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Siegeszug eines Literaturgenres
Überall nur noch Romane

Was würde der deutsche Konsument sagen, wenn im Sport plötzlich nur noch Fußball als Körperertüchtigung gelten würde? Absurde Vorstellung? Vielleicht. Doch in der krisengebeutelten deutschen Literaturbranche ist die Monopolstellung einer einzigen Gattung längst Realität.

Von Gisa Funck | 03.04.2015
Bücherstapel liegen auf einem Verkaufstisch.
Taschenbücher in einer Buchhandlung (dpa / picture alliance / Roland Weihrauch)
"Den deutschen Buchpreis für den Roman des Jahres verleiht der Börsenverein des deutschen Buchhandels an..."
Seit 2005 wird der mit 25.000 Euro dotierte Deutsche Buchpreis vergeben und hat sich inzwischen – neben dem Büchner-Preis – zur zweitwichtigsten Literaturauszeichnung hierzulande gemausert. Und das, obwohl der „Buchpreis" streng genommen eigentlich "Romanpreis" heißen müsste. Prämiert er doch ausschließlich und nur Romane. Oder, wie der Schriftsteller Peter Henning erklärt:
"Ich glaube, da hat der Börsenverein sich einen Bärendienst erwiesen, indem man diesen „Roman" installiert hat. Dadurch, dass sozusagen ausgerufen wurde: 'Nur der Roman zählt!' Und: 'Wir prämieren den großen deutschen Roman', ist tatsächlich so etwas wie eine Romangläubigkeit und -hörigkeit entstanden. Ich fröne dem, weil ich auch Romane schreibe. Aber wenn man eben aus der Lyrik-Ecke kommt oder die Kurzgeschichte bevorzugt, dann hat man schlechte Karten."
Tatsächlich beurteilt eine Lyrik-Verlegerin wie Daniela Seel, die in ihrem Berliner Kookbooks-Verlag Gedichte und Kurzprosa veröffentlicht, den auf den Roman fixierten Deutschen Buchpreis skeptisch. Denn der, so Seel, befördere die sowieso schon vorherrschende Romanhysterie in Deutschland zusätzlich:
"Also das mit dem Deutschen Buchpreis, das ärgert mich schon enorm. Weil dadurch ja auch ein Ausschluss betrieben wird. Und es ja auch vom Marketing ganz klar so bezeichnet wird, es sei das "beste Buch des Jahres". Oder: "Die beste deutsche Literatur". Und da eben ganz viele Formate einfach ausgeschlossen sind. Und dadurch eine totale Verengung stattfindet. Und ja auch durch die Marketingmechanismen des Buchpreises es sich ganz stark in den letzten Jahren so entwickelt hat, dass die Bücher, die auf der Longlist – und noch mehr, die auf der Shortlist stehen, die pflichtmäßig zu rezensierenden Werke sind, und die anderen eben unter den Tisch fallen. Und dadurch eine völlige Einengung dessen, was in den großen Feuilletons besprochen wird, stattfindet.
"Das ganze Leben ist ein Roman / Was auch geschieht, es fängt immer an / wie in jedem andern Roman / mit Liebe / ja, Liebe"
Tja, was würde der deutsche Konsument wohl sagen, wenn im Sport plötzlich nur noch Fußball als vollwertige Körperertüchtigung gelten würde? Oder man beim Autofahren nur noch als Mercedes-Fahrer akzeptiert wäre? Eine absurde Vorstellung? Vielleicht. Doch in der krisengebeutelten deutschen Literaturbranche ist die Monopolstellung einer einzigen Gattung längst Realität. Denn hier zählt schon seit Jahren eigentlich nichts anderes mehr – außer:
Dem Roman
Oder, wie der Bielefelder Germanistikprofessor Ingo Meyer kürzlich in der Zeitschrift Merkur feststellte:
"Gefühlt schrieb so ziemlich jeder Dritte meiner Gesprächspartner gerade an einem Roman. Nie also war mehr Roman als heute, obwohl sich die Verfallstendenzen innerhalb dieser Königsdisziplin der Epik kaum noch übersehen lassen."
Und tatsächlich: Wohin man auch derzeit schaut in Buchhandlungen, Bibliotheken, Bestenlisten, Literaturkritiken oder Verlagsvorschauen: Überall findet man – neben dem erzählenden Sachbuch – eigentlich nur noch ihn:
den Roman.
