryonale Entwicklungsprozesse des Gehirns und verschiedene Krankheiten des Menschen im Labor nachahmen und erforschen. Auf der Jahrestagung der internationalen Gesellschaft zur Stammzellenforschung in Stockholm präsentierte Jürgen Knoblich erste Ergebnisse. Sein Team hat eine Krankheit namens Mikrozephalie genauer untersucht. Das ist eine Entwicklungsstörung, bei der ein zu kleines Gehirn zu einer geistigen Behinderung führt.
    "Wir haben Zellen eines Patienten, der unter einer solchen Mikrozephalie leidet, in pluripotente Stammzellen umgewandelt, und dann ein Organoid daraus gemacht. Und tatsächlich war dieses Patienten-Organoid sehr viel kleiner als ein entsprechendes, gesundes Organoid."
    Die Forscher fanden heraus, dass bei Mikrozephalie etwas falsch läuft bei der Gehirnentwicklung. Normalerweise entstehen zunächst viele Stammzellen, die sich erst später zu Nervenzellen weiter entwickeln. Beim Mikrozephalie-Gehirn ist das anders.
    "Was in dem Patienten-Organoid passiert, ist, dass diese Nervenzellenausbildung viel zu früh stattfindet. Dadurch werden nie genug Stammzellen erzeugt. Und das - so glauben wir - ist der Grund, warum diese Organoide viel zu klein sind. Und wir nehmen an, dass das auch die Ursache für die Erkrankung sein wird."
    Keine Gehirntransplantation
    Heute dienen die gehirnartigen Organoide ausschließlich der Forschung. Eine Gehirntransplantation planen die Forscher nicht. Aber einzelne Nervenzellen aus einem Organoid könnten in Zukunft in das Gehirn von Patienten verpflanzt werden. Denn - anders als Zellen, die auf dem Boden eines Zellkulturgefäßes wuchern - entsprechen die Zellen aus dem Organoid weitgehend verschiedenen Zelltypen im Gehirn eines Menschen.
    "Und wir haben die Hoffnung, dass die Nervenzellen, die in unserem System entstehen, dass die reifer sind als Zellen, die entstehen, wenn man schlicht und einfach Stammzellen in Nervenzellen umwandelt."
    Andere Wissenschaftler haben begonnen, spezielle Bereiche im Gehirn auf ähnliche Weise im Bioreaktor zu züchten. Die Arbeitsgruppe von George Church an der Harvard Medical School in Boston lässt den Hippocampus im Glas heranwachsen. Das ist eine Gehirnregion, die bei der Entstehung von Gedächtnisinhalten eine wichtige Rolle spielt. Diese kleinen Gewebe im Bioreaktor sind für verschiedene Tests besser geeignet als Versuchstiere, denn es handelt sich um menschliche Zellen, erklärt George Church.
    "Bestimmte Dinge, die man gern am Menschen testen möchte, wie Medikamente oder Gentherapien, könnte man genauso gut an kleinen Gehirnen im Labor ausprobieren - ohne Patienten zu gefährden. Und sobald die Methoden besser sind, könnte man auch kleine Gehirngewebe-Stückchen aus dem Organoid in Menschen transplantieren."