Das 20. Jahrhunderte als Blütezeit des Romans
Was einigermaßen erstaunlich ist für eine Literaturgattung, die ihre Hochzeit im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert hatte. Und wegen ihres Anspruchs einer Erzählbarkeit von Welt spätestens seit der Postmoderne gelinde gesagt als suspekt gilt. Doch allen Vorwürfen des Altbackenen und allen Sterbe-Prognosen zum Trotz: Der Roman lebt. Ja, ihm geht's sogar besser denn je. Und selbst dort, wo der dicke Wälzer bislang als verpönt galt – im Internet, auf der Theaterbühne und im Comic – drängt er nun mit aller Macht vor. Sei es als Webnovel, Bühnen-Adaption oder "Graphic-Novel", wie man Comics heute bezeichnenderweise nennt.
"Ja, das kann man auf jeden Fall sagen. Dass andere Genres nicht die Aufmerksamkeit bekommen und offenbar die Leselust auslösen wie der Roman."
Resümiert Martin Hielscher, Programmleiter für Belletristik beim Verlag C.H. Beck, den ungebrochenen Siegeszug des Romans:
"Das Ganze hängt eben mit der Kommerzialisierung des Literaturbetriebs zusammen. Die großen Buchhandelsketten, die die großen Flächen bespielen müssen, die brauchen, um ihre Kosten refinanzieren zu können Stapelware. Und der große Roman, der für möglichst alle auch lesbar sein soll, der verkauft sich dann natürlich auch dementsprechend. Die Erfahrung habe ich als Programmmacher im Beck-Verlag mit dem Literaturprogramm auch gemacht. Also, wenn wir Erzählungsbände veröffentlicht haben, war das Ergebnis meistens desaströs.
"Auf jede Seite ist man gespannt / Denn jede Zeile ist interessant / So viel erzählt kein anderes Buch von der Liebe / Liebe"
Derzeit läuft die Romanproduktion in Deutschland so hochtourig wie nie zuvor. Kein Wunder, dass die meisten deutschen Schriftsteller erst gar nicht auf die Idee kommen, dass sie ja auch mal etwas anderes veröffentlichen könnten. Zum Beispiel eine Kurzgeschichte, eine Novelle, ein Essay, ein Tagebuch. Oder – ganz verwegen – ein Gedicht. Oder, wie Romanautor Peter Henning gesteht:
"Wir wissen ja alle, dass die Erzählung praktisch tot ist, was den Verkauf angeht. Das funktioniert überhaupt nicht. Novellen sollte man eigentlich auch nicht schreiben. Das kennt man ja auch aus Verlagssicht. Wenn du deinem Lektor sagst: 'Du, ich schreib gerade eine wunderbare Erzählung oder Novelle!', sagt der: 'Das ist ganz prima, aber haste nicht 'nen Roman?'
"Also, beim ersten Buch war es so, dass die Verlage, mit denen ich gesprochen hatte, die gesagt haben: „Ja, schön – machen wir gerne, aber noch schöner wäre es natürlich, wenn es ein Roman wäre."
Bachmann-Preisträger Tilman Rammstedt kann sich noch gut erinnern, wie entsetzt sein Verlag war, als er 2003 mit einem Erzählband debütieren wollte. Der Verlag veröffentlichte Rammstedts Kurzgeschichten dann zwar, etikettierte sie aber kurzerhand als "Roman" um. Was den Debütanten damals sehr ärgerte. Inzwischen jedoch akzeptiert Rammstedt grummelnd das Verkaufslabel "Roman":
"Ich glaube nicht, dass ich Romane schreibe. Ich kämpf' dagegen nicht mehr. Man schreibt 'Roman' drauf, wenn es nicht eine oder mehrere kleinere Erzählungen sind, sondern eine größere. Und das ist auch eher ein Signal an den Leser als eine Gattungsbezeichnung. Also es hat nur noch eine Signalwirkung an Leser, die mich ein bisschen stört, aber gegen die ich auch nicht mehr ankämpfe."
"Ja, man hat manchmal das Gefühl – ein Buch ist ein Roman! Es gibt gar keine anderen Bücher mehr."
Sagt Helge Malchow, Chef des Kölner Kiepenheuer & Witsch Verlags. Malchow macht keinen Hehl daraus: Die Produktion von Romanen, die diese Bezeichnung verdient hätten, ist heute aufgrund des enormen Produktionsdrucks kaum noch möglich. Für einen richtigen Roman bräuchte ein Schriftsteller nämlich mindestens drei Jahre Zeit. Zeit, die sein Verleger im knallharten Bestseller-Wettbewerb in der Regel nicht hat:
"Und deswegen trickst man dann rum. Und fängt an, also Erzählungssammlungen entweder überhaupt nicht als "Erzählungssammlung" zu bezeichnen. Oder sogar als "Roman" zu bezeichnen. Dann sagt man: Ja, in der einen Erzählung kommt eine Figur vor, die auch in der anderen Erzählung vorkommt. Oder: 'Alle Erzählungen in diesem Buch behandeln ja im großen und ganzen dasselbe Thema!' Oder spielen in derselben Stadt Und schon hat man einen Roman!"
Die Tricks der Verlage
Helge Malchow ist einer der wenigen Verleger, der mutig sein Schweigen bricht. Und es ist erschütternd zu hören, auf welche literarischen Billigzutaten die Branche inzwischen zurückgreift, um die Massenproduktion an Schmökern aufrecht zu erhalten. Pferdefleisch in der Rindfleisch-Lasagne? Ist ein Witz – gegen die Mogelpackungen, die heute mitunter als Roman verkauft werden:
Beispielsweise 'Titos Brille' von Adriana Alteras, die eine Art Familien-Lebensgeschichte geschrieben hat, die aber so wunderbar unterhaltsam und spannend geschrieben war, dass wir gerne wollten, dass sie auf der Belletristik-Seite auftaucht. Und da wird dann ein bisschen rumgetrickst in den Verlagen, dass man dann einfach zum Beispiel nicht drunter schreibt "Autobiografie" oder "Lebensgeschichte" oder so, sondern vielleicht sogar "Roman" schreibt. Oder auch: "Roman eines Lebens". Um auf die linke Seite der Spiegel-Bestsellerliste mit dem Buch zu gelangen. Da wird nämlich mehr verkauft!"
Doch wenn heute sogar schon Autobiografien "Romane eines Lebens" heißen. Und Erzählungsbände "Episodenroman"? Und Kurzprosa "Mikro-Roman"? Ja, was ist dann überhaupt noch Roman am Roman?
"Es ist eine Art Biosiegel. Also, wo 'Roman' draufsteht, ist womöglich Roman drin. Das ist noch nicht geklärt, weil es noch keine EU-Standards für Romane gibt. Und deshalb wird das Siegel ziemlich wahllos verteilt, obwohl jede Menge Gammelfleisch und Geschmacksverstärker drin sind.
Meint Michael Rutschky, Schriftsteller und Essayist.
"Das Problem ist bei dieser Roman-Schwemme auch, dass sie eigentlich von keiner richtigen, literaturkritischen Diskussion begleitet wird. Also, es gibt ja eine sehr breite Debatte im 20. Jahrhundert: Was ist ein Roman? Was kann ein Roman alles? Der Roman ist die Form nach der transzendentalen Heimatlosigkeit, wie der Marxist Georg Lukacs behauptet hat. Dieter Wellershoff hat ein großes Buch geschrieben 'Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt', das ist ja alles irgendwie verstummt. Jetzt kriegen wir nur noch Romane, und niemand redet eigentlich wirklich darüber, was das ist."
"Ich hab wirklich viel gelesen / Bin ein Bücherwurm gewesen/ und ich fand alles schön und wunderbar / Sofern von Liebe nur die Rede war"
Bis ins 20. Jahrhundert konnte das Bürgertum vor allem vom klassischen Bildungsroman gar nicht genug bekommen. Darin machte der jugendliche Held einen Reifeprozess durch, um am Ende seinen ihm angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden: Ein humanistisches Selbstverwirklichungs-Programm, das dem Abgleich mit der Wirklichkeit allerdings auf Dauer nicht standhalten konnte. Spätestens die Schrecken des Ersten Weltkriegs und die Erkenntnisse der Psychoanalyse entlarvten das allzu rosige Erziehungsideal des Bildungsromans als illusionär. So fingen Romanautoren an, neuen Lesestoff zu entwickeln und mit genreübergreifenden Erzähltechniken zu experimentieren, etwa des Essays, der Szenencollage oder des Tagebuchs. Auf diese Weise wurden nicht nur die Sinn-Konstrukte des Romans brüchiger, sondern auch dessen Gattungsgrenzen immer weiter ausgedehnt. Schon bei Marcel Proust oder James Joyce konnte man sich nicht mehr sicher sein, ob man überhaupt noch einen 'Roman' in Händen hielt. Mit dem 'Ende der großen Erzählungen' schien das Genre sich in den 80ern dann endgültig überlebt zu haben: Zu aufgebrochen und zu komplex kam vielen postmodernen Autoren ihre Lebenswelt vor, als dass man sie noch exemplarisch in einen Roman hätte packen können. Von solchen Zweifeln aber sind die allermeisten Schriftsteller heute offenbar wieder weit entfernt, obwohl unsere digital vernetzte Informationsgesellschaft sicherlich noch um ein Vielfaches komplexer und unübersichtlicher geworden ist. Zumindest erlebt der linear erzählte, sogenannte "realistische" Roman seit einiger Zeit ein erstaunliches Comeback. Vielleicht, weil er im 21. Jahrhundert eine tröstliche Übersichtlichkeit suggeriert, die eigentlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Oder, wie Lyrikverlegerin Daniela Seel spottet:
"Dieser Wunsch nach dem Roman, der Ruf nach dem Roman, der hat sehr viel zu tun für mich auch mit so einer Verniedlichung oder Biedermeierisierung von Welt. Vielleicht ist das auch einer der Punkte, warum der Roman so beliebt ist: Weil er einem völlig das Denken abnimmt. Es ist wie so ein Förmchen im Sandkasten. Man muss einfach nur alles reintun, und dann geht es quasi von selbst. Und es sind eigentlich völlige Setzkastenmodelle!"
Kritik an fehlender Tiefe der Literatur
"Das ist so eine Art Gemütlichkeitsdroge. Die im Unterscheid zu anderen Drogen auch gar keine Gesundheitsschäden hervorruft. Und deshalb sehr beliebt ist, ne."
Glaubt auch Michael Rutschky. Je bedrohlicher und unberechenbarer die Krisenszenarien um uns herum werden, desto bereitwilliger scheint der Konsument zur Trostlektüre Roman zu greifen. Wo jede Geschichte noch ihren klaren Anfang und ihr klares Ende hat. Und wo – in der immer beliebter werdenden Krimi-Variante – jedes Verbrechen gottlob aufgeklärt und jeder Verbrecher bestraft wird. KIWI-Verleger Helge Malchow:
"Mittlerweile gibt es ja Leute, die denken, ein Roman ist ein Kriminalroman. Und ein Kriminalroman ist ein Buch. Und wenn man das Romangenre als Beruhigungsmittel in einer überhysterischen Zeit begreift, dann kann man natürlich sagen: 'Statt beruhigen könnte man ja auch Revolution machen!' Oder politische Veränderung herbeiführen oder so. Und stattdessen geht man in den Schrebergarten. Und der Schrebergarten heißt 'Roman'. Das kann man so sehen.
"Und genauso die Geschichten, die erzählt werden. Das sind Geschichten, die eigentlich nur noch Variationen auf Geschichten sind, die wir schon kennen. Und die – ja – nichts Neues mehr beizutragen haben zum Verständnis der Gegenwart. Und die sich völlig erschöpft haben oft."
Doch selbst wenn man den gegenwärtigen Romanhype nicht ganz so hämisch betrachtet wie Lyrikverlegerin Daniela Seel: Tatsache ist, je ausschließlicher die Branche gerade auf den Unterhaltungsroman als angeblich einzig verkäufliche Lektüre setzt, desto stärker reduziert sie die Literatur auf ein Konsumprodukt ohne ästhetischen oder philosophischen Mehrwert. Und je öfter heutige Romane nach demselben Rezept wie Kino- und Fernsehplots funktionieren, desto nachhaltiger verliert das Romanschreiben seine Aura einer exklusiven Kunst. Und schrumpft zum Jedermann-Hobby, dessen Creative-Writing-Regeln sich letztlich jeder aneignen kann. Die Folge: Eine Überproduktion an immer gleichen Konfektionsromanen. Übrigens auffällig oft geschrieben von Medienstars und -sternchen, die gern nebenbei als Schriftsteller reüssieren, wie Michael Rutschky festgestellt hat:
"Es ist ein Prestigegewinn, einen Roman zu schreiben. Das löst anscheinend bestimmte Statusprobleme - Fernsehen ist ja keine legitime Kunst, ne. Aber wenn ich dann als Fernsehjournalist einen Roman veröffentlicht habe, dann bin ich doch irgendwie Teilnehmer an der Kultur. Man ist eben nicht nur Journalist und nicht nur Autor, sondern man ist Schriftsteller. Und Schriftsteller ist man nur dann - und nur dann! - wenn man Romane veröffentlicht, wenigstens einen."
Tja, es wirkt paradox. Kaum einer weiß heute noch, was ein Roman ist. Aber quasi jeder Zweite schreibt einen. Oder tippt zumindest drauflos. Offenbar in der Hoffnung, dass allein die Beschwörungsformel "Roman" ihn schon zum Schriftsteller adelt. Oder bereits als Gütesiegel für Literatur funktioniert. Doch inmitten all' der flott geschriebenen Romane verliert dieses Gütesiegel unweigerlich an Strahlkraft. Und so ahnen fortgeschrittene Leser längst, dass der interessantere Lesestoff heute oft genug fernab der Romanstapel zu finden ist.
"Das ganze Leben ist ein Roman / Was auch geschieht, es fängt immer an / wie in jedem andern Roman / mit Liebe / ja, Liebe."